Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2023
464
Forum Psychomotorik: Psychomotorische Behinderungen des Körpers?
101
2023
Martin Giese
Der Beitrag folgt der These, dass pädagogische Praxen in Bewegung, Spiel und Sport mit unhinterfragten ableistischen Vorannahmen hantieren, die für Kinder und Jugendliche mit Behinderung auf einer strukturellen Ebene ein exkludierendes bzw. behinderndes Potential entfalten können und dass diese These auch – trotz eines gegenteiligen Selbstverständnisses – in der Psychomotorik gilt. Ausgehend von empirischen und theoretischen Befunden aus der Sportpädagogik wird diskutiert, inwiefern dort gewonnene Ergebnisse auch den psychomotorischen Inklusionsdiskurs bereichern können.
7_046_2023_004_0187
Zusammenfassung / Abstract Der Beitrag folgt der These, dass pädagogische Praxen in Bewegung, Spiel und Sport mit unhinterfragten ableistischen Vorannahmen hantieren, die für Kinder und Jugendliche mit Behinderung auf einer strukturellen Ebene ein exkludierendes bzw. behinderndes Potential entfalten können und dass diese These auch-- trotz eines gegenteiligen Selbstverständnisses-- in der Psychomotorik gilt. Ausgehend von empirischen und theoretischen Befunden aus der Sportpädagogik wird diskutiert, inwiefern dort gewonnene Ergebnisse auch den psychomotorischen Inklusionsdiskurs bereichern können. Schlüsselbegriffe: Inklusion, Disability Studies, (Dis-)Ableism, Dekategorisierung Psychomotor disabilities of the body? A sports pedagogical heuristic from an ableism-critical perspective The article follows the thesis that pedagogical practices in movement, play and sport deal with unquestioned ableist presuppositions, which can unfold an exclusionary or obstructive potential for children with disabilities on a structural level, and indeed-- despite a contrary selfconception-- also in psychomotricity. Based on empirical and theoretical findings from sports pedagogy, it is discussed to what extent the results obtained there can also enrich the psychomotor inclusion discourse. Keywords: inclusion, Disability Studies, (dis-)ableism, decategorization [ 187 ] motorik, 46. Jg., 187-192, DOI 10.2378 / mot2023.art35d © Ernst Reinhardt Verlag 4 | 2023 [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Psychomotorische Behinderungen des-Körpers? Eine sportpädagogische Heuristik aus einer ableismkritischen Perspektive Martin Giese Einleitung Die Beschäftigung mit Behinderung und Inklusion hat in der Sportpädagogik in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen (Meier / Reuker 2022), auch wenn es sich dabei weiterhin um einen Nischendiskurs handelt und dem (Im-) Perfekten in der sportpädagogischen Forschung keine Provenienz attestiert werden kann (Giese 2019). Im Sinne des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (United Nations 2006, UN-BRK) folgt der sportpädagogische Inklusionsdiskurs der weitestgehend unhinterfragten normativen Annahme, dass es möglich und vor allem erstrebenswert ist, Menschen mit und ohne Behinderung schulisch (UN-BRK, Art. 24) und außerschulisch (UN-BRK, Art. 30) gemeinsamen zu fördern (Block et al. 2017). Auch wenn bis dato keine »auch nur annähernd konsensfähige Definition dessen vorliegt, was denn nun unter Inklusion zu verstehen sei« (Ahrbeck 2016, 7) und weiterhin ein vehementer Streit über die Interpretation der UN-BRK geführt wird (Ahrbeck/ Giese 2020), kann die Anerkennung dieser bildungspolitischen Transformationsaufgabe als gesellschaftlich anerkannt bezeichnet werden. Gleichwohl kommt Aichele (2019), der langjährige Leiter der Monitoring- Stelle, zu dem ernüchternden Urteil, dass »nur ein Teil der Gesellschaft es bislang [schafft], den Auftrag der UN-BRK anzunehmen und praktisch umzusetzen« (Aichele 2019, 10). Ähnliche Kritik [ 188 ] 4 | 2023 Forum Psychomotorik wird vom UN-Sonderberichterstatter zum Menschenrecht auf Bildung (Muñoz 2007), im Staatenprüfungsbericht des UN Committee on the Rights of Persons with Disabilities (2015) sowie von der Monitoring-Stelle (Deutsches Institut für Menschenrechte 2019, 33) formuliert. Ernüchternde Ergebnisse generiert aber auch die empirische Forschung: (Inter-)Nationale Studien zeigen, dass inklusive Erfahrungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung (KJB) in Bewegung, Spiel und Sport häufig kaum zugänglich sind (Haegele / Sutherland 2015). Einleitend zeigt sich ein ambivalentes Bild. Einerseits werden inklusive Transformationsprozesse gesamtgesellschaftlich bejaht, andererseits scheint deren Einlösung weder aus der Perspektive von KJB noch aus der Perspektive des Monitorings in greifbarer Nähe zu liegen- - behinderte Körper werden systematisch vergessen (Giese / Ruin 2018). In dieser komplexen Gemengelage möchte der vorliegende Beitrag- - und zwar explizit aus der Perspektive von KJB (Haegele et al., 2020a)- - für implizite ableistische Körpernarrative sensibilisieren, die der Einlösung inklusiver Ansprüche entgegenstehen. Im Sinne von Art.-8 der UN-BRK (awareness-raising) wird dabei nicht vom Standpunkt einer »scheinbaren Normalität einer unversehrten Leiblichkeit« (Waldschmidt 2012, 14) her argumentiert, sondern ist vom »Standpunkt der Überflüssigen, der Ausgegrenzten, der Verdammten aus zu denken, vom Ort der Exklusion her« (Jantzen 2016, 142). Mit diesem Perspektivwechsel ist ein spezifisches, subjektives, Inklusionsverständnis verbunden, das im ersten Teil des Beitrags vorgestellt wird. Anschließend werden ableismkritische Analysen aus der Sportpädagogik diskutiert, um im letzten Teil zu fragen, inwiefern diese Befunde auch für den psychomotorischen Inklusionsdiskurs eine Bereicherung darstellen können. »feel included« als subjektiviertes Inklusionsverständnis Um die Relevanz ableistischer Körpernarrative zu bilanzieren, werden zunächst Forschungsergebnisse vorgestellt, die subjektive Inklusionserfahrungen von KJB fokussieren. Dies ist notwendig, da in der sportpädagogischen Inklusionsforschung vielfach über KJB geforscht wird. Solche Forschungsansätze neigen dazu, die Perspektiven von nichtbehinderten Peers, Fachkräften und ExpertInnen zu betonen, während die Stimmen von Menschen mit Behinderungen systematisch überhört werden (Giese / Schoo 2022). Dies ist problematisch, da es unser Verständnis von den Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen dieser Personen einschränkt und die spezifische Dignität ihrer Perspektive ignoriert (Haegele 2019). In diesem Sinne wird hier ein subjektives Inklusionsverständnis (feel included) vertreten, das sich auf Gefühle der Akzeptanz (acceptance), der Werteschätzung (value) und der Zugehörigkeit (belonging) konzentriert (Haegele et al. 2020a). Inklusion wird nicht daran gemessen, ob eine Person in bestimmten Räumen oder Gruppen physisch anwesend ist (placement), sondern daran, ob sich diese Gefühle auf einer individuellen Ebene einstellen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich im Kontext der Schulsportforschung, dass KJB im inklusiven Sportunterricht umfangreiche negative Erfahrungen machen. Als problematisch wird berichtet, dass Sportunterricht oft durch ableistische Körper- und Leistungsstandards dominiert ist (Bartsch et al. 2023), denen KJB in ihrer Selbstwahrnehmung oft nicht entsprechen (Ruin et al. 2021) und die in einem ambivalenten Spannungsverhältnis zwischen der Anerkennung der Einzelnen und sozialen Normalitätsanforderungen verstrickt sind (Bödicker 2020). Gleichzeitig scheinen Peers und Lehrkräfte gleichgültig gegenüber den Bedürfnissen von KJB zu sein. Das bedingt u. a. die Wahrnehmung des Andersseins (Giese 2021) und die Annahme, bestenfalls am unteren Rand der sozialen Hierarchie verortet zu sein (Giese et al. 2021). Auch wird berichtet, dass KJB von Peers (und teilweise Lehrkräften) gemobbt und ausgegrenzt werden (Ball et al. 2022) bzw. dass sie von Lehrkräften aktiv von Aktivitäten ausgeschlossen und isoliert werden, weil sie als unfähig erachtet werden (Haegele et al. 2020b). Solche Exklusionsprozesse finden sich auch in Förderschulen, wenn SchülerInnen mit dem Förderschwerpunkt Sehen davon berichten, dass sie Mobbingerfah- [ 189 ] Giese • Psychomotorische Behinderungen des-Körpers? 4 | 2023 [ 189 ] Giese • Psychomotorische Behinderungen des-Körpers? 4 | 2023 rungen durch Peers erleben, die zwar selber sehbehindert sind, aber nicht so stark wie sie selbst (Giese et al. 2021). Diese negativen Erfahrungen können dazu führen, dass sich KJB als unfähig empfinden und sich bis ins Erwachsenenalter nicht mehr an körperlichen Aktivitäten beteiligen (Yessick/ Haegele 2019). Aus der Perspektive von KJB bleibt festzuhalten, dass trotz der positiven Absichten, die mit inklusiven Settings (placement) verbunden sind, positive Inklusionserfahrungen häufig kaum zugänglich sind. Vor diesem Hintergrund wird in der internationalen Forschung der generelle Gültigkeitsanspruch gemeinsamer bzw. inklusiver Settings (inclusion-only placement approach) kritisch in Frage gestellt (Haegele / Wilson 2023). Ableismkritische Befunde in der sportpädagogischen Forschung Um exkludierende Strukturen für KJB genauer zu identifizieren, folgt die Argumentation der Annahme, dass pädagogische Praxen in Bewegung, Spiel und Sport mit unhinterfragten ableistischen Vorannahmen hantieren, die für KJB auf einer strukturellen Ebene ein exkludierendes Potenzial entfalten können. Die ableismkritische Forschungsperspektive hat sich in der Sportpädagogik als produktiv erwiesen, um solche Fähigkeitsregime zu identifizieren (Giese / Buchner 2019). So zeigen entsprechende Analysen, inwiefern implizite Fähigkeitsregime in leibtheoretische, bildungstheoretische sowie fachdidaktische Grundannahmen ebenso stillschweigend eingewoben sind wie in curriculare Vorgaben oder bei Special Olympics wirksam sind (Giese et al. 2022). Exemplarisch illustrieren lässt diese exkludierende Grammatik unter Bezugnahme auf »das immer und zuerst bemühte Erziehungsziel, die Mündigkeit (Autonomie), [die allerdings] nicht nur bei Menschen mit (geistiger) Behinderung meist in eine Aporie« (Jakobs 2010, 86) führt. Auch zur Gestaltung psychomotorischer Angebote mit KJB schlagen Behrens und Fischer (2014) vor, dass Selbsttätigkeit und Eigeninitiative der KJB an erster Stelle zu fördern sind. Aus einer ableismkritischen Perspektive ist allerdings festzuhalten, dass die autonomen Möglichkeiten des Menschen »vielfach idealisierend überhöht« (Ahrbeck/ Rauh 2004, 9; Meyer-Drawe 2000) werden, denn es sind »vorzugsweise diejenigen mit Durchsetzungsvermögen und höherer Bildung, mit leichteren Beeinträchtigungen und guten äußeren Rahmenbedingungen, die die Chance zur Autonomie nutzen können« (Waldschmidt 2012, 29), wogegen Personen mit komplexen Behinderungen diese Chance häufig nicht gegeben ist. In der sportpädagogischen Theoriebildung wird Selbstbestimmung in der Regel als »eine an komplexe kognitive Strukturen und Prozesse gebundene Autonomie verstanden, [mit der] doch oftmals sehr umfangreiche Rationalitäts- und Reflexivitätsansprüche verbunden [sind], die von vielen Menschen kaum eingelöst werden können« (Zirfas 2012, 80). Deutlich wird dies beispielsweise im Ansatz der kognitiven Aktivierung, wenn Niederkofler und Amesberger (2016, 196) konstatieren, dass sich die Person frei entscheiden könne, »ob sie die ›bottom-up‹ erhaltene Information der Lehrkraft […] während ihrer Suche nach Informationen in der Handlungssituation auch ›top-down‹ nutzen will oder sich in ihrer Autonomie lediglich auf situativ erhaltene Informationen stützt«. Kritisch rückzufragen ist, was das für Personen bedeutet, die die hohen kognitiven Anforderungen, die in diesem Zitat deutlich werden, beispielsweise auf Grund einer Behinderung nicht erfüllen können? In diesem Sinne liegen auch Analysen zu impliziten Annahmen über die Reflexions- oder die Bewegungsfähigkeit von Individuen vor, die in der Sportpädagogik stillschweigend einer romantisierenden Paradiesmetapher einer jederzeit ungebrochenen, autonomen Verfügbarkeit über den eigenen Körper folgen (Giese 2019). Die ableismkritische Perspektive sensibilisiert dafür, dass hier klandestine Machtkonstellationen reifiziert werden, die vom Standpunkt motorisch, kognitiv, sozial etc. privilegierter Personen gedacht werden. Psychomotorische Verkürzungen Die kursorischen Ausführungen zeigen, dass in die sportpädagogische Theoriebildung, aber [ 190 ] 4 | 2023 Forum Psychomotorik auch in methodisch-didaktische Handlungsempfehlungen ableistischen Narrative eingewoben sind, die es zu identifizieren gilt, um positive Inklusionserfahrungen zu ermöglichen. In diesem Sinne steht auch die Psychomotorik in der Verantwortung, implizite ableistische Modellierungen und Praxen zu identifizieren. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass der Psychomotorik-- zumindest von den eigenen FachvertrerInnen- - gemeinhin ein hohes Potential attestiert wird, inklusive Ansprüche einzulösen (Klein 2016), wenn Zimmer (2014, 30) beispielsweise postuliert, dass die Psychomotorik »seit jeher einen Ansatz [vertritt], der in seiner Grundhaltung ›inklusiv‹ ausgerichtet ist.« Für solche Aussagen liegen allerdings weder elaborierte theoretische Analysen noch empirische Befunde vor und es bleibt zu fragen, ob inklusive Ansprüche »mit dem Verweis auf reformpädagogische Unterrichtsprinzipien und Intuitionen (z. B. vom Kinde aus, handlungsorientiert und anschaulich, lebensnah und projektbezogen, individualisierend und differenzierend) schon realisiert« (Musenberg / Riegert 2015, 17) sind oder ob es sich dabei nicht doch eher um unzulängliche Problemverkürzungen in Folge vordergründiger Pathosformeln handelt. Die besondere Eignung für inklusive Kontexte wird auch mit dem Verzicht auf sportiv-normierte Fertigkeitsideale und mit dem hohen Maß an Binnendifferenzierung begründet (Fediuk/ Hölter 2003). Suchen sich KJB in psychomotorischen Angeboten selbständig passende Herausforderungen, ergeben sich quasi von selbst inklusive Lehr-Lerngelegenheiten, solange- - so die kolportierte Annahme-- störende Kategorisierungen und Etikettierungen zugunsten einer umfassenden Ressourcenorientierung vermieden werden, was »einen echten, unmittelbaren Dialog auf Augenhöhe« (Schache 2013, 49) erlauben würde. Dass Placement-Fragen der Komplexität des Phänomens nicht gerecht werden, wurde oben bereits diskutiert und auch die Gegenfrage zum Zitat, was ein »un-echter, mittelbarer Dialog« sei, muss hier ebenso angedeutet bleiben, wie der Verweis auf die kontroverse Debatte zur Dekategorisierung, wo der generelle Verzicht auf Kategorien kritisch diskutiert wird (Dederich 2015). Studien, die über die Dokumentation von Best- Practice hinaus gehen und die Perspektive von KJB einnehmen, liegen nicht vor. Zudem gibt Thiele (2010) zu bedenken, dass Psychomotorik zwar in besonderer Weise die (Binnen-)Differenzierung fördert, »was in der Regel als Stärke des Konzepts angesehen wird (z. B. Bewegungslandschaften). Differenzierung allein, dies zeigt [bereits] die Integrationsdebatte im Allgemeinen, führt aber noch keineswegs zur Begegnung oder zu Kooperation und in der Konsequenz auch nicht zu sozialer Integration« (Thiele 2010, 45), was u. a. auf die theoretische sowie empirische Unklarheit des Inklusionsbegriffs-- auch in der Psychomotorik-- verweist (Grosche 2015). Im Best-Practice-Beispiel von Schache (2013) führt die psychomotorische Perspektive dazu, dass bei der Planung inklusiver Bewegungsangebote »weder Alter noch Geschlecht, weder Behinderung noch Bedürfnisse, weder Grade der Mobilität, der Kommunikation, weder Größe noch Gewicht« eine Rolle gespielt hätten. Die ableismkritische Perspektive sensibilisiert jedoch dafür, dass auch in solche Annahmen sehr wohl implizite Fähigkeitsannahmen (z. B. intendierte Grade der motorischen Bewegungsfähigkeit; Reflexionsfähigkeit; Abstraktionsfähigkeit; Fähigkeit, sich auf die Situation einlassen zu wollen / können usw.) eingeschrieben sind, deren Wirkmächtigkeit mit dem Hinweis auf den vermeintlich dekategorialen Charakter umso wirkungsvoller camoufliert werden. Ausblick Auch wenn die Argumentation nur exemplarisch und kursorisch erfolgen kann, zeigt sie- - insbesondere in einem Feld, das einen hohen inklusiven Selbstanspruch postuliert- - die Notwendigkeit, einer ableismkritischen Auseinandersetzung mit den eigenen fachlichen Grundlagen und Praxen. Im Zusammenspiel mit den Sichtweisen von KJB sensibilisieren die ableismkritische Befunde aus der Sportpädagogik für die komplexen Herausforderungen, die mit der Beachtung inklusiver Ansprüche verbunden sind. Vordergründige Herangehensweisen nach dem Motto »Psychomotorik = Inklusion« verbieten sich ebenso wie Konzeptualisierungen nach dem Verständnis [ 191 ] Giese • Psychomotorische Behinderungen des-Körpers? 4 | 2023 [ 191 ] Giese • Psychomotorische Behinderungen des-Körpers? 4 | 2023 »ressourcenorientiert = dekategorial«. Theorieferne Modellierungen dieser Art müssen sich langfristig pädagogisch dysfunktional und für KJB exkludierend auswirken. Der Ansatz des dysconcious ableism (Grenier / Giese 2023) betont vielmehr, dass pädagogische Praxen immer auch durch Fähigkeitsimperative vorformatiert sind. Zu konstatieren, dass solche Fähigkeitsimperative in der Psychomotorik per se nicht vorhanden wären, dürfte deren Wirkmächtigkeit eher verstärken. In konstruktiver Wendung folgen daraus zumindest zwei psychomotorische Forschungsdesiderate. Zum einen bedarf es theoretischer Arbeiten, die (unhinterfragte) fachliche Grundlagen ableismkritisch re-konzeptualisieren, wie es beispielsweise bei Schache (2018) angedacht ist. Zum anderen braucht es empirische Forschung, die im Sinne des »feel included« subjektive Inklusionserfahrungen von KJB rekonstruiert. Diese Forschung kann sich nicht auf die Sammlung von Best-Practice-Beispielen beschränken, sondern muss sich vielmehr um die Perspektiven derer bemühen, die bewusst nicht an psychomotorischen Angeboten teilnehmen oder aus diesen Angeboten aktiv ausgestiegen sind, um Erkenntnisse zu gewinnen, wie psychomotorische Angebote KJB-- auch aus deren Perspektive-- entstatt behindern. Literatur Ahrbeck, B. (2016): Inklusion: Eine Kritik. Kohlhammer, Stuttgart, https: / / doi.org/ 10.17433/ 978-3-17- 031599-0 Ahrbeck, B., Giese, M. (2020): Inklusion-- Herausforderungen für die zweite Phase der Lehrkräftebildung. Seminar 26 (4), 5-17 Ahrbeck, B., Rauh, B. (Hrsg.) 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Anschrift Prof. Dr. Martin Giese Pädagogische Hochschule Heidelberg Fakultät für Natur- und Gesellschaftswissenschaften Sportwissenschaft & Sportpädagogik Im Neuenheimer Feld 720 69120 Heidelberg Martin.Giese@ph-heidelberg.de
