eJournals Motorik 46/4

Motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2023
464

Forum Psychomotorik: Vignettenforschung trifft auf Motologie

101
2023
Evi Agostini
Stefan Meier
Der Beitrag stellt in einer (Rück-)Besinnung auf leibphänomenologische Diskurse in der Motologie die Frage nach method(olog)ischen Zugängen zu Leiblichkeit, Verkörperung und Einverleibung und deren Bedeutung für das Feld der Motologie. Dafür werden anhand von Vignetten als kurze, prägnante Beschreibungen von Erfahrungsvollzügen phänomenologische und praxistheoretische Erkenntnisse miteinander verknüpft sowie in diversitätssensibler (bewegungs-/sport-)pädagogischer Perspektive unterschiedliche Felder ausgelotet, um diese für den motologischen Diskurs fruchtbar zu machen.
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Zusammenfassung / Abstract Der Beitrag stellt in einer (Rück-)Besinnung auf leibphänomenologische Diskurse in der Motologie die Frage nach method(olog)ischen Zugängen zu Leiblichkeit, Verkörperung und Einverleibung und deren Bedeutung für das Feld der Motologie. Dafür werden anhand von Vignetten als kurze, prägnante Beschreibungen von Erfahrungsvollzügen phänomenologische und praxistheoretische Erkenntnisse miteinander verknüpft sowie in diversitätssensibler (bewegungs-/ sport-)pädagogischer Perspektive unterschiedliche Felder ausgelotet, um diese für den motologischen Diskurs fruchtbar zu machen. Schlüsselbegriffe: Phänomenologische Vignettenforschung, Motologie, (Bewegungs-/ Sport-)Pädagogik, Praxistheorie, Leiblichkeit, Verkörperung, Einverleibung Vignette research meets motology. (Movement/ sport) pedagogical perspectives on corporeality and embodiment In a (re)consideration of body-phenomenological discourses in motology, the article addresses methodical and methodological approaches to corporeality and embodiment and their significance for the field of motology. For this purpose, phenomenological and practice-theoretical insights are linked by means of vignettes to arrive at short, concise descriptions of experiential processes. Various fields are explored from a diversity-sensitive (movement/ sport) pedagogical perspective to make them fruitful for the motological discourse. Keywords: phenomenological vignette research, motology, (movement/ sport) pedagogy, practice theory, corporeality, embodiment [ 193 ] motorik, 46. Jg., 193-198, DOI 10.2378 / mot2023.art36d © Ernst Reinhardt Verlag 4 | 2023 [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Vignettenforschung trifft auf Motologie (Bewegungs-/ Sport-)Pädagogische Perspektiven auf Leiblichkeit, Verkörperung und Einverleibung Evi Agostini, Stefan Meier Einleitung Als zentraler Gegenstand der Motologie entfaltet der Körper sowohl als inhaltlicher als auch als method(olog)ischer Bezugspunkt eine besondere Wirkkraft. Dabei wird der Körper in einer Reihe differenter Ansätze in je eigener Weise thematisiert (Seewald 2010). In Anlehnung an Seewald (2007, 12) der bei Psychomotorik und Motologie nicht von einem inhaltlichen, sondern einem institutionellen Unterschied ausgeht, ist die Psychomotorik bei der Motologie in diesem Beitrag stets mitgemeint. Für diesen Beitrag insbesondere von Interesse ist das Leibmodell des sogenannten verstehenden Ansatzes: »Diese Leibkonzeption hat ihre theoretischen Wurzeln in der Phänomenologie Merleau-Ponty’s (1966), der den Leib als primordial und ›Anker in der Welt‹ auffasst. Leiblich sind wir wie mit unsichtbaren Fäden mit der Welt verbunden, diese ›spricht‹ zu uns. Dem Leib wird eine fungierende Intentionalität eingeräumt. Er stellt so etwas wie ein präreflexives Vor-Ich dar.« (Seewald 2010, 295 f ). Durch die leibphänomenologische Fundierung dieses Ansatzes ist der Leib hierbei nicht nur Gegenstand, die Leiblichkeit selbst fungiert auch als Bestandteil der Methode des Verstehens (Schache 2010, 109). Innerhalb der Diskurse der Motologie interessiert zudem die (soziologische) Thematisierung des Körpers als Habitusträger. So ist das Habituskonzept nach Bourdieu (z. B. 1997) einerseits an leibphänomenologische Überlegungen gebunden und erweitert dieses andererseits auch, da- - u. a. in einer praxistheoretischen Perspektive (z. B. nach Schatzki 1996)- - gesellschaftliche Prozesse der Einverleibung und Verkörperung des Sozialen in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt werden können (Seewald 2010, 298). Im Rahmen dieses Beitrages werden die Im- [ 194 ] 4 | 2023 Forum Psychomotorik plikationen von Leibphänomenologie und Praxistheorie anhand von Vignetten (Schratz et al. 2012) zusammengedacht- - trotz aller Unterschiede und der damit einhergehenden method(olog)ischen Konsequenzen. Die Vignettenforschung basiert insbesondere auf leibphänomenologischen Überlegungen im Anschluss an Merleau-Ponty (1966), lässt sich unter Bezugnahme auf den aristotelischen Erfahrungs- und Handlungsbegriff- - mit dem das inkorporierte Vorwissen als die Bedingung der Möglichkeit für Erfahrung und damit für Lernen in den Blick genommen werden kann-- jedoch auch für praxistheoretische Überlegungen öffnen (Agostini et al. 2019). Vignetten als »kurze prägnante Erzählungen, die (schulische) Erfahrungsmomente fassen« (Schratz et al. 2012, 34), fokussieren ausgewählte Erfahrungsvollzüge beim (schulischen) Lernen. Durch eine Bevorzugung der leiblichen Wahrnehmung werden auch vielfältige Tätigkeitsmodi im Feld sozialer und kultureller Praxis jenseits didaktischer Anleitung und pädagogischer Intervention ersichtlich. Werden (schulische) Praktiken als zeitlich und räumlich sequenzierte, sozial typisierte sowie körperlich und dinglich verankerte Handlungsmuster verstanden (vgl. z. B. Schatzki 1996, 10), so geraten die Praxis des Lernens und implizit zugleich auch jene des Lehrens als bestimmte räumliche, zeitliche, aber vor allem leibliche Praktiken in den Blick. Neben anderen (schulischen) Praktiken rücken dabei besonders jene Handlungszusammenhänge des Feldes Bewegung, Spiel und Sport in den Fokus, wird der Leib aus einer (bewegungs-/ sport-)pädagogischen Perspektive einerseits als Träger von Bildung und Erziehung verstanden, wobei andererseits pädagogisches Handeln zugleich am Leib selbst ansetzt (Grupe 1984). Nicht zuletzt ist Bewegungslernen unmittelbar an (leibliche) Erfahrung gebunden (u. a. Prohl 2010). Daraus ergeben sich in einer diversitätssensiblen (bewegungs-/ sport-)pädagogischen Lesart sowohl Ansatzpunkte für das Reflektieren leiblicher (Subjektivierungs-)Praktiken und Prozesse der Hervorbringung von (sozialen) Ordnungen als auch erkenntnisgenerierende Möglichkeiten der Zusammenhänge zwischen Erfahrungen und ihren gesellschaftlichen Bedingungen und Bedingtheiten, sodass für die »Problemfelder der Motologie« (Seewald 2005, zit. nach Schache 2010, 102) hier (post-)phänomenologische Zugänge aufleuchten können. Vignettenforschung Um Möglichkeiten des Vollzugs von Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis von Selbst, Welt und anderen anhand von konkreten, situativen, praktischen und leiblichen Verkörperungen an ausgewählten (Bildungs-)Orten exemplarisch aufzuzeigen sowie Lernprozesse und (soziale, kulturelle, pädagogische) Praktiken methodisch zu erschließen, bietet sich das Erhebungsinstrument der Vignette an. Die Vignette als Beispiel lehnt sich an die phänomenologische Methode der exemplarischen Deskription an. Vignetten gehen aus der miterfahrenden Erfahrung der Vignettenschreibenden hervor und fassen als kurze, prägnante Erzählungen intersubjektive Wahrnehmungs- und Erfahrungsmomente zusammen. Damit entziehen sie sich dem Anspruch einer vollständigen Rekonstruktion der Situation und übersetzen stattdessen die für eine Erfahrungsszene bedeutsamen Handlungen, leiblichen Ausdrücke, Atmosphären und Stimmungen ästhetisch prägnant in Sprache. Grundgelegt ist diesem Forschungsansatz ein Verständnis von Lernen als Erfahrung, als ein Antworten auf irritierende Ansprüche, das dann beginnt, wenn Bekanntes und Bewährtes nicht mehr greifen und Neues noch nicht zur Hand ist (Meyer-Drawe 2012, 15). So finden meist jene Momente Eingang in eine Vignette, in welchen die Vignettenschreibenden selbst Erfahrungen gemacht und damit gelernt haben. In der Analyse in der Form einer Vignetten- Lektüre werden diese Erfahrungsmomente aufgegriffen und die Besonderheit der beschriebenen Situation für die Einzelnen in der Interaktion mit dem Lerngegenstand, den pädagogisch Tätigen und/ oder der sozialen Bezugsgruppe in Form von Vignetten-Lektüren (Agostini 2016) auf ihre unterschiedlichen Bedeutungen hin entfaltet. Hier erfolgt in der Reflexion des Wahrgenommenen und Erfahrenen- - u. a. durch den Einbezug theoretischer Referenzen-- die Deutung und [ 195 ] Agostini • Vignettenforschung trifft auf Motologie 4 | 2023 [ 195 ] Agostini, Meier • Vignettenforschung trifft auf Motologie 4 | 2023 Kontextualisierung der Vignette sowie die Auslotung verschiedener möglicher Rezeptionsweisen. Angesetzt wird dabei an konkreten Handlungen und leiblichen Verkörperungen, die in der Szene intersubjektiv wahrgenommen und lesend miterfahren werden können. In der Deutung wird auf die rekonstruierende Suche nach der »Wahrheit« der Handelnden in der Vignette verzichtet. Das Erkenntnisinteresse richtet sich nicht auf die Lernbiographie der Lernenden oder der Lehr- Lern-Biographie der (pädagogisch) Handelnden, sondern sucht nach Verstehensmöglichkeiten für ein Lernen am Geschehen, so wie es für die Lesenden anhand der leiblichen Verkörperungen der in die Szene Involvierten zeigt. Damit können auch Zusammenhänge zwischen Lernen und seinen gesellschaftlichen, sozioökonomischen oder kulturellen Bedingungen und Bedingtheiten, Begrenzungen und Ermächtigungspotenzialen, organisationalen und politischen Rahmungen, prä- und teilweise auch deformierenden Strukturen, Habitualisierungen und Handlungsdynamiken beleuchtet werden. Der Kontext, den die Lektüre herstellt, ist dadurch jener zu übergeordneten Fragestellungen aus der Perspektive des Erfahrungs- und Theoriewissens der Lesenden. Gerade in der Vernachlässigung der Hintergründe der in der Vignette beschriebenen Situation und dem Fokus auf den leiblichen Erfahrungen und situativen Ansprüchen liegt somit das produktive Potenzial der Lektüre. Wichtig dabei ist es, den eigenen Standpunkt deutlich und die persönliche Lesart transparent zu machen. Die Lektüren von Vignetten werfen Fragen auf, welche nicht abschließend beantwortet werden können bzw. sollen, jedoch eine Perspektivenvielfalt und damit Reflexion und Handlungserweiterung(en) ermöglichen. Eine Vignette aus »Bewegung und Sport« und ihre exemplarische (bewegungs-/ sport-)pädagogische Lektüre Vignetten-Lektüre: »Höher, schneller und wie weiter? ! « Aus einer (bewegungs-/ sport-)pädagogischen Perspektive gerät zunächst die Bedeutung der Bewegung in den Blick. Wenn es offenbar darum Vignette: Marina, Michaela, Herr Mader Der Stundenplan sieht in der ersten Stunde Bewegung und Sport vor. Herr Mader fordert die Schülerinnen und Schüler auf, die Turnschuhe anzuziehen, man werde einen Wettlauf simulieren. Zu diesem Zweck werde man die Klasse verlassen, die in unmittelbarer Nähe der Schule gelegene Promenade biete das geeignete Gelände für das Laufen. Auf dem Weg zur Wettkampfstätte erklärt Marina, dass sie nicht laufen könne, da sie vor einiger Zeit an den Bändern operiert wurde. Während die anderen Schülerinnen und Schüler mit Herrn Mader mit lockeren Aufwärmübungen beginnen, setzt sich Marina unbeachtet von allen auf eine Bank und sieht den anderen zu. Der Lauf beginnt und Staffel für Staffel wird von Herrn Mader auf die Strecke geschickt. Es dauert nicht lange und die Schnellsten treffen im Ziel wieder ein. Im Zielgelände herrscht großer Trubel. Die Sieger lassen sich feiern, man will von Herrn Mader die Zeit, die Abstände wissen. Die Buben vergleichen die Rundenzeiten, Nachkommende werden angefeuert, die sportliche Tauglichkeit der Nachzügler wird mit entsprechenden Bemerkungen in Frage gestellt. Marina bleibt unbeachtet von allen auf ihrer Bank und schaut dem Treiben zu. Schließlich ist der Wettkampf abgeschlossen, man begibt sich wieder auf den Weg in die Klasse. Auf dem Rückweg bleiben einige Schülerinnen etwas zurück, eine Mädchengruppe bildet sich um Michaela, eine etwas beleibtere Schülerin. Sie weint bitterlich. »Ich war die Langsamste, und alle haben mich ausgelacht.« Ihre Freundinnen stehen etwas ratlos um sie herum und wissen nicht, wie sie Michaela trösten sollen. Nun gesellt sich Marina zur Gruppe und sagt mit fester Stimme. »Das ist jetzt meine Sache, ich kümmere mich um Michaela, ihr könnt weitergehen.« Die anderen Mädchen nehmen den Weg in die Klasse wieder auf, Marina legt ihren Arm um Michaela und flüstert ihr etwas zu. (aus: Baur / Peterlini 2016, 139-140) [ 196 ] 4 | 2023 Forum Psychomotorik geht, in einem Laufwettbewerb die Schnellsten einer Gruppe herauszufiltern, wird die instrumentelle und komparative Bedeutung von Bewegung im Sinne eines »höher, schneller, weiter« geradezu überbetont (Grupe 1982). Charakteristisch für diese instrumentelle Bedeutung von Bewegung ist ihre besondere Funktion, die Bewegung(en) eine gewisse Kontur verleiht, sie dient dem Überbieten, dem Gewinnen oder auch dem Niederringen eines oder mehrerer Gegenüber. Im geschilderten Laufwettbewerb könnte dann angenommen werden, dass sich die SchülerInnen auf eine bestimmte Weise bewegen, um als Schnellste im Ziel einzutreffen, weswegen die instrumentelle Bedeutung hier mit der komparativen verknüpft ist. Gegenüber weiteren Bedeutungen von Bewegung (u. a. explorierende, produktive) wird in dieser Lesart die Funktionalität von Bewegungen im Sport pointiert-- die sich charakteristischerweise durch Um-zu-Bewegungen zeigt. Als ebenso bedeutsam erweist sich dann die sogenannte Zweckfreiheit sportlicher Bewegungen, liegt der Zweck der Bewegung im Sport selbst- - es wird nicht gelaufen, um z. B. (noch) einen Bus zu erreichen, sondern um des sportlichen Wettkampfes willen (vgl. u. a. Grupe 1984; Prohl 2010). Damit verwoben zeigen sich in dieser Lesart Fragen um Körper bzw. Leib in der Form, dass ein Kennenlernen des bzw. die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper im Bewegen-- welcher hierdurch als Leib erfahrbar wird- - primär darauf abhebt, funktionale Bewegungsmerkmale bestmöglich und bestenfalls besser als andere zu (re-)produzieren. Weniger steht dann im Mittelpunkt, sich mit weiteren als schlüssig erachteten bzw. ambivalenten Ausprägungen im z. B. (schnellen) Laufen in Relation zu je eigenen Bewegungserfahrungen zu befassen (Bietz / Oesterhelt 2022). Solch eine erfahrungsbasierte Auseinandersetzung mit dem schnellen Laufen eröffnet und begrenzt damit Erkenntnis auf die eigene Körperlichkeit, da die körperlich bedingte Könnerschaft im Fokus steht- - die wiederum zwischen den Polen eines Sich-feiern-Lassen oder In-Frage-Stellen der Sporttauglichkeit (Auslachen) changiert. Dadurch, dass scheinbar die Inszenierung performativer körperlicher Akte von besonderer Bedeutung ist, kommen eher erfahrungsbezogene Enttäuschungen zum Tragen (vgl. Michaela), da wohl die wenigsten Schüler- Innen die gestellten Ansprüche werden erfüllen können. Damit verbleiben die Erfahrungen von Irritationen, mit denen Einzelne alleine gelassen werden, ungenutzt auf der Wettkampfstätte, das Scheitern wird zum »Betriebsunfall« verdammt (Meier / Giese 2021). An dieser Stelle greift wiederum die bis dahin scheinbar weniger von Belang zu seiende Marina-- da verletzungsbedingt pausierend-- ein und versucht dies aufzufangen. Auf einer übergeordneten Ebene kann die Vignette weiterhin mit Blick auf den Zusammenhang von Körper und Gesellschaft gelesen werden, wenn es scheinbar einzig darum geht, dass alle SchülerInnen in den kompetitiv körperlichen Wettkampf eintreten und sich hierüber am Handlungsimperativ »der Sieg des Einen ist die Niederlage aller Anderen« abarbeiten, der in der außersportlichen Welt gewissermaßen als »Un- Ding« (Güldenpfennig, 2012, 71) firmiert- - jedoch scheinbar mit einer gewissen »Funktionslust im Bewegen« (Bietz / Oesterhelt 2022, 77) einiger verbunden ist (Vergleichen, Anfeuern, Trubel). Jedenfalls scheint Marinas verletzungsbedingte Unpässlichkeit keine Kompensation o. Ä. zu erfordern, es zählt gewissermaßen lediglich das Eintreten-Können in den Wettkampf, was ihr schlicht nicht möglich ist. Mit Blick auf die z. B. von Riegel (2016, 61) beschriebenen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse steht Marina damit an deren (kaum zu beachtender) Peripherie, im Zentrum des Kräftefeldes steht der durch Dominanz (Zeiten wissen/ vergleichen, anfeuern), Unterwerfung (unbeachtet zuschauen, ratlos herumstehen) und Niederringen (sich selbst feiern) charakterisierte Laufwettbewerb. Hierdurch kommen wiederum Diskriminierungsverhältnisse zum Ausdruck, die mitunter in einem Auslachen bzw. Ausgelacht-Werden münden, da der Wettkampf aufgrund eigener Fähigkeiten verloren wurde. Diese qua körperlicher Voraussetzungen vorbestimmte Un-Fähigkeit im performativen Akt des Sich-Bewegens kann scheinbar auch nicht durch die sonst vorhandene Beliebtheit von Marina aufgefangen bzw. ersetzt werden. Vielmehr trägt die sichtbare Wettkampfbühne für alle zur Schau, wer ent- [ 197 ] [ 197 ] Agostini, Meier • Vignettenforschung trifft auf Motologie 4 | 2023 sprechend (weniger) privilegiert ist und eröffnet damit Räume für u. a. Scham und Beschämung (Wiesche / Klinge 2017)- - hiermit wird eine gewisse (soziale) Ordnung re-produziert, die insbesondere mit Blick auf Bemühungen um einen diversitätssensiblen Umgang im Feld Bewegung, Spiel und Sport herausfordernd sein dürften (Meier 2023). Ausblick und mögliche Perspektiven für die Motologie In Anknüpfung an die zwei Diskursstränge innerhalb der Motologie- - das Leibmodell des verstehenden Ansatzes und die (soziologische) Thematisierung des Körpers als Habitusträger- - geraten auch die beiden teilweise sehr unterschiedlichen theoretisch-methodologischen-Perspektiven und empirischen Forschungsarbeiten der Leibphänomenologie und der Praxistheorie in den Blick, die vielfach z. B. in der Dichotomie zwischen Theorie und Praxis, Bewusstsein und Materie, Individuum und Kollektiv sowie Intention und wissensbasierte Tätigkeit ihren Ausdruck finden (Bedorf/ Gerlek 2017, 5). Eine nähere Betrachtung lenkt die Aufmerksamkeit jedoch auf die produktive Nähe zwischen diesen beiden Theoriefamilien, die vor allem in der gemeinsamen Bedeutung von und Bezugnahme auf den Vollzugscharakter von erfahrungsgebundener Praxis festgemacht werden kann. Daneben können im Hinblick auf die Theorieperspektiven von Leibphänomenologie und Praxistheorie weitere gemeinsame Grundannahmen herausgearbeitet werden: die Bedeutung des sinnhaften Vollzugsgeschehens, die Verortung des Ursprungs des Handelns in situativen Ansprüchen oder Situationen, die antidualistische Analyserichtung von leiblichen Verkörperungen und der Fokus auf das Erkenntnissubjekt, seine jeweilige Erkenntnisweise und Situiertheit sowie den nichtsprachlichen Bereich (Agostini et al. 2019, 200 ff ). »Über die Verflechtung der beiden theoretischen Sichtweisen wird deutlich, dass die nicht-sprachlichen Interaktionen zwischen Körper und materieller Umwelt kollektive Praktiken und Subjektivierungsweisen formen und die äußeren, materiellen und diskursiven Strukturen von den Handelnden einverleibt werden.« (ebd., 199) Der Beitrag versucht ebendiese phänomenologischen und praxistheoretischen Erkenntnisse miteinander zu verknüpfen und anhand einer Vignetten-Lektüre aus diversitätssensibler (bewegungs-/ sport-)pädagogischer Perspektive hinsichtlich Fragen nach method(olog)ischen Zugängen zu Leiblichkeit, Verkörperung und Einverleibung und deren Bedeutung für das Feld der Motologie fruchtbar zu machen. Dabei zeigt sich in der Vignetten-Lektüre entlang drei in der Motologie verhandelter Problemfelder (Seewald 2005, zit. nach Schache 2010, 102)-- Bewegung, Körper bzw. Leib sowie Körper und Gesellschaft-- exemplarisch diese produktive Nähe zwischen Phänomenologie und Praxistheorie. Besonders greifbar wird dies aus einer (bewegungs-/ sport-)pädagogischen Perspektive mit Blick auf die in der gelesenen Vignette eingelagerten Handlungszusammenhänge des Feldes Bewegung, Spiel und Sport, wo der Leib zum einen stets als Träger von Bildung und Erziehung aufgefasst wird und zum anderen pädagogisches Handeln zugleich am Leib selbst ansetzt (Grupe 1984). Für die Motologie selbst sowie ihre Problemfelder lassen sich abschließend perspektivisch (post-)phänomenologische Zugänge andeuten: Indem die Lesenden einer Vignette an eigenen leiblichen Erfahrungen ansetzen, kann- - entlang einer Praxeologie des verstehenden Ansatzes (vgl. z. B. Schache 2010, 115 ff )- - z. B. Sinn vorgefunden und neu verhandelt werden bzw. es können ambigue gesellschaftliche und eigene Anforderungen sowie gesellschaftlich verankerte Strukturen, aber auch Bewegungs- und Körperverständnisse einer Reflexion (und Revision) ausgesetzt bzw. zugänglich gemacht werden. Anhand der leiblichen Verkörperungen der in die Szene Involvierten können sich auf diese Weise Verstehensmöglichkeiten für ein Lernen am Geschehen eröffnen. Literatur Agostini, E. (2016): Lektüre von Vignetten: Reflexive Zugriffe auf Erfahrungsvollzüge des Lernens. In: Baur, S., Peterlini, H. K. (Hrsg.): An der Seite des Lernens. Erfahrungsprotokolle aus dem Unterricht an Südtiroler Schulen-- ein Forschungsbericht. Er- [ 198 ] 4 | 2023 Forum Psychomotorik fahrungsorientierte Bildungsforschung Bd. 2. StudienVerlag, Innsbruck/ Wien/ Bozen, 55-62 Agostini, E., Peterlini, H. K., Schratz, M. (2019): Pädagogik der Leiblichkeit? Leibphänomenologische und praxistheoretische Perspektiven auf leibliche Erfahrungsvollzüge im Hinblick auf eine pädagogische Phänomenologie des Leibes in Schule und Unterricht. In: Brinkmann, M., Türstig, J., Weber- Spanknebel, M. (Hrsg.): Leib- - Leiblichkeit- - Embodiment: Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes. Springer VS, Wiesbaden, 197-226, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658- 25517-6_11 Baur, S., Peterlini, H. K. (Hrsg.) (2016): An der Seite des Lernens. Erfahrungsprotokolle aus dem Unterricht an Südtiroler Schulen- - ein Forschungsbericht. Erfahrungsorientierte Bildungsforschung Bd.-2. StudienVerlag, Innsbruck/ Wien/ Bozen Bedorf, T., Gerlek, S. (2017): Phänomenologie und Praxistheorie: Einleitung in den Schwerpunkt. Phänomenologische Forschungen, 2, 5-8, https: / / doi. org/ 10.28937/ 1000107732 Bietz, J., Oesterhelt, V. (2022): Bewegungspädagogik- - Sich-Bewegen in kulturellen Praktiken als kategorialer Ausgangspunkt bewegungsbezogener Bildung. In: Böttcher, A., Meier, S., Poweleit, A., Ruin, S. (Hrsg.): Schulsport im Spiegel der Zeit(en): Kontinuitäten und Diskontinuitäten im sportdidaktischen Diskurs. Meyer & Meyer, Aachen, 63-86, https: / / doi.org/ 10.5771/ 9783840315084-63 Bourdieu, P. (1997): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt Grupe, O. (1982): Bewegung, Spiel und Leistung im Sport. Grundthemen der Sportanthropologie. Hofmann, Schorndorf Grupe, O. (1984): Grundlagen der Sportpädagogik. Körperlichkeit, Bewegung und Erfahrung im Sport (Wissenschaftliche Schriftenreihe des Deutschen Sportbundes), Bd. 8. 3. Aufl. Hofmann, Schorndorf Güldenpfennig, S. (2012): Sport als Mittel einer Politik der Menschenrechte? In: Kiuppis, F., Kurzke- Maasmeier, S. (Hrsg.): Sport im Spiegel der UN- Behindertenrechtskonvention. Kohlhammer, Stuttgart, 60-79 Meier, S. (2023): Leisten, Leistung und Leistungsbewertung- - Auslegungen in pädagogischem Interesse. In: Ruin, S., Stibbe, G. (Hrsg.): Sportdidaktik und Schulsport- - Zentrale Themen einer diversitätssensiblen Fachdidaktik. Hofmann, Schorndorf, 171 - 185 Meier, S., Giese, M. (2021): Bildungstheoretische Grundlagen eines erfahrungsorientierten und inklusiven Sportunterrichts. Sonderpädagogische Förderung heute, 66 (1), 47-56 Merleau-Ponty, M. (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. De Gruyter, Berlin, https: / / doi.org/ 10. 1515/ 9783110871470 Meyer-Drawe, K. (2012): Diskurse des Lernens.- 2. Aufl. Fink, München, https: / / doi.org/ 10.30965/ 9783846753064 Prohl, R. (2010): Grundriss der Sportpädagogik. 3.-Aufl. Limpert, Wiebelsheim Riegel, C. (2016): Bildung, Intersektionalität, Othering. Pädagogisches Handeln in widersprüchlichen Verhältnissen. transcript, Bielefeld, https: / / doi.org/ 10.1515/ 9783839434581 Schache, S. (2010): Die Kunst der Unterredung: Organisationsberatung: ein dialogisches Konzept aus motologischer Perspektive. 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Facetten eines unbeachteten Phänomens. Meyer & Meyer, Aachen, https: / / doi. org/ 10.5771/ 9783840312298 Die AutorInnen Dr.in Evi Agostini Professorin für Lehrer*innenbildung und Schulforschung, Zentrum für Lehrer*innenbildung und Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft, Universität Wien, Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: (Phänomenologische) Lern- und Lehrtheorien, Ästhetische Bildung, Responsive Unterrichts- und Schulentwicklung, Pädagogische Professionsforschung, Pädagogische Ethik Dr. Stefan Meier Professor für Bewegungs- und Sportdidaktik, Zentrum für Sportwissenschaft und Universitätssport und Zentrum für Lehrer*innenbildung, Universität Wien, Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Erziehung und Bildung im Kontext von Bewegung und Sport, Diversität und Inklusion im Feld Bewegung und Sport, Professionsforschung Kontakt evi.agostini@univie.ac.at Fotos: © Universität Wien / Joseph Krpelan