eJournals motorik 46/1

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2023.art02d
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2023
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Forum Psychomotorik: Zusammenarbeit mit Familien in der Psychomotorik - eine langjährige Tradition?!

11
2023
Janne Broxtermann
Fiona Martzy
Seit den 1990er-Jahren sind in der Literatur verschiedenartige praxisorientierte Konzepte zur psychomotorischen Zusammenarbeit mit Familien zu finden. Der vorliegende Beitrag verschafft einen Überblick über veröffentlichte Praxisprojekte und -konzepte, in denen Familien in psychomotorische Settings eingebunden werden. Eine grafische Darstellung zeigt die Veröffentlichungen im Zeitverlauf und ermöglicht eine Systematisierung zum einen in Konzepte mit systemisch-therapeutischer Ausrichtung, zum anderen in Konzepte mit beziehungsorientiert-präventivem Charakter. Der Beitrag führt abschließend mögliche Beweggründe auf, warum PsychomotorikerInnen Familien in den psychomotorischen Prozess einbeziehen und zeigt mögliche Grenzen auf, die gegen eine Einbeziehung sprechen könnten.
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Zusammenfassung / Abstract Seit den 1990er-Jahren sind in der Literatur verschiedenartige praxisorientierte Konzepte zur psychomotorischen Zusammenarbeit mit Familien zu finden. Der vorliegende Beitrag verschafft einen Überblick über veröffentlichte Praxisprojekte und -konzepte, in denen Familien in psychomotorische Settings eingebunden werden. Eine grafische Darstellung zeigt die Veröffentlichungen im Zeitverlauf und ermöglicht eine Systematisierung zum einen in Konzepte mit systemisch-therapeutischer Ausrichtung, zum anderen in Konzepte mit beziehungsorientiert-präventivem Charakter. Der Beitrag führt abschließend mögliche Beweggründe auf, warum PsychomotorikerInnen Familien in den psychomotorischen Prozess einbeziehen und zeigt mögliche Grenzen auf, die gegen eine Einbeziehung sprechen könnten. Schlüsselbegriffe: Familienorientierung, systemischkonstruktivistische Position, Prävention, elterliche Kompetenz, innerfamiliäre Beziehung Cooperation with families in psychomotricity-- a longstanding tradition? ! Historical lines and systematic classification Since the 1990s, various practically-oriented concepts for psychomotor cooperation with families can be found in the literature. This article provides an overview of published practical projects and concepts in which families are involved in psychomotor settings. A graphical representation shows the publications over time and enables a systematization: On the one hand there are concepts with a systemic-therapeutic orientation and on the other hand there are concepts with a relationship-oriented and preventive character. Finally, the article lists possible reasons why psychomotor professionals involve families in the psychomotor process and it points out possible limitations that might argue against such involvement. Keywords: family orientation, systemic-constructivist position, prevention, parental competence, relationship within families [ 4 ] 1 | 2023 motorik, 46. Jg., 4-10, DOI 10.2378 / mot2023.art02d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Zusammenarbeit mit Familien in der Psychomotorik-- eine langjährige Tradition? ! Historische Linien und eine systematische Einordnung Janne Broxtermann, Fiona Martzy Zur Zusammenarbeit mit Familien in psychomotorischen Settings lassen sich in der Fachliteratur eher vereinzelt Beiträge finden. Das Thema Familie wird zwar immer wieder als wichtiger Bereich in der psychomotorischen Entwicklungsbegleitung erwähnt, aber insgesamt scheint es eher ein unbeachtetes und unerforschtes Themengebiet des psychomotorischen Fachdiskurses. So resümiert Richter-Mackenstein (2013, 55), dass »psychomotorisches Arbeiten mit der Familie […] viel eher eine Ausnahme als eine Selbstverständlichkeit« zu sein scheint. Im Rahmen des Drittmittelprojektes »Psychomotorische Entwicklungsbegleitung mit Eltern und Kindern (PEmEK)«, finanziert durch die hkk Krankenkasse, welches von 2020-2022 von dem Bremer Elternverein EPSYMO (Elternverein für PSYchoMOtorische Entwicklungsförderung e. V.) und dem nifbe (Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung) durchgeführt wurde, erfolgte eine umfangreiche Literaturrecherche zu psychomotorischen Praxisprojekten und -konzepten, deren Ergebnisse hier zusammenfassend vorgestellt werden. Eine systematisierende Darstellung der bestehenden theoretischen Konzepte zur Zusammenarbeit mit Familien in der Psychomotorik, in welcher vier unterschiedliche Zugänge (z. B. Eltern als co-therapeutische BegleiterInnen) beschrieben werden, ist bei Richter-Mackenstein (2013) zu finden. [ 5 ] Broxtermann, Martzy • Zusammenarbeit mit Familien in der Psychomotorik 1 | 2023 (2006); Richter (2012); Buchmann (2018)) berichten die AutorInnen über ihre Arbeit und Projekte, in denen sie systemische Beratung bzw. Therapie mit Psychomotorik verknüpfen. So entstanden mehrere Ansätze der systemisch-psychomotorischen Familientherapie bzw. -beratung. Allen diesen Ansätzen gemein war die therapeutische Ausrichtung und die lösungsorientierte Arbeit mit einzelnen Familien zur Bearbeitung von Problemen und Konflikten. Besonders ausführlich begründet, erprobt und beschrieben ist die Systemisch-psychomotorische Familienberatung von Richter-Mackenstein. Im Jahr 2012 veröffentlichte er sein Werk Spielend gelöst: Systemisch-psychomotorische Familienberatung, in dem er im ersten theoretischen Teil die Systemische Beratung mit der Psychomotorik zusammenführt und im Praxisteil seine jahrelang erprobte Praxis vorstellt sowie diese mit detailliert ausgeführten Beispielen und Vorschlägen zum beraterischen Vorgehen verknüpft. Fokussierung auf die innerfamiliäre Beziehungsstärkung und den präventiven Charakter der Angebotsform Ab den 2010er-Jahren gab es Veröffentlichungen zum Thema Psychomotorik mit Familien (z. B. Reppenhorst / Schäfer (2012); Kopic (2013); Welsche (2018)), die sich in der Ausrichtung von den bisher genannten darin unterschieden, dass sie einen vornehmlich präventiven und weniger therapeutischen Charakter aufwiesen. Ein weiterer Unterschied war, dass i. d. R. mehrere Familien bzw. Eltern-Kind-Paare zusammen teilnahmen und nicht die Problembearbeitung, sondern die innerfamiliäre Beziehungsstärkung über gemeinsame Bewegungserlebnisse im Vordergrund stand. Eine Gemeinsamkeit einiger dieser Praxisprojekte waren Elemente aus der Beziehungsorientierten Bewegungspädagogik nach Sherborne (1998). Basis dieses Ansatzes bilden die Dimensionen caring, against und shared, die in deutschen Übersetzungen als füreinander, gegeneinander und miteinander zu finden sind. Für jede der Dimensionen Die ersten eigenständigen-Veröffentlichungen zur Familienorientierung Eine der ersten Veröffentlichungen, in denen die Einbindung der Eltern (und Geschwister) in Form von gemeinsamen psychomotorischen Aktivitäten mit dem Kind thematisiert wurde, war das Herausgeberwerk Psychomotorik und Familie von Kiphard und Olbrich (1995). Einige AutorInnen stellen darin Konzepte und Ideen vor, die über eine gesprächsorientierte Begleitung der Eltern hinaus gehen und die Eltern aktiv und bewegungsorientiert einbeziehen. Drei Beispiele werden im Folgenden kurz skizziert: Beudels (1995) beschreibt beispielsweise in seinem Beitrag Gemeinsam mit Eltern! Psychomotorische Förderung für zurückgestellte Kinder im Schulkindergarten ein Projekt zur Förderung zurückgestellter Schulkinder. Für das Projekt wurde eine Eltern-Kind-Psychomotorik-Gruppe eingerichtet mit dem Ziel, den Eltern Anregungs- und Deutungshilfen zu geben (ebd., 79). Kesper und Hottinger (1995) führen in ihrem Beitrag Das Konzept der Elternarbeit in der Sensorisch-Integrativen Mototherapie (SIM) aus, wie sie Eltern in die sogenannten Übungsstunden einbinden und wie diese angeleitet und beraten werden, um ihr Kind besser verstehen zu lernen. Lensing-Conrady, Beins und Manz (1995) beschreiben in Keimzelle Schulkindergarten- - Ein Konzept zur Ergänzung und Neuausrichtung psychomotorischer Angebote in schwierigem psychosozialem Umfeld, wie sie die Eltern durch Etablierung einer Psychomotorik-Eltern-Gruppe an die Psychomotorik heranführen wollten, aber die Elterngruppe sich trotz umfangreicher Werbung nicht etablieren ließ (ebd., 123). Die systemische Ausrichtung als Wegbereiter für familienorientierte Psychomotorik In den 2000er-Jahren wurde der systemische Ansatz mehrfach aufgegriffen und in die psychomotorische Arbeit integriert. In einigen Beiträgen (z. B. Hammer / Paulus (2002); Langer-Bär [ 6 ] 1 | 2023 Forum Psychomotorik wurden Praxisideen zur Förderung der Eltern- Kind-Beziehung entwickelt. Ein besonders umfangreiches und wissenschaftlich evaluiertes Projekt war das Praxis- und Forschungsprojekt von Schäfer und Reppenhorst Bewegung im Fluss (2009-2012), das Schäfer (2017) im Rahmen ihrer Dissertation evaluierte. Für das Projekt wurde ein präventives Konzept zur familienorientierten Bewegungsförderung entwickelt und daraufhin untersucht, wie sich die Teilnahme an den Bewegungsstunden auf die Interaktions- und Lebensqualität der Familien auswirkte. Auch wenn die Forschungsergebnisse keine signifikanten Effekte zeigen konnten, hat doch die interne Evidenz, also die Rückmeldungen der teilnehmenden Familien über positive Auswirkungen, die Projektdurchführenden überzeugt (Schäfer 2018, 139). Systematisierung der bestehenden Angebotsformen Durch die Zusammenstellung der Ergebnisse der Literaturrecherchen innerhalb einer Grafik (Abb. 1) zeigte sich interessanterweise eine Systematik, wie sich die psychomotorisch-orientierte Begleitung von Familien in den letzten 25-Jahren entwickelt hat. Die in der Grafik blau hinterlegten Veröffentlichungen legen den Fokus auf die Konflikt- oder Problemlösung und können als eher therapeutisch orientiert beschrieben werden. Die grün hinterlegten Felder legen den Fokus auf eine Beziehungsförderung und sind überwiegend präventiv ausgerichtet. Es zeigt sich deutlich, dass bei allen Angeboten bis 2007 ein therapeutischer Schwerpunkt gesetzt wurde. Ab 2011 stellen die Veröffentlichungen eine Beziehungsförderung in den Familien in den Mittelpunkt. Seit 2014 überwiegt der beziehungsorientierte präventive Schwerpunkt in der Fachdiskussion mit Ausnahme einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2018 aus der Schweiz, welche traditionell überwiegend therapeutisch geprägt ist. Begründungen für familienorientierte Psychomotorik Was könnte dazu beigetragen haben, dass PraktikerInnen und TheoretikerInnen der Psychomotorik in den 1990er begonnen haben, das Umfeld des Kindes mehr einzubeziehen? Die systemisch-konstruktivistische Position Eine Antwort könnte in der systemisch-konstruktivistischen Sichtweise liegen, die in den 1990er Jahren z. B. durch die Veröffentlichungen von Balgo (1998a; 1998b) Einzug in die deutsche Psychomotorik erhielt und wodurch ein weiterer psychomotorischer Ansatz bzw. eine weitere Position begründet wurde. Die systemische Denkweise unterscheidet sich von einem analytischen Vorgehen dadurch, dass die Komplexität von Sachverhalten möglichst erhalten und wenig reduziert werden soll. Systeme gelten als von der beobachtenden Person konstruierte Produkte (Ludewig 2018, 7). Die beobachtende Person kann aber nur beschreiben, wie sie selbst die Dinge sieht. Die anderen am System beteiligten Personen entwerfen ihre eigenen Konstruktionen der Wirklichkeit, so dass es vielleicht eine objektive Sichtweise geben könnte, aber kein Mensch darauf Zugriff haben kann. Somit sind Wahrheiten nur »Konstruktionen, die vermeintlich objektive Realität besitzen« (Richter 2012, 52). Balgo (1998b, 3 ff ) beschreibt, wie die bis dahin entwickelten Ansätze in der Psychomotorik Antworten für die Verhaltensweisen eines Kindes suchen. Die Antworten würden entweder auf erklärende oder auf verstehende Art und Weise gesucht. Auf erklärende Art könnte es z. B. lauten: Der Bewegungsunsicherheit des Kindes liegt eine sensorisch-neurophysiologische Störung zugrunde (ebd., 3). Ein Beispiel für den verstehenden Ansatz wäre: Die Bewegungsunsicherheit könnte Ursache eines Vermeidungsverhaltens sein, das durch die Ängstlichkeit der Mutter ausgelöst sein könnte (ebd.,- 4). Die Einbeziehung einer systemisch-konstruktivistischen Sichtweise sieht Balgo (1998b) als Vor- [ 7 ] Broxtermann • Zusammenarbeit mit Familien in der Psychomotorik 1 | 2023 [ 7 ] Broxtermann, Martzy • Zusammenarbeit mit Familien in der Psychomotorik 1 | 2023 schlag, dem Streben nach Ganzheitlichkeit näher zu kommen. Die systemisch-konstruktivistische Position gibt keine Antworten auf und somit auch keine generellen Handlungsempfehlungen für die Verhaltensweisen des Kindes. Es wird davon ausgegangen, dass es diese aufgrund seiner Erfahrungen und seiner Auffassung der Wirklichkeit als passend und sinnvoll erlebt. Erst wenn die Verhaltensweisen ein von Betroffenen kommuniziertes Leiden auslösen, wird von einem Problem gesprochen und es bildet sich ein Problemsystem. In der Systemtheorie wird versucht, durch Verstörung von Interaktions- und Kommunikationsmustern sowie von Wirklichkeitskonstruktionen neue Perspektiven für die Beteiligten zu eröffnen. Auf die psychomotorische Arbeit bezogen beschreibt Balgo (1998b), dass Wirklichkeitskonstruktionen im Spiel zum Ausdruck gebracht werden, indem Handlungs- Abb. 1: Historische Linien-- Psychomotorik mit Familien [ 8 ] 1 | 2023 Forum Psychomotorik kompetenzen und Bewegungsthemen- der Einzelnen über einen gemeinsamen Bewegungsdialog mit Hilfe von Hypothesen aufgedeckt, weiterentwickelt und verbunden werden (Balgo 1998b, 10). Aus systemisch-konstruktivistischer Sicht ist es folglich eine logische Konsequenz und für einen ganzheitlichen Anspruch unerlässlich, die Bezugspersonen, die die Verhaltensweisen als auffällig empfinden und somit eine entscheidende Komponente des Problemsystems darstellen, in den therapeutischen Prozess einzubeziehen. Die Ressourcen der Bewegungsorientierung und Selbsterfahrung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Mehrwert psychomotorischer Familienangebote- - ob therapeutisch oder präventiv- - gegenüber einer gesprächsorientierten Elternbegleitung im erlebnis- und bewegungsorientierten Zugang gesehen wird. Dieser ermöglicht neue »Blickwinkel, gemeinsame Erlebnisse und klärende Beziehungsmomente« (Schäfer 2017, 44). Welchen Stellenwert Bewegung in der Entwicklungsförderung von Kindern hat, ist in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder wissenschaftlich fundiert worden (z. B. Zimmer 2019; Fischer 2019). Je jünger ein Kind, desto weniger ist es ihm möglich, sich sprachlich auszudrücken und desto wichtiger ist im therapeutischpädagogischen Setting der Zugang über körperlichen Ausdruck. Im Erwachsenenalter besitzen wir (geistige und körperliche Gesundheit vorausgesetzt) i. d. R. die Fähigkeit, unsere Gedanken auszudrücken und zu reflektieren sowie unsere Emotionen und damit einhergehende körperliche Reaktionen zu kontrollieren. Der sprachliche Ausdruck rückt folglich in den Vordergrund und dem körperlichen Ausdruck wird meist wenig Bedeutung beigemessen. Unser Leibgedächtnis bleibt uns aber erhalten und Erfahrungen, die wir erleben und uns somit einverleiben, bleiben im Leibgedächtnis hängen, »ohne dass sie dem reflexiven Bewusstsein zugeführt werden müssen« (Richter 2012, 95 f ). Bekräftigt wird die Bedeutung von bewegungsorientierten Erfahrungen durch Seewald, der Bewegung als unseren Zugang zur Welt beschreibt und sagt, dass »nur die durch Bewegung erfahrene und widerfahrende Welt […] greifbar und begreifbar [wird]« (Seewald 2007, 21). Hier wird deutlich, welches Potenzial in der Psychomotorik für Kinder und Erwachsene liegt. Die Selbsterfahrung der Eltern kann zu nachhaltigen Erkenntnissen führen, die auf sprachlicher Ebene nicht gewonnen werden, aber durch Gespräche begleitet und ins Bewusstsein gerückt werden können. Die Stärkung elterlicher Kompetenzen und der innerfamiliären Beziehung Neben der lösungsorientierten Problembearbeitung, die im therapeutischen Setting mit systemischer Perspektive eine wichtige Rolle spielt, und der Stärkung familiärer Beziehungen bei den präventiven Angeboten, ist ein weiterer Beweggrund von PsychomotorikerInnen im Rahmen familienorientierter Angebote elterliche Kompetenzen zu erweitern. Schon 1995 wies Kiphard darauf hin, »wie wichtig es in einem ganzheitlichen Therapiegeschehen ist, die Eltern mit einzubeziehen, sie zu beraten, sie zu stärken und zu befähigen, besser mit ihrem Kind und seinen Problemen umzugehen« (ebd., 9). Weiterhin wurden als Ziele von familienorientierten Angeboten Hilfestellungen für die Eltern aufgeführt, damit diese ihr Kind besser verstehen lernen und Anregungs- und Deutungshilfen zum Umgang mit kindlichen Verhaltensweisen erwerben (Kesper / Hottinger 1995; Beudels 1995). Auch die Ausführungen von Kopic (2013) zielen auf eine Stärkung elterlicher Kompetenzen ab. In gemeinsamen psychomotorischen Eltern- Kind-Angeboten könnten laut Kopic die kindlichen Bedürfnisse mit unterstützenden Elternmaßnahmen verknüpft werden. Ihrer Ansicht nach greifen die bisherigen Bemühungen zur Erweiterung der Elternkompetenzen in Form gesprächsorientierter Begleitung zu kurz. Sie bezeichnet diese als nicht ganzheitlich, da die Sicht auf die Bedürfnisse der Kinder als Teilaspekt der Persönlichkeitsentwicklung fehle. Inhaltlich schlägt Kopic für die Eltern-Kind-An- [ 9 ] Broxtermann • Zusammenarbeit mit Familien in der Psychomotorik 1 | 2023 [ 9 ] Broxtermann, Martzy • Zusammenarbeit mit Familien in der Psychomotorik 1 | 2023 gebote vor allem Beziehungsthemen wie In-Kontakt-treten, Vertrauen und Verständnis aufbauen sowie Kooperation vor und knüpft damit an die Inhalte der oben genannten Praxisprojekte mit präventiver Ausrichtung an (ebd., 123 ff ). Grenzen der Familienorientierung in der Psychomotorik Auch wenn die Vorteile der Elterneinbindung ins gemeinsame psychomotorische Spiel deutlich werden, sind durch die Literaturrecherche und durch Erfahrungen aus dem PEmEK-Projekt Grenzen dieser Form der elterlichen Einbindung sichtbar geworden. Zunächst erscheint es wichtig, dass die PsychomotorikerInnen einen Sinn und Nutzen darin sehen, die Eltern und ggf. Geschwister mit in die Halle oder den Bewegungsraum einzuladen. Vielleicht profitieren nicht alle Kinder davon und es werden Kriterien festgelegt, nach denen die Entscheidung getroffen wird (z. B. familiäre Situation, Förderbedarf, Auftrag). So wie das Einverständnis auf Seiten der Fachkräfte vorhanden sein muss, ist natürlich auch das Einverständnis und Einlassen der Eltern notwendig. Auch könnten die angewandten Ansätze der Psychomotorik und die individuelle psychomotorische Haltung eine entscheidende Rolle spielen. So schreibt Esser (2011, 98), eine Vertreterin des Ansatzes nach Aucouturier, dass die Anwesenheit der Eltern ausdrücklich nicht erwünscht ist. Der psychomotorische Raum ist laut Esser dem Kind vorbehalten, da es sich hier frei ohne elterlichen Einfluss bewegen darf und die Beziehung zur TherapeutIn eine tragende Rolle spiele. Die TherapeutInnen-Kind-Beziehung, die eine Übertragungsbeziehung (Eltern-Kind) im Aucouturier-Ansatz abbilden soll, würde durch die Anwesenheit der Eltern gehemmt, so dass das Kind sich nicht frei ausdrücken könne (ebd.). Weitere Voraussetzungen für Familienangebote sind geeignete Qualifikationen und Vorerfahrungen der PsychomotorikerInnen, die eine professionelle Begleitung von Kindern und Eltern gewährleisten (Kiphard 1995, 12). Auch ausreichend zeitliche und räumliche Kapazitäten sind unabdingbar. Fazit Obwohl angesichts der noch recht jungen Geschichte der Psychomotorik durchaus von einer Tradition bezüglich der Zusammenarbeit mit Familien gesprochen werden kann, sind die Verbreitung und Umsetzung dieser konzeptionellen Ideen eher als erste Schritte im Fachdiskurs als eine verbreitete Etablierung in der Praxis zu bezeichnen. Die Herausforderungen, vor denen viele Familien zurzeit stehen, sind vielschichtig, tiefgreifend und betreffen nicht im Besonderen die Kinder, sondern wirken sich auf das ganze Familiensystem in belastender Weise aus. Familien, die innerhalb des PEmEK-Projektes zu Wünschen und Themen für familienorientierte Stunden befragt wurden, äußerten häufig den Wunsch, »einfach mal eine gute Zeit miteinander zu verbringen«. Wie die Ergebnisse von Schäfer (2017) zeigen und viele Erfahrungsberichte von PsychomotorikerInnen deutlich machen, eignet sich das psychomotorische Setting in besonderem Maße dafür, Familien einen bewegten Rahmen zu geben, der dem Wunsch nach einer guten Zeit miteinander Raum gibt. Die durchgeführte Literaturrecherche zeigt deutlich eine theoretische Wende von therapeutischen zu präventiven Konzepten, die zumindest in den Veröffentlichungen der letzten fünf Jahre den Schwerpunkt bildeten. Nach der Ausarbeitung von systemisch-therapeutischen Konzepten für psychomotorische Familiensettings ist es sicherlich konsequent, das Augenmerk auch auf präventive Konzepte zu legen. Doch die hohen Belastungen, denen Familien zurzeit ausgesetzt sind, werden einen vermehrten Bedarf an vielseitigen Unterstützungsangeboten nach sich ziehen. Hieraus ergibt sich, dass das Thema Zusammenarbeit mit Familien in psychomotorischen Settings noch mehr in den Fokus der angewandten Praxis und des Fachdiskurses rücken kann und präventive sowie therapeutische Angebote gleichermaßen entwickelt, weiterentwickelt, verbreitet und flächendeckend in der Praxis umgesetzt werden sollten. [ 10 ] 1 | 2023 Forum Psychomotorik Literatur Balgo, R. (1998a): Bewegung und Wahrnehmung als System. Systemisch-konstruktivistische Positionen in der Psychomotorik. Hofmann, Schorndorf Balgo, R. (1998b): Systemisch-konstruktivistische Positionen in der Psychomotorik. motorik 21 (1), 2-12 Beudels, W. (1995): Gemeinsam mit Eltern! Psychomotorische Förderung für zurückgestellte Kinder im Schulkindergarten. In: Kiphard, E. J., Olbrich, I. (Hrsg.): Psychomotorik und Familie. Psychomotorische Förderpraxis im Umfeld von Therapie und Pädagogik. Modernes Lernen, Dortmund, 65-86 Buchmann, T. (2018): Psychomotoriktherapie mit Eltern. Den Zugang zur Entwicklungsförderung des Kindes ermöglichen. motorik 41 (3), 118-124, http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ mot2018.art21d Esser, M. (2011): Beweg-Gründe. Psychomotorik nach Aucouturier. 4. Aufl. Ernst Reinhardt, München Fischer, K. (2019): Einführung in die Psychomotorik. Ernst Reinhardt, München, https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838548029 Hammer, R., Paulus, F. (2002): Psychomotorische Familientherapie-- Systeme in Bewegung. motorik 1, 13-19 Kesper, G., Hottinger, C. (1995): Das Konzept der Elternarbeit in der Sensorisch-Integrativen Mototherapie (SIM). In: Kiphard, E. J., Olbrich, I. (Hrsg.): Psychomotorik und Familie. Psychomotorische Förderpraxis im Umfeld von Therapie und Pädagogik. Modernes Lernen, Dortmund, 103-117 Kiphard, E. J., Olbrich, I. (Hrsg.) (1995): Psychomotorik und Familie. Psychomotorische Förderpraxis im Umfeld von Therapie und Pädagogik. Modernes Lernen, Dortmund Kopic, A. (2013): Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen in der bewegten Eltern-Kind-Interaktion. In: Krus, A., Jessel, H. (Hrsg.): Psychomotorik im Bildungskontext, Aktionskreis Psychomotorik, Band 12, Lemgo, 123-133 Langer-Bär, H. (2006): »Familie in Bewegung«. Ein Projektbericht über die Verbindung der Systemischen Beratung mit Mototherapie. Praxis der Psychomotorik 31 (2), 109—116 Lensing-Conrady, R., Beins, H. J., Manz, C. (1995): Keimzelle Schulkindergarten- - ein Konzept zur Ergänzung und Neuausrichtung psychomotorischer Angebote in schwierigem psychosozialem Umfeld. In: Kiphard, E. J., Olbrich, I. (Hrsg.): Psychomotorik und Familie. Psychomotorische Förderpraxis im Umfeld von Therapie und Pädagogik. Modernes Lernen, Dortmund, 119-134 Ludewig, K. (2018): Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie. 3. Aufl. Carl-Auer, Heidelberg Reppenhorst, S., Schäfer, C. (2012): Bewegte Familienzeit. Das Praxis- und Forschungsprojekt »Bewegung im Fluss« zur präventiven Förderung von Familien. motorik 35 (1), 2-14 Richter, J. (2012): Spielend gelöst: Systemisch-psychomotorische Familienberatung: Theorie und Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, https: / / doi.org/ 10.13109/ 9783666402197 Richter-Mackenstein, J. (2013): Die Familie in der Psychomotorik. Von der Vernachlässigung der Familie zum festen Bestand psychomotorischer bzw. motologischer Praxis und Forschung. In: Richter- Mackenstein, J., Eckert, A. R. (Hrsg.): Familie und Organisation in Psychomotorik und Motologie. WVPM, Marburg, 55-72 Schäfer, C. (2017): Bewegte Familienzeit. Empirische Studie zur Förderung der Interaktion und Lebenszufriedenheit von Familien durch ein präventives Bewegungsangebot. Dissertation, Universitätsbibliothek Dortmund, Dortmund, http: / / dx.doi. org/ 10.17877/ DE290R-18152 Schäfer, C. (2018): Wir wurden als Familie gestärkt. Empirische Studie zur bewegungsorientierten Förderung der Interaktion und Lebenszufriedenheit von Familien. motorik 41 (3), 131-140, http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ mot2018.art23d Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. Ernst Reinhardt, München Sherborne, V. (1998): Beziehungsorientierte Bewegungspädagogik. Ernst Reinhardt Verlag, München Welsche, M. (2018): Beziehungsorientierte Bewegungspädagogik. Ernst Reinhardt Verlag, München Zimmer, R. (2019): Handbuch der Psychomotorik. Herder, Freiburg Eine Literaturliste, die zusätzlich alle Veröffentlichungen aus der Grafik umfasst, kann unter https: / / www.nifbe.de/ das-institut/ nifbe-projek te/ projekt-pemek eingesehen werden. Die Autorinnen Janne Broxtermann Dipl. Kffr. (FH), Erlebnispädagogin (HS Ostfalia), Psychomotorikerin (dakp), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung von 2020-2022 Dr. des. Fiona Martzy Dipl. Motologin, Transferwissenschaftlerin am Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung. Anschrift Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) Jahnstr. 75 49080 Osnabrück fiona.martzy@nifbe.de