eJournals motorik 46/1

motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2023.art03d
11
2023
461

Forum Psychomotorik: #elterndabei - Der Einbezug von Mutter und Vater ist mehr als nur eine Option

11
2023
Theresia Buchmann
Der Einbezug der Eltern in die Psychomotoriktherapie eines Kindes ist eine Option, die die Nachhaltigkeit der Therapie erhöht. #elterndabei sollte deshalb nicht eine Option oder eine Ausnahme bleiben. Es gibt bereits eine ganze Reihe von Methoden, die sich bei der Umsetzung von #elterndabei in der PMT bewähren: Die Stärkung des epistemischen Vertrauens, die Anerkennung des Ist-Zustandes, das Bewegungsverstehen, das Mentalisieren, die Biografiearbeit und das Integrieren von Scheitern, welche im Beitrag dargelegt und mit Praxissituationen aus der PMT verknüpft werden.
7_046_2023_1_0004
Zusammenfassung / Abstract Der Einbezug der Eltern in die Psychomotoriktherapie eines Kindes ist eine Option, die die Nachhaltigkeit der Therapie erhöht. #elterndabei sollte deshalb nicht eine Option oder eine Ausnahme bleiben. Es gibt bereits eine ganze Reihe von Methoden, die sich bei der Umsetzung von #elterndabei in der PMT bewähren: Die Stärkung des epistemischen Vertrauens, die Anerkennung des Ist-Zustandes, das Bewegungsverstehen, das Mentalisieren, die Biografiearbeit und das Integrieren von Scheitern, welche im Beitrag dargelegt und mit Praxissituationen aus der PMT verknüpft werden. Schlüsselbegriffe: Eltern-Kind-Beziehung, epistemisches Vertrauen, Scheitern, Mentalisieren, systemische Denkweise #parentsinvolved-- Involving mother and father is more than just an option. Systemic approach in PMT-- Interventions on multiple levels-- Finding words and integrating vulnerabilities Involving parents in a child’s psychomotor therapy is an option that increases the sustainability of the therapy. #parentsinvolved should therefore not remain an option or an exception. There are already several methods that have proven successful in implementing #parentsinvolved in PMT: Strengthening epistemic trust, acknowledging the actual state, understanding movement, mentalizing, biography work, and integrating failure, which are outlined in the article and linked to practice situations from PMT. Keywords: parent-child relationship, epistemic trust, failure, mentalizing, systemic way of thinking [ 11 ] motorik, 46. Jg., 11-18, DOI 10.2378 / mot2023.art03d © Ernst Reinhardt Verlag 1 | 2023 [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] #elterndabei-- Der Einbezug von Mutter und Vater ist mehr als nur eine Option Systemischer Ansatz in der PMT-- Interventionen auf mehreren Ebenen-- Worte finden und Verletzlichkeiten integrieren Theresia Buchmann Idealfall überlagern und ergänzen sich einzelne Elemente und Interventionen aus diesem Katalog. Die Psychomotoriktherapie, die in der Schweiz wie Schulpsychologie und Logopädie den schulischen Diensten zugeordnet ist, ist ein niederschwelliges Angebot, für alle Familien erreichbar- - und bietet deshalb viel Potenzial. Sie unterstützt und begleitet Kinder mit u. a. psychischen Auffälligkeiten in der Prävention und der Therapie. Schon mit kleinen Interventionen ist es möglich, in diese Begleitung auch das familiäre Umfeld einzubeziehen. #elterndabei lautet also die Devise, die zum umfassenden Konzept in der PMT werden soll. Auf der einen Seite liefert die Arbeit mit dem Umfeld Informationen und schafft Verständnis für die Entwicklungsthemen und Schwierigkeiten des Kindes, auf der anderen Seite haben Eltern, die ihr Kind zur PMT begleiten, Erlebnisse und Erkenntnisse, die im Alltag Positives auslösen und nachhaltig wirken. #elterndabei in der PMT setzt bei Therapeutinnen und Therapeuten ein fundiertes Fachwissen über systemische Zusammenhänge und ein Bewusstsein der eigenen Familiengeschichte voraus. Zu den Ansätzen, die sich bei der Umsetzung von #elterndabei in der PMT am besten bewähren, gehören aus meiner Erfahrung heraus die Stärkung des epistemischen Vertrauens, die Anerkennung des Ist-Zustandes, das Bewegungsverstehen, das Mentalisieren, die Biografiearbeit und das Integrieren von Scheitern. Im [ 12 ] 1 | 2023 Forum Psychomotorik Ansatz 1: Stärkung des epistemischen Vertrauens Das ursprünglich aus der Kommunikationsforschung kommende Konstrukt des Epistemischen Vertrauens (aus dem Englischen Epistemic Trust, ET) beschreibt das basale Vertrauen in eine Bezugsperson als sichere, verlässliche Informationsquelle. »Unter epistemischem Vertrauen wird die menschliche Bereitschaft verstanden, neues Wissen von Seiten einer anderen Person als vertrauenswürdig, generalisierbar und relevant für das eigene Selbst einzustufen« (Diez / Müller 2019, 53). Wenn Eltern das erste Mal dabei sind in der PMT, sind sie nicht selten unsicher, weil sie z. B. nicht wissen, was von ihnen erwartet wird. Es gibt Eltern, die sich- - bewusst oder unbewusst- - verantwortlich fühlen für das Unvermögen ihres Kindes. Oder die Therapiebedürftigkeit ihres Kindes erinnert sie möglicherweise an verletzliche Zeiten, weil das Kind beispielsweise eine Frühgeburt war oder in der frühen Kindheit einen Unfall hatte. Ein gemeinsames, unverfängliches Spiel am Tisch oder im Raum kann als Einstieg hilfreich sein, um diverse wirkliche oder vermeintliche Barrieren zu überwinden. In einem nächsten Schritt kann ein Elternteil als »Co-Therapeutin« oder »Co-Therapeut« angeleitet werden. Ich muntere die Eltern beispielsweise auf, nahe beim Kind zu stehen, wenn dieses zurückhaltend die Sprossenwand hochklettert. Präsenz zu markieren, ohne das Kind zu halten oder zu forcieren, vermittelt dem Kind Sicherheit: »Wenn ich ausrutsche, fängt mich Mami oder Papi auf.« Die Kommunikation spielt dabei eine wichtige Rolle. Kürzlich sagte eine Mutter zu ihrem Sohn: »Du kannst loslassen, dich getrauen, meine Hand ist da.« Mit einem einzigen Satz wird so das epistemische Vertrauen gestärkt. Umgekehrt können die Präsenz und das Mittun der Eltern natürlich auch Stress auslösen. Der Knabe, der den Stock, den ihm der Vater zuwirft, nicht auffangen kann, reagiert ängstlich und wendet sich ab. Die Mutter kommentiert dazu, dass er solches Verhalten auch zu Hause zeige. Dies stresse die ganze Familie, mache den Vater auch mal wütend, was die Situation verschlimmere. Dieses Beispiel betrifft eine Familie, die solche und ähnliche Schwierigkeiten im Gespräch zuvor nicht anspricht. Erst im Tun, über das Handeln wurden die Probleme sichtbar und formuliert. Es war den Eltern wichtig, ihren Sohn in seinem Selbstwert zu stärken- - aber wie? Zunächst waren sie unsicher, konnten dann später den Zusammenhang erkennen zwischen dem Verhalten des Kindes und der möglichen Überforderung durch die Eltern. Der Themenkomplex von Erwartungen, Herausforderungen, schwierigen Situationen und der Umgang damit konnte dank diesem #elterndabei-Setting konkret angegangen werden. Abb. 1: »Die bewusste Beziehungsgestaltung, die Reflexion des Dialogs auf verbaler und leiblicher Ebene bildet […] eine tragende Säule psychomotorischen Handelns.« Kuhlenkamp (2017, 124) (Alle Abb.: Jvana Manser) Ansatz 2: Anerkennung des Ist- Zustands Wenn Eltern ihr Kind in der Therapie begleiten, werden oft auch Schwierigkeiten sichtbar, weil die Eltern einen Einblick gewähren in ihren Alltag, der teils komplex und möglicherweise mit gravierenden Problemen beladen ist. Sorgen lassen sich grundsätzlich nicht einfach aus der Welt schaffen. Wir können jedoch vermitteln, dass Entwicklung und Beziehung trotz allem möglich sind, auch unter schwierigen Umständen. [ 13 ] Buchmann • #elterndabei-- Der Einbezug von Mutter und Vater ist mehr als nur eine Option 1 | 2023 [ 13 ] Buchmann • #elterndabei-- Der Einbezug von Mutter und Vater ist mehr als nur eine Option 1 | 2023 Der achtjährige Nikolaj wird von seiner Mutter begleitet. Er leidet an einer Art von selektivem Mutismus. Lange Zeit hat er lediglich mit den anderen Kindern gesprochen und das Gespräch mit Erwachsenen außerhalb der Familie vermieden. Nikolaj besucht die PMT in einer Dreiergruppe. Beide Elternteile kommen aus einer anderen Kultur, verhalten sich zurückhaltend und scheu, obwohl sie gut Deutsch sprechen. Dreimal haben die Mutter oder der Vater Nikolaj zusätzlich während einer Einzelstunde begleitet. In einer Lektion mit der Mutter lade ich diese ein, sich unter die Hängematte zu legen und ihren Sohn am Bauch haltend in Schwung zu versetzen (Abb. 2). Dabei wird das vestibuläre System aktiviert. Es entsteht eine heftige Stimulation und Nikolaj kommen die Tränen. Was die Mutter im ersten Moment irritiert, wird schließlich zu einer innigen, starken Begegnung: Die Motorik hat in dieser Phase sichtbar die Psyche berührt, eine Synchronisation in der Interaktion fand statt. Die Mutter zeigte sich mir gegenüber dann mehrmals dankbar für diese Möglichkeit, am Prozess der Entwicklung ihres Sohnes teilzuhaben. Nikolaj machte in der Schule gute Fortschritte, meldete sich im Kreis vermehrt usw. und die Therapie konnte nach knapp einem Jahr beendet werden. Meine Erfahrung zeigt, dass sich die Therapiedauer oft verkürzt, wenn Eltern teilhaben. Abb. 2: In der Psychomotoriktherapie kann vielfältig Begegnung ermöglicht werden zwischen dem Kind und dem Vater oder hier der Mutter. Abb. 3: Die Präsenz des Vaters verändert das Verhalten des Sohnes und der Vater wiederum erlebt dabei seine Wirksamkeit. Der siebenjährige David ist ein quirliger Junge, er kann kaum länger bei einer Sache verweilen. Das ist vor allem dann unmöglich, wenn er aufgeregt ist, wie hier in der ersten PMT-Stunde gemeinsam mit seinem Vater. David springt konstant durch den Raum, vom Trampolin auf die dicke Matte, immer und immer wieder. Meine Aufforderung, auf der Matte einen Moment lang innezuhalten, seine Wahrnehmung im Hier und im Jetzt zu schärfen, negiert er. Deshalb lade ich den Vater ein, neben der Matte zu stehen und seine Hand hinzuhalten, damit David danach greifen kann, wenn er gelandet ist. Bei der nächsten Landung ergreift David tatsächlich den Daumen des Vaters und bleibt ruhig stehen. Und bei der folgenden Landung kann er bereits ruhig stehen, ohne nach dem Finger zu greifen, es reicht, dass der Vater nach wie vor neben der Matte steht. Der Vater erlebt unmittelbar, wie er seinem Sohn wortwörtlich Halt geben kann. Eine Metapher dafür, wie der Junge den Halt seines Vaters braucht. Am Ende der Lektion fragt mich der Vater: »Frau Buchmann, Sie müssen mir sagen, was ich für meinen Sohn tun kann, damit er in der Schule besser lernen kann. Ich bin in Albanien zur Schule gegangen und weiß nicht, wie die Schule hier funktioniert.« Das ist meine Erfahrung, immer wieder, dass diese sichtbaren Erfolgserlebnisse die Eltern ermutigen, Fragen zu stellen, eigene Verletzlichkeiten zu benennen und dass sie gleichzeitig offen sind, Hilfe anzunehmen. [ 14 ] 1 | 2023 Forum Psychomotorik Ansatz 3: Bewegungsverstehen Verstanden zu werden ist für die Entwicklung der sozial-emotionalen Kompetenzen fundamental wichtig, da es das kindliche bzw. menschliche Bedürfnis stillt, über seine individuellen Ausdrucksweisen in seinen bewussten wie unbewussten Vermittlungsabsichten ernst- und wahrgenommen zu werden (Blos 2012). Wenngleich wir mit Seewald (2007) wohl ergänzen dürfen, auch das Nichtverstehen zu schätzen, bietet gerade die PMT über ihre Medien der körper-leiblichen Bewegung, des Spiels und der Kreativität, vielfältige Zugänge zu jenem Prozess des Vermittelns, Verstehens und Verstandenwerdens an. In diesem Wissen können wir in der Psychomotoriktherapie dann auch Eltern und Lehrpersonen entsprechend bestärken. Abb. 4: Sind die Eltern mit dabei, kommt Emotionen wie der Angst eine besondere Bedeutung zu, indem diese zugelassen und integriert werden. Wenn die Eltern präsent sind, beobachte ich, dass sich die Kinder grundsätzlich ängstlicher zeigen. Bei einer ersten Interaktion können die Eltern dabei unterstützt werden, ihr Kind zu schützen. Zu schützen vor der Angst und vor gewagten Bewegungsabläufen über Hindernisse. Das zeigt etwa das Beispiel von Manuel. Manuel ist fünfeinhalb Jahre alt, hat rote Haare und wirkt zurückhaltend und kleinkindlich. Es ist sein erster Termin in der PMT und er betritt den Raum Hand in Hand mit seiner Mutter. Ich werde mit ihm einen Motoriktest durchführen. Meinen Vorschlag, sich zuerst den Raum anzuschauen und vielleicht gar etwas auszuprobieren, lehnt er mit deutlichem Kopfdrehen ab. Angemeldet wurde er von seiner Kindergartenlehrperson wegen Schwierigkeiten in der Feinmotorik, niedrigem Selbstwertgefühl und teilweise schwerfällig wirkenden Bewegungsabläufen. Die folgenden Testergebnisse sind im Normbereich: Manuel arbeitet fokussiert und fleißig, im Umgang mit dem Ball ist er besonders geschickt, das Interesse für Zahlen und Mengen ist begrenzt. Nach dem Test lade ich die Mutter ein, Manuel bestmöglich zu unterstützen, damit er es wagt, über die erhöhte Bank zu balancieren und anschließend auf das Trampolin zu springen. Ich sage ihr, dass sie ihm die Hand reichen könne. Ich sehe die Mutter in ihrer besorgten Art und ermutige sie. Behutsam begleitet sie ihren Sohn, der mit ihrer Hilfe den Bewegungsablauf tatsächlich schafft. Ich motiviere die beiden, diesen Ablauf zu wiederholen und bereits beim zweiten Mal schafft es der Sohn selbständiger, was ihn wiederum motiviert, es gleich nochmals zu versuchen und noch einmal und noch einmal-… bis er diesen locker und völlig ohne Unterstützung der Mutter bewältigt. Dieses offensichtliche Erfolgserlebnis bestärkt und öffnet nun ihrerseits die Mutter. Sie beginnt, mir von ihrer Kindheit zu erzählen, wie sie als rothaariges Mädchen ausgegrenzt wurde und nun befürchte, dass es Manuel auch so ergehe. Doch habe sie im Kindergarten beobachten können, dass dies heute nicht mehr passiere. Manuel wird ein zweites Kindergartenjahr besuchen und keine PMT zusätzlich. Die PMT-Abklärung hat die Mutter darin bestärkt, dass sie ihrem Kind etwas zutrauen kann, dass Lernschritte über die Wiederholung sichtbar werden. Weil sie als Eltern ihren Sohn nicht überfordern möchten, entscheiden sie sich für ein zweites Kindergartenjahr. Sind Eltern mit dabei, getraue ich mich wiederum eher, auch Grenzen auszuloten und Kin- [ 15 ] Buchmann • #elterndabei-- Der Einbezug von Mutter und Vater ist mehr als nur eine Option 1 | 2023 [ 15 ] Buchmann • #elterndabei-- Der Einbezug von Mutter und Vater ist mehr als nur eine Option 1 | 2023 dern Schwierigeres zuzumuten. Claudio, ein flinker, geschickter Junge aus der ersten Klasse, kommt in die PMT, weil er in seiner sozial-emotionalen Entwicklung Auffälligkeiten zeigt, sich wenig zutraut und sich dies maßgeblich auf sein Lernverhalten auswirkt. Grobmotorisch geschickt, meidet er dennoch das Klettern in die Höhe, weil er Angst hat. Dies erstaunt den Vater. Ich wage das Experiment, den Vater zu bitten, seinen Sohn auf den Schrank zu setzen. Claudio beginnt unmittelbar zu weinen, worauf ihm der Vater in seiner Sprache auf liebevolle Art und Weise zuspricht und ihn zu beruhigen versucht. Dies dauert mehrere Minuten, es ist ein inniger Moment zwischen Vater und Sohn. Speziell dabei ist, dass mich Claudio zwischendurch mehrmals kurz anschaut, mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck, als möchte er mir sagen: »Schau, was für einen verständnisvollen, lieben Papa ich habe! « Claudio ist das älteste von drei Kindern. Offensichtlich genießt er dieses Gefühl von besonderem Schutz und Geborgenheit. Kurz darauf lese ich, dass ausgerechnet Bertrand Piccard (Schweizer Psychiater, der 1999 als erster Mensch mit einem Ballon die Erde umkreiste) als Kind Höhenangst hatte und diese selbst bekämpfte, indem er aus dem ersten Stockwerk im Elternhaus herausgesprungen sei. Das erste Mal habe er sich dabei verfangen und sein Vater hätte ihn retten müssen. Ansatz 4: Mentalisieren Mentalisieren ist eine Form der sozialen Kognition und bezeichnet die imaginative Aktivität, die es uns ermöglicht, menschliches Verhalten unter Bezugnahme auf intentionale Zustände (Bedürfnisse, Wünsche, Gefühle, Ziele usw.) wahrzunehmen und zu interpretieren (Fonagy 2015). Das Mentalisierungskonzept basiert auf der Fähigkeit, Gefühle, Bedürfnisse und Gedanken bei anderen und bei sich selbst wahrzunehmen und sich selbst mit fremden Augen zu betrachten. Mentalisieren ist eine zentrale elterliche Fähigkeit, drängt sich also im Rahmen von #elterndabei geradezu auf. Die Qualität dieser Fähigkeit hat wesentlichen Einfluss auf die psychische Gesundheit und eine gelingende Entwicklung des Kindes. Mentalisieren fördert auch die kindliche Selbstreflexion, welche die Entwicklung der Emotionsregulation entscheidend prägt. Die Entwicklung des Mentalisierens beginnt mit dem Körpermodus, mit körperlichen Rückkoppelungsprozessen: »Das Erleben von Körpergrenzen ist wichtig, damit ein psychischer Raum entstehen kann, in dem das Selbst zu einer Struktur wird und sich zunehmend vom Andern differenzieren kann« (Diez / Müller 2018, 22). Abb. 5: Mit dem Auflegen der Sandsäcklein stärkt die Mutter die Körperwahrnehmung ihrer Tochter; Laura wird ruhig und zentriert. Laura ist ein hochsensibles Kind, das im Kindergarten Mühe hat, seine Gefühle zu regulieren. Sie hat Schwierigkeiten, sich im Raum zu orientieren und Regeln einzuhalten. In der Therapie erspürt sie die Sandsäcklein, welche ihr die Mutter nach und nach sorgfältig auf den Körper legt. Würde ich diese Übung mit dem Mädchen machen, würde ich es einladen, sich auf den Bauch zu legen, um so besser geschützt zu sein. Nun macht die Mutter die Übung mit ihr und Laura legt sich spontan auf den Rücken. Es ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Kinder in Anwesenheit der Eltern stärkere Gefühle zulassen und somit anders vertieft gearbeitet werden kann. Mit der Teilhabe der Eltern kommt eine Dimension dazu. [ 16 ] 1 | 2023 Forum Psychomotorik Bei Familien mit Kommunikationsschwierigkeiten kommt dem Mentalisieren eine besondere Bedeutung zu, wie das Beispiel der Familie H. D. zeigt. Die Eltern stammen aus völlig unterschiedlichen Kulturen, die Mutter geflüchtet aus Äthiopien, der Vater aus einer zerrütteten Familie in Deutschland. Die Eltern haben keine gemeinsame Sprache und der sechsjährige Ephraim, ihr einziges Kind, fällt durch eine massiv verzögerte Sprachentwicklung auf. Wenn Ephraim spricht, dann leise und nur einzelne Wörter. In der ersten gemeinsamen Familienstunde mache ich zur affektiven Einstimmung ein einfaches Rhythmus-Klatschspiel. Die Mutter bedeutet mir mit Gesten, dass sie etwas ähnliches kenne. Sie gibt mir zu verstehen, dass sie dies hin und wieder mit Ephraim zu Hause mache. Ephraim bleibt regungslos auf seinem Stuhl sitzen, er will nicht mitklatschen; auch meine Aufforderung, das Spiel gemeinsam mit der Mutter vorzuzeigen, zeigt keine Wirkung. Da kommt der Vater ins Spiel und »rettet« seinen Sohn. Der Vater gibt mir zu verstehen, dass sich sein Sohn möglicherweise schämt, dass es ihm peinlich ist. Dieses Mentalisieren des Vaters mache ich verbal »groß«. Der Vater wirkt sichtbar gestärkt und beginnt zu erzählen, dass er am Tag in einer lauten Werkstatt arbeiten würde und diese feine, leise Stimme seines Sohnes am Abend akustisch gar nicht verstehe. Dies wiederum bringt mich auf folgende Interventionsidee: Ephraim setzt sich auf ein Rollbrett und wenn er ein Geräusch macht, zieht ihn sein Vater dabei durch den Raum. Ein lustvolles Spiel entwickelt sich und alle drei, insbesondere die Mutter, freuen sich an der gelungenen Interaktion zwischen Vater und Sohn. Das Bindungssystem als Ganzes wird aktiviert. In der Folge wird ihn die Mutter mehrmals zur PMT begleiten. Es sind intensive Stunden, Ephraim ist motiviert und engagiert, weitere Fortschritte zu machen. Wir verbinden die Bewegung mit der Sprache und als Nebeneffekt der PMT kann sich auch die Mutter zunehmend besser verbal mit mir verständigen. Es ist eine große Chance der PMT, dass wir mit den Eltern nonverbal kommunizieren können. Dies wiederum macht Mut, mit der Zeit immer häufiger auch die Sprache einzusetzen. Ansatz 5: Biografiearbeit Über das eigene Leben zu sprechen, gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. So geschieht im Rahmen von #elterndabei immer wieder, dass Mütter und Väter spontan aus ihrer eigenen Kindheit berichten: Der Vater aus dem Balkan erinnert sich beim Stock-Tanz-Spiel an seine Erlebnisse als Kind mit Stöcken im Wald; die irakische Mutter dreht die Glasmurmel zwischen den Fingern und erzählt, wie sie diese früher auf den Dächern der Häuser in die Sonne hielten und das Farbenspiel beobachteten; ein Vater, der auf dem Boden sitzend mit den Klötzen baut, vertraut mir an, dass er bei Pflegeeltern aufgewachsen ist. In gewissen Situationen macht es nun Sinn, die Mutter oder den Vater an weitere positive Erlebnisse ihrer Kindheit heranzuführen. Dies löst Energien und Motivation für das Spiel mit den Kindern aus. Sind die Erinnerungen belastend und trüb, dienen sie nicht selten dazu, die Situation und das Verhalten innerhalb der Familie besser zu verstehen. So oder so schaffen diese Begebenheiten Beziehung und Vertrauen. Gewöhnlich werden die Kinder bei diesen Ausführungen besonders aufmerksam und horchen still zu. Bei vergangenen fröhlichen Erlebnissen ihrer Eltern freuen sie sich mit, bei den traurigen reagieren sie manchmal erstaunt und auch erleichtert, dass der Elternteil offen darüber spricht. Auf alle Fälle erleben hier die Kinder, wie dem Gesagten mit Respekt und wertfrei begegnet wird. Dies wiederum hat eine spezielle Bedeutung bei Familien, die ansonsten wenig Akzeptanz verspüren. Ansatz 6: Lernen durch Scheitern Sheila besucht die PMT, weil sie immer wieder an sich selbst zweifelt, zeitweise besonders nervös reagiert und an ihren Fingernägeln kaut. Grundsätzlich eine erfolgreiche Schülerin, kreativ und voller Ideen, beschäftigt ihre Sensibilität ihre Eltern und sie machen sich Sorgen. Nach einem halben Jahr PMT in einer kleinen Gruppe, lade ich die Eltern gemeinsam mit Sheila ein. Den Vater sehe ich zum ersten Mal. Ich starte die Stunde am Tisch und wir bauen im Kreis mit den [ 17 ] Buchmann • #elterndabei-- Der Einbezug von Mutter und Vater ist mehr als nur eine Option 1 | 2023 [ 17 ] Buchmann • #elterndabei-- Der Einbezug von Mutter und Vater ist mehr als nur eine Option 1 | 2023 Kaplasteinen, im Turnus erhält jede Person vier Hölzlein, baut diese vor sich auf und die anderen bauen möglichst identisch nach. Das Gemeinsame Tun gibt eine affektive Einstimmung, alle werden gesehen, beachtet und Gespräche werden angeregt. Eine meiner Regeln gibt vor, dass man die eigene Konstruktion, wenn sie zusammenfällt, wieder aufstellen muss, allein oder je nach Bedarf mit Hilfe. Bei dieser Übung werden diverse Aspekte der PMT sichtbar: Raumorientierung, Feinmotorik, Ausdauer, Frustrationstoleranz, soziale Aspekte. Die betreffende Familie ist im gemeinsamen Spiel geübt. Sheila erzählt, wie der Vater zu Hause mit Kaplasteinen einen Turm bis an die Decke gebaut habe, den die kleine Schwester dann mit Wonne zum Einstürzen brachte. Plötzlich fällt mein Turm zusammen und der Vater lacht, es sei gut, dass ich am Anfang die Regeln bestimmt hätte. Ich mache einen Versuch, meine Hölzer korrekt wieder aufzubauen, realisiere, dass es schwieriger ist als gedacht-… und lasse sie liegen, gebe mich als gescheitert. Da beginnt der Vater von sich zu erzählen. Er berichtet, wie er mit dem Selbstwertgefühl zu kämpfen hat. Erfolgreich im Beruf, gut situiert, hat er noch heute großen Stress, wenn er vor Leute stehen muss, um etwas zu präsentieren. Und ja, früher hätte er stark gelitten unter Prüfungsängsten, dies alles möchte er seiner Tochter unbedingt ersparen. Daraus entwickelt sich ein spannendes Gespräch über Verletzlichkeiten. Später hat die Tochter das Bedürfnis, ihren Eltern zu zeigen, was sie alles kann und was sie sich im großen Raum traut an Aktivitäten beim Klettern und Balancieren. Haltung und Therapieverständnis Richter beschreibt in seinem Buch »Spielend gelöst« (2012) die Haltung als das Herzstück der systemisch-psychomotorischen Familienberatung. Erst das Welt- und Menschenbild, das Therapieverständnis, machen das Arbeiten systemisch. Richter unterscheidet diverse verschiedene Formen von Haltungen, was dem breiten Spektrum der Arbeit mit den Eltern gerecht wird: Lösungsorientierung, Beziehungsorientierung, Neutralität, Neugier, der Berater als Begleiter, Realitätenkellner und Dienstleister etc. Häufig fühle ich mich als Dienstleisterin, die nach einer Eingangsphase zurücksteht, beobachtet, arrangiert und das Agieren der Familie überlässt. Über die Beziehung und das Vertrauen werden Abb. 7: Es ist ein Nebeneffekt der Teilhabe der Eltern an der PMT, dass sie Anregungen und Ideen im Alltag umsetzen, ohne dass dies explizit von ihnen erwartet würde. Abb. 6: Die Berührung der Füße durch die Mutter gibt die nötige Sicherheit, und das Kind schafft es schließlich, die Glasmurmel in den Trichter einzuwerfen. Die Glasmurmel wiederum erinnert die Mutter an ihre eigene Kindheit. [ 18 ] 1 | 2023 Forum Psychomotorik die Eltern gewonnen, sich mit ihrem Kind auf einen gemeinsamen Prozess einzulassen. Der Erlebnisaspekt steht dabei im Fokus. Über die Bewegung und das Spiel werden sowohl Verletzlichkeiten als auch Ressourcen sichtbar. Die phänomenologische Haltung ist dabei hilfreich: »Das eigenleibliche Spüren von Eindrücken auf den anderen und sich selbst bezogen bekommt eine zentrale Stellung« (Richter 2012, 122). Diese Aussage bekräftigt auch, dass wir mit unserem eigenen Körper in der Psychomotoriktherapie ein wesentliches »Werkzeug« sind. Gespräche und Spiele, Ausprobieren und Scheitern, Weinen und Staunen, mit aktiver Unterstützung der Eltern oder beobachtet von ihnen- - der Blick ist auch im Rahmen von #elterndabei immer auf die Entwicklung des Kindes gerichtet. Das ist und bleibt das Zentrum unserer Arbeit, das Kind in seinen Möglichkeiten zu stärken. Und wenn wir die Eltern zum Mittun einladen, wird mehr möglich. Literatur Blos, K. (2012): Bewegungsverstehen. Springer, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-19410-3 Diez, M.T., Müller, R. (2018): Mentalisieren mit Kindern und Jugendlichen. Klett-Cotta, Stuttgart Kuhlenkamp, S. (2017): Lehrbuch Psychomotorik. Ernst Reinhardt, München, https: / / doi.org/ 10.36 198/ 9783838587172 Richter, J. (2012): Spielend gelöst. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, https: / / doi.org/ 10.13109/ 978 3666402197 Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. Ernst Reinhardt, München Zum Schutz der Persönlichkeiten wurden alle Namen geändert. Die Autorin Theresia Buchmann Psychomotoriktherapeutin (EDK) in CH / Willisau und Initiantin von KINDER STARK MA- CHEN, einem kleinen Institut mit einem breiten Spektrum an Weiterbildungsangeboten für Fachleute in der PMT Anschrift Theresia Buchmann, Tribschengasse 8, CH-6005 Luzern; theresia.buchmann@vwil.ch Illustrationen: Jvana Manser (jvana@hotmail.ch) SAMSTAG, 04. FEBRUAR 2023 IN STUTTGART / SCHORNDORF 9.00 Uhr Bausteine der Psychomotorischen Praxis Aucouturier Marion Esser, ZAPPA, Bonn 10.00 Uhr Das Kind als Akteur seiner Entwicklung Alvaro Beñaran Aranzabal und Iker Amezaga, LUZARO, Bergara 11.00 Uhr Kaffeepause 11.15 Uhr Was trägt die Psychoanalyse zur Psychomotorik bei? José Angel Rodriguez, AEC, Barcelona 12.30 Uhr Mittagspause 13.30 Uhr Psychomotorik als therapeutische Intervention Mary Angeles Cremades, CEFOPP, Madrid 14.30 Uhr Kaffeepause 15: 00 Uhr Der Weg zu sich selbst - hin zur Begegnung mit dem Anderen Selbsterfahrung im psychomotorischen Raum, Philippe Lemenu, ebppa, Brüssel 16: 00 Uhr Die Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten bei ZAPPA in Bonn ZAPPA-Team, Bonn 16: 30 Uhr 25 Jahre PPA in Deutschland- 20 Jahre ZAPPA in Bonn Come together, Ausklang 18.00 Uhr Ende des Fachtages Der Fachtag richtet sich an Fachleute aus Frühpädagogik, KiTa und Therapie. Veranstalter sind das deutsche Ausbildungsinstitut ZAPPA in Kooperation mit dem Dachverband ASEFOP. BEWEG-GRÜNDE EINLADUNG ZUM FACHTAG PSYCHOMOTORISCHE PRAXIS AUCOUTURIER beziehungsorientiert handlungsorientiert ressourcenorientiert SAMSTAG, 04. FEBRUAR 2023, STUTTGART / SCHORNDORF Anmeldung und Teilnahmebedingungen: www.zappa-bonn.de/ aus-und-fortbildung/ anmeldung