eJournals motorik 46/2

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Qualifikationsarbeit: Auf dem Körper spielen - Die Stimme als Klangausdruck und der Körper als Instrument

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2023
Mara Kehrbaum
Wie die Stimme klingt, hängt von der körperlichen Verfassung und der inneren Befindlichkeit ab.
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[ 103 ] Haas • Wissen kompakt: Schmerz-- ein-Aspekt des Körpererlebens 2 | 2023 [ 103 ] Aktuelles / Kurz berichtet 2 | 2023 Qualifikationsarbeit Auf dem Körper spielen---Die Stimme als Klangausdruck und der Körper als Instrument Wie die Stimme klingt, hängt von der körperlichen Verfassung und der inneren Befindlichkeit ab. So liegt die Vermutung nahe, dass die Stimme in einem engen Verhältnis von Körper und Psyche steht, beziehungsweise sich in der Einheit von Körper und Psyche zu konstituieren vermag. Unter diesen Gesichtspunkten könnte die Stimme für die Motologie als eine Wissenschaft, die die Brücke zum Inneren des Menschen über Körperlichkeit und Bewegung schlägt und den Menschen in seinem ganzen leiblichen Konstituiert-Sein in der Welt sieht, durchaus von Bedeutung sein. So ergab sich im Rahmen meiner Masterarbeit des Studiengangs »Motologie« folgende Forschungsfrage: Was bedeutet die Stimme für die motologische Arbeit mit Erwachsenen und welche Möglichkeiten für die Praxis ergeben sich daraus? Das Beforschen dieser Frage erfolgte ausschließlich mittels Literaturrecherche. Zum Begriff und der Bedeutung der Stimme Hinsichtlich ihrer Bedeutung in der menschlichen Entwicklung wurde im pränatalen Stadium das Stimmen-Hören eher als ganzkörperliches Fühlen erkannt, da der Klang der mütterlichen Stimme Schwingungen und Vibrationen auslöst, die im ganzen Körper über die Haut und die Knochenleitung gefühlt werden. Es wurde dargestellt, dass die Anfänge psychischer Erinnerungsspuren in der intrauterinen, rhythmisch-klanglichen Zeit liegen, sowie Urvertrauen bereits über die mütterliche Stimme erworben wird und somit bindungsrelevante Qualitäten eine Rolle spielen (Nöcker-Ribaupierre 2009, 60). Im postnatalen Stadium wurde die wichtige Funktion der Stimme als Ausdruck von Lust- und Unlustgefühlen und als Beziehungsausdruck zu anderen Menschen erläutert (vgl. Rittner 2009, 484 f.). Diese Funktionen kommen besonders zum Tragen, solange die Fähigkeit des Sprechens noch nicht erworben ist. In gewisser Weise werden die ursprünglichen Funktionen der Stimme Bindung, Beziehungs- und Gefühlsausdruck durch die Sprache überdeckt. Anschließend habe ich einen Blick auf die beteiligten Organe und die Physiologie der Stimme geworfen. Die Stimmproduktion bezieht den gesamten Körper mit ein, wobei drei Funktionen eine besondere Rolle spielen: die Atmung durch die Lungen und das Zwerchfell, die Stimmgebung durch die Stimmlippen im Kehlkopf und die Artikulation mit individueller Klangfarbe durch die Resonanzräume im Ansatzrohr (Linklater 2001, 21). Der Körper wurde als Instrument, Klang- oder Resonanzkörper der Stimme erkannt. Hinsichtlich des Zusammenhangs von Stimme und Person konnte festgestellt werden, dass der Stimmklang das Hier und Jetzt der Person abbildet und als »lauthafte Biographie« (Gundermann zit. nach Rittner 2009, 481) bezeichnet werden könnte. Stimmforscher Paul Moses drückt es so aus: die Stimmdynamik ist das Spiegelbild der Psychodynamik (Moses 1956, 12). Stimme kann als Teil der Identität verstanden werden, wobei beides die stetige Veränderung, Vergänglichkeit und den Wandel gemeinsam haben. Findet Stimme in Form des Gesangs Anwendung, sind gesundheitsfördernde- und heilsame Wirkfaktoren zu verzeichnen, die mit der Möglichkeit des Atems sich zu erneuern und des Körpers sich zu re-energetisieren, zusammengefasst werden können. Beim Singen wird die Aufmerksamkeit in den Körper gelenkt und die Interozeption (Körperinnenwahrnehmung) wird durch die Vibrationsempfindungen intensiviert. Ein Befinden des sich »im Einklang mit sich und der Welt fühlen(s)« und der Tiefenresonanz kann vor allem beim Singen oder freien Tönen in der Gruppe entstehen (vgl. Rosa 2020, 111 f.). In Bezug auf Leiblichkeit und Phänomenologie wurden fünf Wesensmerkmale der Stimme erkannt: Sozialität, Appellcharakter, Verletzbarkeit, Selbstoffenbarung und Raum (Mersch 2006, 212 ff.). Im leiblichen Verständnis geht die Stimme über den Körper hinaus in den (Zwischen-) Raum und berührt den Leib der hörenden Personen, in dem sie Spuren hinterlässt, [ 104 ] 2 | 2023 Aktuelles / Kurz berichtet wenn beispielsweise ein Schrei durch Mark und Bein geht (ebd., 212). Stimme und Motologie Das Verständnis des Körpers als Klangkörper, die leiblich-phänomenologischen Qualitäten der Stimme sowie die Funktionen Beziehung, Bindung, Gefühlsausdruck und -regulierung seien hier als bedeutsame Elemente der Stimme für die Motologie zu nennen. Stimme ausgelöst durch InnenBEWE- GUNG, bietet der Motologie eine Erweiterung auch auf der Ebene des Hörens und nicht nur des Sehens, etwas über die Person zu erfahren. Somit ist bereits schon an dieser Stelle eine große Bedeutung der Stimme für die Motologie im Allgemeinen zu verzeichnen, ohne den spezifischen Blick auf das Erwachsenenalter geworfen zu haben. Das sei als zentrale Erkenntnis zu betonen. Nach dem Skizzieren der Lebensspanne des mittleren Erwachsenenalters sowie motologischer Konzepte, die auf diese Zielgruppe ausgerichtet sind, konnten Türen zu Potenzialfeldern stimmorientierter motologischer Arbeit mit Erwachsenen aufgestoßen werden. Sie lassen sich vor allem dem therapeutischen und dem gesundheitsfördernden Paradigma zuordnen. Hier sind unter anderem die oben erläuterten gesundheitsfördernden Aspekte des freien Tönens zu nennen. Des Weiteren kann das Einsetzen von Stimme jenseits von Sprache das (zwischenleibliche) Spüren erleichtern- -- einer zentralen Fähigkeit, um sich auf (körper-) therapeutische Prozesse einlassen zu können und das Erleben der eigenen Befindlichkeit zu ermöglichen (Geuter 2019, 84 ff.). Stimme kann als heilsamer Bestandteil in der Traumatherapie fungieren, als dass rein körperlich-stimmliche Impulse jenseits von Sprache eine sich ausbalancierende Wirkung auf die sympathische und parasympathische Aktivität haben und das autonome Nervensystem regulieren. Wieso also den Körper und Stimme nicht als Instrumente sehen, mit, durch und auf denen gespielt werden kann? Wie verhalten sie sich unter bestimmten Bedingungen? Wie verstimmen sich der Körper und die Stimme als Instrumente und was kann sie wieder stimmen? Im Laufe des Lebens kann gelernt werden, ein guter Spieler oder eine gute Spielerin dieser Instrumente zu werden. Denn im Gegensatz zu anderen Instrumenten handelt es sich »um die direkteste tönende Erscheinungsform leib-seelischer Einheit, die dem Menschen möglich ist. Kein Instrument rührt daher (…) derart unmittelbar an tiefen emotionalen Schichten, kann derart starke körperliche Reaktionen auslösen und öffnet Tore zu eigenständigen und aufgrund der vielfältigen psychophysischen Resonanzphänomene auch körperlich heilsamen Ressourcen wie die Stimme« (Rittner 2009, 487 f.). Literatur Gundermann, H. (1977): Die Behandlung der gestörten Sprechstimme. Fischer, Jena Geuter, U. (2019): Praxis Körperpsychotherapie. 10 Prinzipien der Arbeit im therapeutischen Prozess. Springer Verlag, Berlin, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662-56596-4 Linklater, K. (2001): Die persönliche Stimme entwickeln- -- Ein ganzheitliches Übungsprogramm zur Befreiung der Stimme. 2. Aufl. Ernst Reinhardt Verlag, München / Basel Mersch, D. (2006): Präsenz und Ethizität der Stimme. In: Kolesch, D., Krämer, S. (Hrsg.): Stimme. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 211-236 Moses, P.J. (1956): Die Stimme der Neurose. Georg Thieme Verlag. Nöcker-Ribaupierre, M. (2009): Auditive Stimulation. In: Decker-Voigt, H.H., Weymann, E. (Hrsg.): Lexikon Musiktherapie. Hogrefe, Göttingen, 60-61 Rittner, S. (2009a): Stimme. In: Decker- Voigt, H.H., Weymann, E. (Hrsg.): Lexikon Musiktherapie. Hogrefe, Göttingen, 481-489 Rosa, H. (2020): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. 3. Aufl. suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Berlin Kontakt Mara Kehrbaum Mara Kehrbaum, Motologin, tätig als Körper- und Bewegungstherapeutin im psychosomatisch-klinischen Kontext im Gruppen- und Einzelsetting marakehrbaum@posteo.de