motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2023.art23d
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2023
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Forum Psychomotorik: Das »schweigende« Wissen in der Psychomotorik
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2023
Astrid Krus
Holger Jessel
2023 jährt sich der Geburtstag von Ernst Jonny Kiphard zum 100. Mal. Der Beitrag nimmt dies zum Anlass, die Entwicklung der Psychomotorischen Übungsbehandlung und insbesondere die Verbreitung des Konzeptes im Rahmen von psychomotorischen Fortbildungen nachzuzeichnen. Im Anschluss wird untersucht, wie die ursprünglichen Vermittlungsmodelle und methodisch-didaktischen Überlegungen aus der Perspektive aktueller Professionalisierungsdiskurse einzuschätzen sind.
7_046_2023_3_0003
Zusammenfassung / Abstract 2023 jährt sich der Geburtstag von Ernst Jonny Kiphard zum 100. Mal. Der Beitrag nimmt dies zum Anlass, die Entwicklung der Psychomotorischen Übungsbehandlung und insbesondere die Verbreitung des Konzeptes im Rahmen von psychomotorischen Fortbildungen nachzuzeichnen. Im Anschluss wird untersucht, wie die ursprünglichen Vermittlungsmodelle und methodisch-didaktischen Überlegungen aus der Perspektive aktueller Professionalisierungsdiskurse einzuschätzen sind. Schlüsselbegriffe: Psychomotorische Übungsbehandlung, Psychomotorik, Kiphard, Fortbildung, Professionalisierung, implizites Wissen, Könnerschaft The »tacit« knowledge of psychomotricity. Perspectives of professionalisation in Kiphard’s work and today 2023 marks the 100th anniversary of Ernst Jonny Kiphard’s birth. The article takes this as an opportunity to trace the development of psychomotor exercise treatment and in particular the dissemination of the concept in the context of psychomotor training. Subsequently, it will be examined how the original teaching models and methodological-didactic considerations are to be assessed from the perspective of current professionalisation discourses. Keywords: psychomotor exercise treatment, psychomotricity, Kiphard, training, professionalisation, tacit knowledge, expertise [ 112 ] 3 | 2023 motorik, 46. Jg., 112-118, DOI 10.2378 / mot2023.art23d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Das »schweigende« Wissen in der Psychomotorik Perspektiven der Professionalisierung bei Kiphard und heute Astrid Krus, Holger Jessel entwickelte Konzept der Psychomotorischen Übungsbehandlung an Fachkräfte verschiedener Professionen zu vermitteln. Triebfeder waren die Erfolge Kiphards in der Arbeit mit verhaltensproblematischen Kindern und Jugendlichen, die er der Fachwelt zugänglich machen wollte. Unterstützt wurde er bei diesem Vorhaben von Dr. Elisabeth Hecker und Dr. Helmut Hünnekens, der Direktorin und dem Chefarzt der Klinik, die davon überzeugt waren, dass »durch die Übungen im leiblichen Bereich ein besonders guter und kindgerechter Zugang zum Psychischen gelingt« (Schäfer 1993, o.S.). Die Psychomotorische Übungsbehandlung Kiphard selbst war ein Meister der Körperbeherrschung und motorischer Höchstleistungen, die er als Akrobat und später als Diplom-Sportlehrer fortlaufend verfeinerte. Durch seine Praxiserfahrungen mit motorisch beeinträchtigten Kindern wandelte sich jedoch seine berufliche Perspektive vom Leistungssport hin zur Unterstützung der »häßlichen Entlein, die in der Hühnerhackordnung die meisten Federn lassen müssen« (Schäfer 1989, 19). Seine Intention war es, durch gezielte motorische Förderung den Kindern »auf dem Weg über die Verbesserung ihrer Bewegungsfunktionen zu neuem Die Wurzeln des Professionalisierungsprozesses im Kontext psychomotorischer Praxis liegen in den Bestrebungen Ernst J. Kiphards und nachfolgend des Aktionskreises Psychomotorik e. V. (heute: Deutsche Akademie- - Aktionskreis Psychomotorik e. V.), das in der Westfälischen Jugendpsychiatrie in Gütersloh (später in Hamm) [ 113 ] Krus, Jessel • Das »schweigende« Wissen in der Psychomotorik 3 | 2023 Aus der Fachliteratur der psychomotorischen Anfänge lässt sich ein Anforderungsprofil an PsychomotorikerInnen skizzieren, die über umfassende theoretische Kenntnisse in der Bewegungsentwicklung und ein umfassendes Repertoire an entsprechenden Übungen verfügen müssen. Methodisch-didaktisch bilden die dezidierte Planung der Stunden, die Zusammensetzung der Gruppe, der Ausgleich zwischen intensiven Bewegungsangeboten und Entspannung, die Partizipationsmöglichkeit der Kinder und damit die Variationsmöglichkeiten der Angebote den Kern der Psychomotorischen Übungsbehandlung. Auf der Ebene der Persönlichkeit der PsychomotorikerInnen sind neben den eigenen Bewegungserfahrungen insbesondere die Interaktionskompetenzen bedeutsam. »Motivierendes, mitreißendes, einfühlsames Verhalten, […] Verständigung ohne Worte, […] das Signalisieren des Verstehens in der Not, Hineinfühlen in die Interessen und Aktivitäten, die Bereitschaft, sich fesseln zu lassen, […] mitzuraufen« (Schäfer 1989, 22) prägen den Umgang der PsychomotorikerInnen mit den Kindern und Jugendlichen. »Erst der Zugang zu und die Auseinandersetzung mit uns selbst sowie mit unserer Biographie eröffnen uns den Weg, Kinder bedingungslos anzunehmen und in ihrer Entwicklung zu begleiten« (Schäfer 2011, 67). Die als »Meisterlehre« entstandene Psychomotorik weckte seit 1960 durch Vortragsreisen und zahlreiche Veröffentlichungen von Hünnekens und Kiphard das Interesse heilpädagogischer, klinischer und therapeutischer Einrichtungen sowie von Fach- und Hochschulen an diesem Konzept. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie etablierten Kiphard und seine Kollegin Ingrid Schäfer, die maßgeblich die Fortbildungsaktivitäten mitgeprägt hat, zweibis dreitägige Informationstage, an denen Interessierte in Vorträgen und Demonstrationsstunden die Psychomotorische Übungsbehandlung kennen lernen konnten (Schäfer 1989, 25 ff ). Diese Selbstvertrauen, neuem Mut und neuer Kontaktbereitschaft zu verhelfen, so daß sie aus eigener Kraft und auf Grund eigener Leistungen zu der bisher versagten Beachtung und Anerkennung kommen, die gleichsam der Schlüssel der Gemeinschaft sind« (Hünnekens / Kiphard 1966, 5). Ingrid Schäfer, die mit Kiphard seit 1963 sehr eng zusammengearbeitet hat, sieht insbesondere Kiphards bewegungsbiografische Erfahrungen als Schlüssel für das neue Behandlungskonzept, über eine Verbesserung der motorischen Leistungsfähigkeit eine Harmonisierung und Stabilisierung der psychischen und sozialen Entwicklung zu erreichen. »Als Meister der Entspannung und Selbstbeherrschung konnte er sich seine Erfolge selbst zuschreiben, erfuhr Selbstbestätigung und psychophysisches Wohlgefühl« (Schäfer 1989, 19). Die ursprüngliche Konzeption der Psychomotorischen Übungsbehandlung gliederte sich in die vier Kernbereiche Sinnes- und Körperschemaübungen, Übungen der Behutsamkeit und Selbstbeherrschung, rhythmisch-musikalische Übungen sowie Übungen des Erfindens und Darstellens (Hünnekens / Kiphard 1966, 27 ff ). Sein Konzept wurde maßgeblich durch die Kleinkind-Gymnastik, die heilpädagogisch ausgerichtete Rhythmik und die Sinnes- und Bewegungsschulung beeinflusst. In Abgrenzung zur Heilgymnastik, die zum damaligen Zeitpunkt in Einzeltherapie erfolgte, zeichnete sich die Psychomotorische Übungsbehandlung dadurch aus, dass sie als Gruppentherapie mit ihrer sozialen Wechselwirkung wesentlich zum Erfolg beiträgt (Hünnekens / Kiphard 1966, 12). Die Übungsbehandlung fokussierte auf angeleitete Bewegungseinheiten und setzte voraus, dass jede Übungsstunde genauestens und lückenlos vorbereitet sein sollte. Zugleich betonte Kiphard die Notwendigkeit der Partizipation der Kinder: »Das widerspricht nicht unserer Forderung, entgegen dem ursprünglichen Plan immer wieder Anregungen der Kinder nachzugehen, denn die Kinder wollen und sollen mitdenken, ausprobieren und erfinden! « (Hünnekens / Kiphard 1966, 13). Ein Miteinander kann nur gelingen, wenn die PsychomotorikerIn »auf Anregungen und Erfindungen des Kindes in der Förderung eingeht« (Schäfer 2011, 61). Die Auseinandersetzung mit uns und unserer Bewegungsbiographie öffnet den Weg zu den Kindern. [ 114 ] 3 | 2023 Forum Psychomotorik Informationstage konnten allerdings das wachsende Interesse an dem neuen Konzept nicht befriedigen. Die Verbreitung der psychomotorischen Idee durch Fortbildungen Bereits 1968 fand der erste Wochenlehrgang mit dem Titel ›Psychomotorische Übungsbehandlung-- elementare Sinnes- und Bewegungsschulung‹ statt, der sich inhaltlich in drei Schwerpunkte gliederte (Schäfer 1968, 1): ■ Selbsterfahrung der Teilnehmenden in den Bereichen Sinnes-, Raum-, Material-, Körper- und Bewegungserfahrungen, Einführung in Rhythmik und kleine Tänze, Darstellerisches Gestalten. ■ Theorie zu den Themen: Zielsetzung in der sonderpädagogischen Leibeserziehung, normale und gestörte Bewegungsentwicklung, Koordinationsschwächen und -störungen, Verhaltensstörungen sowie didaktisch-methodische Unterrichtshilfen, die anhand von Filmvorführungen, Vorträgen und Diskussionen erarbeitet wurden. ■ Demonstrationsstunden mit Kindern, die in der anschließenden Stundenkritik besprochen wurden, um mit der Art und Weise (Übungsschwerpunkt, Übungsauswahl, Stundenziel) des Unterrichts vertraut zu werden. Die sehr stark nachgefragten Fortbildungen wurden inhaltlich weiterentwickelt und um Themen wie motorisches Lernen, Zusammenhänge von Motorik und Psyche, Intellekt und Konstitution, Einsatz psychomotorischer Übungsmaterialien, Übungsleiterverhalten im Umgang mit Kindern ergänzt. Auch die Praxisanteile wurden neu geordnet und erweitert, um sie besser vermitteln zu können (Schäfer 1989, 25 f ). Besondere Bedeutung wurde dem engen Bezug zwischen Theorie und Praxis, der tragenden Rolle der PsychomotorikerIn und der Selbsterfahrung mit den Übungen zugeschrieben, »um ihre Wirkungen, Besonderheiten, ihre Möglichkeiten und Grenzen am eigenen Leibe zu erfahren. Erst dann wird der Übungsleiter in der Lage sein, die richtige, dem individuellen Leistungsvermögen der Kinder angepaßte Übungsauswahl zu treffen« (Schäfer 1968, 2). Neben der ausgeprägten Übungsorientierung kamen aber ebenso vielfältige Ausdrucks- und Darstellungsformen zum Einsatz und in zunehmendem Maße wurde dem »Erfinden eine große Bedeutung für die Psychomotorik beigemessen, so daß es als ›methodisches Prinzip‹ für alle Übungsbereiche galt« (Schäfer 1989, 26). Kiphard selbst formulierte die Entwicklung vom reinen Üben zum Erfinden / Explorieren in dem Film ›Herr Professor Clown‹ (Senn / Wachter-Schmidt 2001) wie folgt: »Früher waren die Angebote, die wir für die Studierenden gemacht haben, viel strukturierter. Wir haben Körperschemaübungen angeboten, Zielwerfen, Balanceübungen, heute ist es mehr ein ganzheitlicher, übergreifender Ansatz, d. h. wir bieten motorische Situationen an, mit verschiedenen Materialien, die eben eine Bewegungslandschaft bilden, in der dann die Studierenden tätig werden im Versuch und Irrtum, also Problemlöseverhalten und Kreativität zeigen.« Dieses grundlegende Konzept bildete die Basis für die weitere Professionalisierung im Bereich der Psychomotorik und führte 1976 zur Gründung des Aktionskreises Psychomotorik e. V. und zur Etablierung der Fortbildungsreihe Zusatzqualifikation Motopädagogik (heute: Berufsqualifikation Psychomotorik), 1977 zu der einjährigen fachschulischen Ausbildung zur MotopädIn sowie seit 1983 zum zweijährigen Diplom-Studiengang Motologie (seit 2005 als Masterstudiengang). Theoretische Analyse Es wurde deutlich, dass die in den 1960er Jahren begonnenen Aktivitäten zur Vermittlung psychomotorischer Inhalte von Beginn an eine Auseinandersetzung mit methodisch-didaktischen Fragestellungen und mit der Gestaltung von Lehr-Lernprozessen erforderten. Aus heutiger Perspektive bestand das übergeordnete Ziel (neben der Verbreitung der psychomotorischen Idee) in der Organisation von Professionalisie- [ 115 ] Krus • Das »schweigende« Wissen in der Psychomotorik 3 | 2023 [ 115 ] Krus, Jessel • Das »schweigende« Wissen in der Psychomotorik 3 | 2023 rungsprozessen-- auch wenn dies nicht explizit so benannt wurde. In diesem Abschnitt werden nun Berührungspunkte zu aktuellen Professionalisierungsdiskursen herausgearbeitet. Professionalität und Professionalisierung Die Diskurse zur Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns sind durch zahlreiche unterschiedliche professionstheoretische Ansätze und damit verbundene Verständnisse von Professionalität gekennzeichnet (Görtler et al. 2023, 10 f; Helsper 2021, 60 ff ). Da diese hier nicht abbildbar sind, stützen wir unsere Analyse v. a. auf die Position von Werner Helsper, der die Diskussion in der deutschen Erziehungswissenschaft maßgeblich geprägt hat. Professionalität ist nach Helsper (2021) dann gegeben, wenn Professionelle »über verschiedene Wissensformen, insbesondere wissenschaftlich gesichertes und feldspezifisches Wissen, erfahrungsgesättigte Praxen und Handlungsmuster, (selbst)reflexive Fähigkeiten, soziale Kompetenzen und Routinen der Interaktions- und Beziehungsgestaltung, verstehende Kompetenzen der Sinnerschließung des Anderen und des Fallverstehens […] verfügen, die sie in konkreten sozialen professionellen Situationen interaktiv zur Geltung zu bringen vermögen« (Helsper 2021, 56). Dieses professionelle Handeln basiert nicht auf kausalen Rezepten, sondern ist aufgrund seiner Komplexität sowie der individuellen Sinnkonstruktionen der AkteurInnen äußerst fragil und damit stör- und fehleranfällig (Helsper 2021, 56). Einige der genannten Kriterien wurden bereits in den 1960er Jahren in der Konzeption der ersten Wochenlehrgänge zur ›Psychomotorischen Übungsbehandlung‹ explizit berücksichtigt, etwa verschiedene Wissensformen (Theoriewissen, Erfahrungswissen), erfahrungsgesättigte Praxen (Selbsterfahrung), soziale Kompetenzen und Routinen der Interaktions- und Beziehungsgestaltung (Rolle der PsychomotorikerInnen, Übungsleiterverhalten) und das interaktive Zur- Geltung-bringen in konkreten professionellen Situationen (angepasste Übungsauswahl). Andere zentrale Kriterien wie die Fähigkeit zur reflexiven Leiblichkeit und Kompetenzen des Fallverstehens scheinen hingegen weniger bzw. allenfalls implizit (verstehende Kompetenzen der Sinnerschließung des Anderen) berücksichtigt worden zu sein. Der Begriff der Professionalisierung betont die Prozessperspektive der Professionalität, wobei zwei Aspekte zu unterscheiden sind, die individuelle und die kollektive Professionalisierung (Helsper 2021, 56 f ). Während sich der zweite Aspekt auf die Institutionalisierung von beruflichen Bildungsprozessen sowie auf die gesellschaftliche Sicherung und Etablierung organisatorischer Rahmenbedingungen bezieht (Helsper 2021, 57), bezeichnet »Professionalisierung als individueller Bildungsprozess […] die (berufs-)biographische Herausbildung von Wissensbeständen, Orientierungen, Motiven und Praxen als individuelle Voraussetzung für die Ermöglichung von Professionalität« (ebd., 57). Die Analyse zeigt, dass die individuelle Professionalisierung bei der Konzeption der ersten Fortbildungen zur ›Psychomotorischen Übungsbehandlung‹ im Zentrum stand (Schäfer 1989). Sie zeigt aber auch, dass die kollektive Professionalisierung bereits Ende der 1960er Jahre und verstärkt in den 1970er und 80er Jahren eine bedeutende Rolle spielte (Gründung des Aktionskreises Psychomotorik e. V., Gründung von Motopädie-Fachschulen, Etablierung des Studiengangs Motologie). Aktuell hat der institutionelle Aspekt der Professionalisierung u. a. im Rahmen von Inhouse-Fortbildungen und Zertifizierungen zur Psychomotorischen Kita einen hohen Stellenwert, sowohl für die Deutsche Akademie-- Aktionskreis Psychomotorik e. V. als auch für andere psychomotorische Fortbildungseinrichtungen, etwa im Förderverein Psychomotorik e. V. Bonn. Folgt man Faulstich (2013, 213), so steht beim menschlichen Lernen nicht in erster Linie die Verwertbarkeit von Lernprozessen bzw. -ergebnissen im Vordergrund, sondern die Entfaltung der Persönlichkeit, die Entwicklung von Identität Professionalisierung als individueller Bildungsprozess [ 116 ] 3 | 2023 Forum Psychomotorik sowie das Aushandeln von Gestaltungsmöglichkeiten bilden die Kernelemente menschlichen Lernens. Leibphänomenologisch betrachtet kann man Lernen als dialogischen, zwischenleiblichen Prozess der Sinnbildung verstehen (Waldenfels 2000). Für eine humane Bildung heißt das, den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen: »Die menschliche Praxis verlangt nach einer Kohärenz emotiver und kognitiver, ästhetischer und ethischer Erfahrungen und Einstellungen« (Nida-Rümelin 2013, 230). Die Fortbildungen zur Psychomotorischen Übungsbehandlung fokussierten zwar wie gezeigt in erster Linie die Verwertbarkeit von Lernprozessen bzw. -ergebnissen. Es wurde jedoch auch deutlich, dass der Person und Persönlichkeit der PsychomotorikerInnen eine elementare Rolle zugewiesen wurde und dass demnach Selbsterfahrung sowie ganzheitliche, (zwischen-)leibliche Bildungsprozesse bereits sehr früh im Vordergrund standen (Schäfer 1968 / 1969). Auch wenn die Begrifflichkeiten in den 1960er und 70er Jahren andere waren, so zeigt die Analyse doch, dass nicht nur in der psychomotorischen Praxis, sondern auch in der Vermittlung psychomotorischer Inhalte implizite Menschenbildannahmen und Grundüberzeugungen wirksam waren, die mit aktuellen lern- und bildungstheoretischen Positionen weitgehend übereinstimmen. Professionelles Wissen und Können Wir gehen in diesem Beitrag mit Helsper (2021) davon aus, dass es eine Differenz zwischen Wissenschaftswissen und Handlungswissen bzw. Können gibt. Ziel ist nicht die Anwendung oder Übersetzung des wissenschaftlichen Wissens in Praxiszusammenhänge, sondern »die Relationierung und Vermittlung von zwei unterschiedlichen Wissenstypen« (Helsper 2021, 137 f ). Wissenschaftliches Wissen stellt Begründungs- und Reflexionswissen bereit, während das professionelle Handeln »blitzschnelle Entscheidungsroutinen und eingeschliffene Handlungsmuster, die spontan abrufbar sind« (Helsper 2021, 137), erfordert. Professionelles Können basiert also auf reflektiertem Erfahrungswissen, das in der konkreten Praxis erworben wurde. Entscheidend ist, dass diesem Können »ein implizites Wissen innewohnt, das nicht einfach zu versprachlichen ist und das professionell Handelnde zum Teil selbst nicht kennen« (Helsper 2021, 137). Neuweg (2020, 25) geht davon aus, dass sich Professionelle beim impliziten Wissen während des Handelns keine Selbstinstruktionen geben, sondern »intuitiv« handeln, d. h. die mentalen Prozesse werden nicht bzw. nicht vollständig bewusst. Der Einsatz dieses Könnens ist abhängig vom Grad der »Kompetenz-Anforderungs-Passung« (Neuweg 2020, 26). Wird diese Passung durch unvorhergesehene Herausforderungen oder Irritationen gestört, dann wird das quasireflexive Handeln reflexiv, im Sinne von »reflection-in-action« (Schön 1983) auf der Basis inkorporierten Wissens. Im Umgang mit Praxissituationen können Professionelle demnach nicht immer auf Handlungsroutinen zurückgreifen, sondern sind auf (selbst)reflexives und biographisches Wissen angewiesen (Helsper 2021, 138). Sie müssen also in der Lage sein, sich in eine Beobachtungs- und Reflexionsperspektive, auch gegenüber den eigenen impliziten Orientierungen, zu begeben. Können lernen findet folglich in einem Spannungsfeld von impliziten und expliziten Prozessen statt. Die hier genannten Aspekte scheinen in den ursprünglichen Vermittlungsmodellen und -ideen der Psychomotorik kaum bzw. lediglich implizit berücksichtigt worden zu sein. Insbesondere die Relationierung zweier unterschiedlicher Wissenstypen und die Bedeutung von Erfahrungswissen, das in der konkreten Praxis (und nicht ausschließlich in der Selbsterfahrung bzw. über die Beobachtung und Analyse von Demonstrationsstunden (Schäfer 1968)) erworben wurde, spielten eine untergeordnete Rolle. Lernen als dialogischer, zwischenleiblicher Prozess der Sinnbildung [ 117 ] Krus • Das »schweigende« Wissen in der Psychomotorik 3 | 2023 [ 117 ] Krus, Jessel • Das »schweigende« Wissen in der Psychomotorik 3 | 2023 Fazit und Ausblick Es wurde deutlich, dass Professionalisierungsprozesse grundsätzlich leibgebunden sind, und dass es eine Lücke gibt »zwischen der semantisch-symbolischen und der praktischen Bewältigung von Herausforderungen im pädagogischen Feld« (Kraus 2017, 833). Wir gehen davon aus, dass implizites Wissen zwar ein bedeutsamer Aspekt professionellen Wissens ist, jedoch keinen abgeschlossenen Wissenskorpus darstellt (Neuweg 2020, 346). Ziel von Lehre ist es vielmehr zu vermitteln, wie an neuen Fällen weitergelernt werden kann. Es geht gerade darum, »nicht starr regelgeleitet zu handeln, sondern sich auf die Besonderheit der jeweiligen Situation einzulassen« (Neuweg 2020, 346). Dies scheint wie gezeigt bereits den ersten VertreterInnen der Psychomotorik bewusst gewesen zu sein. Die Verwissenschaftlichung der Psychomotorik (u. a. Seewald 1991) führte allerdings zu einer zunehmenden Weiterentwicklung methodisch-didaktischen Wissens und Könnens sowie zu einer Auseinandersetzung mit bildungs- und professionalisierungstheoretischen Positionen (u. a. Jessel 2020). Unsere Analyse hat gezeigt, dass diese Entwicklungen auf ein umfangreiches Fundament expliziten Wissens, vor allem jedoch impliziten Wissens zur Konzipierung von Aus- und Fortbildungen im Kontext der Psychomotorik aufbauen konnten, das bereits in den 1960er und 70er Jahren publiziert und praxiswirksam wurde. Aktuelle Vorschläge zur Gestaltung und Begründung von Professionalisierungsprozessen zeigen jedoch, dass das Verhältnis von professionellem Wissen und Können sowie die Verschränkungen von implizitem und explizitem Wissen und Lernen ausgesprochen vielschichtig sind (u. a. Kraus et al. 2017; Neuweg 2020) und in den Gründungsjahren der Psychomotorik nicht ausdrücklich thematisiert und in die Praxis transferiert wurden. Wesentliche Erkenntnisse werden aktuell u. a. in der Curriculumsentwicklung innerhalb der Deutschen Akademie- - Aktionskreis Psychomotorik e. V. und in der Studienprogrammentwicklung der Hochschule Niederrhein und der Hochschule Darmstadt berücksichtigt. Die Zusammenhänge, die Implementierung und Zukunftsperspektiven werden in einem Folgebeitrag dargestellt. Literatur Faulstich, P. (2013): Menschliches Lernen. Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie. transcript, Bielefeld Görtler, M., Taube, G., Thielemann, N. (Hrsg.) (2023): Soziale Arbeit und Professionalität. Reflexionen zwischen Theorie, Lehre und Praxis. Budrich, Opladen / Berlin / Toronto Helsper, W. (2021): Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns: Eine Einführung. Budrich, Opladen / Toronto Hünnekens, H., Kiphard, E. J. (1966): Bewegung heilt: psychomotorische Übungsbehandlung bei entwicklungsrückständigen Kindern. 3. erw. Aufl. Flottmann, Gütersloh Jessel, H. (2020): Lern- und Bildungsprozesse im Kontext psychomotorischer Weiterbildung- - die Bedeutung impliziten Wissens und Lernens für die Entwicklung von Könnerschaft. motorik 43 (4), 169-175 Kraus, A. (2017): Können lernen. In: Kraus, A., Budde, J., Hietzge, M., Wulf, C. (Hrsg.): Handbuch Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen. Beltz Juventa, Weinheim / Basel, 826- 838 Kraus, A., Budde, J., Hietzge, M., Wulf, C. (Hrsg.) (2017): Handbuch Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen. Beltz Juventa, Weinheim / Basel Neuweg, G. H. (2020): Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie Michael Polanyis. 4. Aufl. Waxmann, Münster Nida-Rümelin, J. (2013): Philosophie einer humanen Bildung. edition Körber-Stiftung, Hamburg Schäfer, I. (2011): Von den Wurzeln zur Entwicklung, Weiterentwicklung und zu aktuellen Perspektiven der Psychomotorik-- Kiphard und sein Werk. motorik 34 (2), 58-68 Schäfer, I. (1993): Zur Geschichte der Psychomotorischen Förderung und Therapie. Unveröffentlichtes Manuskript Schäfer I. (1989): Grundbausteine der Psychomotorischen Übungsbehandlung. Entwicklungsabschnitt 1955 bis 1975. In: Irmischer, T., Fischer, K. (Hrsg.): Psychomotorik in der Entwicklung. Hofmann, Schorndorf, 19-31 Schäfer, I. (1969): Lehrgangsbericht »Psychomotorische Übungsbehandlung bei geistig behinderten Kindern und Jugendlichen« vom 09.06. bis 13.06.1969 in Marburg. Unveröffentlichtes Manuskript Schäfer, I. (1968): Lehrgangsbericht »Psychomotorische Übungsbehandlung bei geistig behin- [ 118 ] 3 | 2023 Forum Psychomotorik derten Kindern und Jugendlichen« vom 09.09. bis 14.09.1968 in Wiesbaden. Unveröffentlichtes Manuskript Schön, D. A. (1983): The Reflective Practitioner. How Professionals think in Action. Basic Books, New York Seewald, J. (1991): Von der Psychomotorik zur Motologie. Über den Prozess der Verwissenschaftlichung einer Meisterlehre. motorik 14 (1), 3-16 Senn, R., Wachter-Schmid, B. (2001): Herr Professor Clown. Ernst J. Kiphard-- Vater der deutschen Psychomotorik. AV Medium. Borgmann, Dortmund Waldenfels, B. (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Suhrkamp, Frankfurt Die AutorInnen Prof.in Dr. Astrid Krus Dipl.-Motologin, Professorin für das Lehrgebiet Kindheitspädagogik an der Hochschule Niederrhein (HSNR), Leiterin des Kompetenzzentrums Kindheitspädagogik in Bewegung (HSNR), Vorstandsmitglied der Deutschen Akademie-- Aktionskreis Psychomotorik e. V. Prof. Dr. phil. Holger Jessel Dipl.-Motologe, Professor für Psychomotorik in sozialpädagogischen Handlungsfeldern an der Hochschule Darmstadt, 1. Vorsitzender der Deutschen Akademie-- Aktionskreis Psychomotorik e. V. Anschrift Prof.in Dr. Astrid Krus Fachbereich Sozialwesen Hochschule Niederrhein Richard-Wagner-Str. 101 41065 Mönchengladbach astrid.krus@hs-niederrhein.de Prof. Dr. phil. Holger Jessel Hochschule Darmstadt Fachbereich Soziale Arbeit Adelungstr. 51 64283 Darmstadt holger.jessel@h-da.de C E R TI F ICAT E P R O G RAM IN L A B A N / B A R T E N I E F F M O V E M E N T S T U D I E S Director: Antja Kennedy Phone: +49 30 52282446 info@eurolab-programs.com www.eurolab-programs.com Applic. De Summer Intensive in English in Berlin adline: Feb 24, 2023 .
