motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2023.art24d
71
2023
463
Forum Psychomotorik: Stimmungen weben, Jonny erleben, Psychomotorik verstehen
71
2023
Stephan Kuntz
E. J. Kiphards Ausstrahlung in psychomotorischen Stimmungen und gestaltenden Atmosphären berührt und bildet gleichzeitig psychomotorische Perspektiven für die Zukunft, zum Beispiel zu einer Öffnung zur empirisch begründeten Atmosphärenforschung (Jung 2020) und der Resonanzpädagogik (Rosa / Endres 2016). Kiphards Lebenswerk wird in die Zukunft projiziert und trifft auf eine von ihm selbst ausgelöste Erfolgsgeschichte der Psychomotorik. Der Artikel geht auf Spurensuche und packt eine psychomotorische Schatzkiste Kiphards 2023 zum 100. Geburtstag aus. Überraschendes, Erstaunendes, Unerwartetes wird zum Regelfall der Psychomotorik. Sein Werk ist höchst lebendig und aktuell.
7_046_2023_3_0004
Zusammenfassung / Abstract E. J. Kiphards Ausstrahlung in psychomotorischen Stimmungen und gestaltenden Atmosphären berührt und bildet gleichzeitig psychomotorische Perspektiven für die Zukunft, zum Beispiel zu einer Öffnung zur empirisch begründeten Atmosphärenforschung (Jung 2020) und der Resonanzpädagogik (Rosa / Endres 2016). Kiphards Lebenswerk wird in die Zukunft projiziert und trifft auf eine von ihm selbst ausgelöste Erfolgsgeschichte der Psychomotorik. Der Artikel geht auf Spurensuche und packt eine psychomotorische Schatzkiste Kiphards 2023 zum 100. Geburtstag aus. Überraschendes, Erstaunendes, Unerwartetes wird zum Regelfall der Psychomotorik. Sein Werk ist höchst lebendig und aktuell. Schlüsselbegriffe: Geschichte der Psychomotorik, E. J. Kiphards 100. Geburtstag, Atmosphärenforschung, Resonanzpädagogik, Safe Place Weaving atmospheres, experiencing Jonny, understanding psychomotricity E. J. Kiphard’s charisma in psychomotor moods and formative atmospheres touches and at the same time forms psychomotor perspectives for the future, for example to an opening to empirically based atmospheric research (Jung 2020) and resonance pedagogy (Rosa / Endres 2016). Kiphard’s life’s work is projected into the future and encounters a success story of psychomotricity triggered by himself. The article goes in search of traces and unpacks a psychomotor treasure chest for Kiphard’s 2023 100th birthday. The surprising, astonishing, unexpected becomes the regular case of psychomotricity. His work is highly alive and current. Keywords: history of psychomotricity, E. J. Kiphard’s 100th birthday, atmospheric research, resonance pedagogy, safe place [ 119 ] motorik, 46. Jg., 119-126, DOI 10.2378 / mot2023.art24d © Ernst Reinhardt Verlag 3 | 2023 [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Stimmungen weben, Jonny erleben, Psychomotorik verstehen Stephan Kuntz Abb. 1: E. J. Kiphard in erinnerter und berührender Bewegung: Mit Freude und Zauber ein Leben lang unterwegs, alljährliche Bad Orber Dezembertagung Psychomotorik, 1998. Foto: Stephan Kuntz Einleitung und Perspektiven Anfängliche Essenz von Psychomotorik. Was könnte das sein? Vielleicht ganz im Sinne E.- Jonny Kiphards eine praxisbetonte Vielfalt im stets staunenden Spiel. Intuition, Humor, Mit- und Feingefühl und eine selbstverständliche Offenheit für Unvorhergesehenes und unsichtbares, emotionales Inneres, die Jonny auszeichneten, beeinflussen heute eine mehr und mehr selbstvergewissernde, reflektierte Praxis (Jessel 2022). Dazu kommen fulminante, humorgeladene und circensische Atmosphären (Kiphard 1970) als kunstvoll und feinfühlig gesetzter Rah- [ 120 ] 3 | 2023 Forum Psychomotorik men für eine mögliche Entfaltung psychomotorischer Stimmungen. Solche Stimmungen und Atmosphären sind als »Klangkörper des Lernens« bereits in Forschungsprojekten identifiziert und beschrieben worden: in Studien zur Gestaltung von Atmosphären an der Universität Innsbruck (Rauth 2012), in unterrichtswissenschaftlichen Projekten der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Frankfurt am Main (Jung 2020, 62) 1 und an der Universität Jena in Form von »knisternder Resonanz« und »Selbstwirksamkeitserwartung« (Rosa / Endres 2016, 14). Stimmungen und Atmosphären bedingen gelingende Lehr- und Lernkontexte (ebd., 108). Jonnys frühe Idee einer psychomotorisch zu initiierenden Selbsterziehung durch Selbstwirksamkeitserfahrungen fällt hier auf einen fruchtbaren Boden. Als Grenzgänger- - schon 1955- - zwischen Disziplinen wie Rhythmik, Musik- (Orffinstrumentarium), Reform- und Heilpädagogik, Sportwissenschaften, Psychiatrie, Psychologie etc. würde sich Jonny 2023 zum 100. Geburtstag sicherlich über solche Perspektivenvielfalt sowie anschlussfähige Forschungsideen (Göhle et al. 2022, 135) freuen. Psychomotorik gleicht dabei einer Reise mit einer zukünftigen Erinnerung an sich selbst im Gepäck. Zuversicht auf Wirken, eine weitere, mögliche Essenz heutiger Psychomotorik, gestaltet Zukunft und bildet im »erinnernden Vorausahnen zukünftiger Handlungen« (Kuntz 2009, 8) in einem Safe Place eine sprachlich-emotionale Brücke zwischen Innen und Außen. Arthur Rubinstein, Pianist von Weltrang, beschrieb diese »dynamische Resonanz« (Rosa / Endres 2016) von musikalischer Seite: »Das Innen, meint man, endet an den Fingerkuppen, bis dahin nur 1 Der Titel dieses Beitrags knüpft an den Titel des Buches von Jung, J. (2020): Stimmungen weben. Eine unterrichtswissenschaftliche Studie zur Gestaltung von Atmosphären. Springer, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-26582-3-an. Psychomotorik gleicht dabei einer Reise mit einer zukünftigen Erinnerung an sich selbst im Gepäck. reicht seine Möglichkeit, sein Wirken auf das Außen zu steuern. Die Tasten, die sie anschlagen, den Ton, den sie erklingen lassen, gehören zum Außen (…). Doch trotz dieser äußeren Wirklichkeit bleibt der Klang auch ein Innen: Der Spieler hat ihn erdacht, hat ihn angeschlagen, gestaltet und so ist er ein veräußerlichtes Innen« (Jung 2020, 50). Momente einer abwartenden, innehaltenden Ruhe und Stille im »Safe Place« (Kuntz 2009, 9) ermöglichen dem Kind, Sprache als einen vom Herzschlag getragenen, kommunikativen Tanz (Vahle 2014) ganzheitlich zu erleben und als »veräußerlichtes Innen« in psychomotorische Stimmungen zu übertragen. Sprache und Bewegung durchdringen sich. Kinder fühlen Sprache im erinnernden Vorausahnen ihrer lustvollen Handlungswirkung sinnlich »wie Schlagsahne, die vom Gesicht heruntertropft und überall auf der Haut ein sachtes Kribbeln verursacht« (Tomatis 1957, 113, zit n. Vahle 2010, 9). E. J. Kiphard (1970, 23) kennzeichnet dafür psychomotorische Haltungen als »tolerante, alles verstehende Grundhaltung, geduldiges Warten können, sich selbst im Hintergrund halten, und stattdessen das Kind zu eigenen Ideen, eigenem Handeln ermuntern«. Ganzheitliche Sichtweisen verdichten sich in einer leiblichen und geistigen Beweglichkeit, die Vahle (2010, 8) als »Wege zur Motorik der Verbundenheit« entwickelt. Die »Herzkraft der Sprache« (Vahle 2013, 13), die eng mit dem Singen sowie der Selbstregulation der Herzfrequenz (Göhle et al. 2022, 135) zusammenhängt, verknüpft ganz im Sinne des »Grenzgängers« E.- Jonny Kiphard unterschiedliche disziplinäre Perspektiven. Jonny schenkte uns dazu reichlich Erinnerungen, die in die Zukunft hineinwirken. Diese gestalten sich zugleich bewegt, clownesk-brachial im Taumeln, Stürzen, Fallen in der Rolle des »dummen August« (Kiphard 1970) und stets fein nuanciert und weit über das alleinige Faszinosum des Circensischen hinausgehend: mit Herzblut gesättigtes Staunen, bewegte Würde, Räume randvoll mit Humor und Abenteuer, Wachsen am Unerwarteten, Verblüffendes selbst schaffend, Können können, leidenschaftlich bewegt sein-…, aber alles der Reihe nach. [ 121 ] Kuntz • Stimmungen weben, Jonny erleben, Psychomotorik verstehen 3 | 2023 [ 121 ] Kuntz • Stimmungen weben, Jonny erleben, Psychomotorik verstehen 3 | 2023 Emeritierung E. J. Kiphards 1989 Gudrun Doll-Tepper, Weggefährtin und Professorin für Integrationspädagogik an der Universität Berlin, titelte 1989 zur Emeritierung Kiphards in der Festschrift der Universität Frankfurt: »Jonny ist ein wahrhaft Internationaler. Er verkörpert und vermittelt- - ohne Sprachbarrieren- - den Menschen durch Bewegung das Vielfältige und Kreative im Zentrum des Lebens. Frühe Etappen des Weltgereisten sind die University of Wisconsin / Madison und die California State University / Los Angeles. Lehrtätigkeit führte ihn in viele Länder Europas und bis nach Argentinien, Brasilien und Japan. (…) Sein Werk ist weltweit bekannt. Zirkus und Clownerie sind weitere Seiten seines internationalen Wirkens. Kiphards Körpersprache: ein non-verbales Esperanto« (Doll-Tepper 1989, 2). Die in der Psychomotorik, in einem solchen Spiel sich entfaltende Handlungsvariabilität als Leitbegriff internationaler Kindheitsforschung (Fischer 2019, 127) ist Jonnys Erfolgsgeschichte seit 1955 in einem zukünftigen Erinnern (Kuntz 2009) wie auf den Leib geschrieben. Gelebte Erkenntnisse finden sich in Jonnys Biografie: sechs Jahre lang Trapez-Akrobat und Clown u. a. im Zirkus Althoff, Athlet, Autor, Charismatiker, Zauberer, Kindernarr, Therapeut, Professor für Prävention und Rehabilitation an der Universität Frankfurt, humorbegeistert, weltweit gefragt auf Vortragsreisen. Blicke der 2010 verstorbene Gründer der deutschen Psychomotorik zu seinem 100. Geburtstag 2023 auf sein Fachgebiet, so staune er, sein Werk aktuell und lebendig. Grund genug, um zurück und nach vorne zu schauen. Psychomotorische Stimmungen und Atmosphären Entwickelt hat sich, ganz im Sinne E. J. Kiphards, eine breit gefächerte, praxisbetonte Vielfalt einer Psychomotorik, die handlungsvariabel über die ganze Lebensspanne ausgelegt ist. Vielgestaltige, theoretische Blickwinkel und praktische Perspektiven in Weiter-, Fort- und Ausbildungen, Studiengängen und Lehrstühlen kreisen um die Erfolgsstory Psychomotorik. Die Lehrbarkeit Kiphards Meisterlehre (Seewald 1991) bleibt in steter Annäherung geheimnisvoll und spannend zugleich. Empirische Forschungen zur Gestaltung von Atmosphären (Böhme 2014), Resonanzpädagogik (Rosa / Endres 2016) und Konzeptbeschreibungen zum Aufbau innerer Dialogräume im Safe Place (Katz-Bernstein 1996, Kuntz 2009) fließen als »reflektierte Leiblichkeit« (Jessel 2022) in die psychomotorische Lehre ein. Erstmaligkeit und hohe Komplexität gelten als »Normalfall der Psychomotorik« (Jessel 2022, 9). Kiphard (2001, 10) sah dies 1955, frisch angestellt an der Klinik für Jugendpsychiatrie in Gütersloh, so: »Das war natürlich etwas, was für mich neu war. Kinder, die also zu viel Dampf unterm Hintern hatten und keine Bremse finden konnten bei sich selber. Das war schon wirklich ein hartes Stück Arbeit, so dass ich abends im Bett gedacht habe: ›Mensch was hast du dir da aufgehalst? ‹«. Aus heutiger Sicht, beinahe 70 Jahre später, ging es mit der Psychomotorik steil bergauf. Mit der Zeit bildete leidenschaftliches Spiel in knisternden Atmosphären (Böhme 2014) einen von Humor und Freude gewebten roten Faden (Reppenhorst 2016, 75), der im fachlichen Labyrinth der Psychomotorik direkt zu Jonny führte. Sein Spiel bringt er auf den poetisch-psychomotorischen Punkt: Abb. 2: E. J. Kiphard und Stephan Kuntz: alljährliche Bad Orber Dezembertagung Psychomotorik 2001. Foto: Gundula Höhn-Kuntz [ 122 ] 3 | 2023 Forum Psychomotorik Jonnys Meisterschaft wanderte in Stimmungen und Atmosphären direkt in die Herzen, Hände, Füße und Augen der Kinder. Wie machte er das? Als stolpernder Clown, als still lächelnder Beobachter, im Perspektivenwechsel stets Unerwartbares, Verblüffendes, leicht Irritierendes hervorzaubernd? Sich selbst überraschend, psychomotorische Räume öffnend, Stimmungen webend? Auf der Spurensuche zur Erfolgsstory E. Jonny Kiphards blenden wir zurück. Spurensuche In kleinen, alltäglichen Szenen beginnt die Suche nach möglichen Spuren des Erfolges an der Eingangstür eines Wiener Hotels. Jonny und der Autor sind in gemeinsamen Lehraufträgen der Universität Wien psychomotorisch mal wieder unterwegs. Spontan bietet sich E. J. Kiphard dem Karten schreibenden Autor als mobiler, gebückter Schreibtisch an und verkündet allen, situativ überraschend, dass sein Freund eilends und sofort seine Karten fertig schreiben müsse und der gesamte Eingang deshalb gesperrt sei. Leise zweifelnd schrieb der Autor weiter, bis sich der Stau in einem gemeinsamen Lachen und Lächeln auflöste. Der Phase der Verunsicherung folgten herzliche Gespräche mit den Hotelgästen. Im Perspektivenwechsel, in der Wahrnehmung der Erstmaligkeit und einem Irritation-lösenden Staunen sind Spuren des Erfolges enthalten. Immer wieder gelingt es Jonny dabei, in einem humorvollen Perspektivenwechsel die Welt im berührenden Staunen mit neuen Blicken zu bereichern-- hochaktuell. Ingrid Schäfer, Weggefährtin Jonnys, erkannte die atmosphärische Bedeutung dieser spielerischen Überraschungen bis in Kiphards Vortragsgestaltung hinein und formulierte dies so: »Immer zu kleinen Gags bereit kam Kiphard, (…) die Gäste im Handstand begrüßend, herein und begann seinen Vortrag im einarmigen Handstand auf dem Tisch« (Schäfer 2001, 16). Jonnys Irritationen steigerten meist im Abklingen die Aufmerksamkeit des Publikums. Friedhelm Schilling, Mitstreiter Kiphards und 1983 Begründer des allerersten Studienganges Motologie der Universität Marburg, bilanzierte: »Trotz dieser zunehmenden Professionalisierung blieb der Stil der ›alten Hasen‹ gleich: Spaß, Freude an der Sache, unkonventionelle Wege gehen, spielerisch, aber doch unbeugsam seine Ziele verfolgen. (…) Jonny Kiphard kann den Clown in sich auch heute nicht verleugnen. Er war und ist immer für eine Überraschung gut« (Schilling 2001, 25). Das grundlegend Spielerische, der innere Clown und das Überraschende, unerwartete Perspektiven wechselnde, Herausfordernde sowie der Sound einer stimmigen Idee führten die Psychomotorik Jonnys zum aktuellen und zukünftigen Erfolg. Durch seine multiplen Bezüge zu der Psychomotorik nahen Arbeitsweisen und Ansät- »Kommt Kinder, kommt herbei, füllt aus den Raum und fühlt euch frei, die beste Therapie ist die, die ihr nicht merkt. Wenn froh ihr werkt und wirkt und alles ausprobiert, darin verbirgt sich euer Drang, das alles wirklich selbst zu tun, ganz ohne Zwang und nicht zu ruhen bis ihr begeistert und mit neuer Kraft es schafft und euer eigenes Leben meistert« (Kiphard in Kuntz / Voglsinger 2004, 67). Abb. 3: Stephan Kuntz und E. J. Kiphard in Wien 1998. Foto: Gundula Höhn- Kuntz [ 123 ] Kuntz • Stimmungen weben, Jonny erleben, Psychomotorik verstehen 3 | 2023 [ 123 ] Kuntz • Stimmungen weben, Jonny erleben, Psychomotorik verstehen 3 | 2023 zen aus Rhythmik (Scheiblauer, Pfeffer), Orffinstrumentarium, Montessoris Sinnesförderung, Sensorischer Integration und vielen mehr, erreichte E.- Jonny Kiphard eine hohe Diskursfähigkeit und Anerkennung im internationalen Raum. Persönlich-fachliche Kontakte pflegte er mit Jean Ayres (amerikanische Kinderpsychologin), Therapeutin Marianne Frostig, Kinderärztin Dr. Inge Flehmig, Suzan Naville, Mitstreiter Prof. Dr. Schilling und dies stellt nur eine kleine Auswahl dar. Geschätzt wird in der Fachwelt seine offene, humorvolle, menschliche Haltung. Prof. Dr. Haase, Lehrstuhl Psychologie, Universität Frankfurt, charakterisiert 1989 zur Emeritierung Jonnys erfolgreiche Lehre so: »Wissenschaftlich betrachtet ist E. J. Kiphard die dialektische Synthese von ›Ernst‹, wie er heißt, ›Jonny‹, wie er genannt wird. Das ist die Aufhebung von Verstand und Herz, Verantwortung und Spaß, Arbeit und Freude in einer Person, die zugleich forscht und zaubert. Der Vogel, scheint mir, hat Humor« (Haase 1989, 3). Der 80. Geburtstag E. J. Kiphards 2003 in Bad Orb Über 20 Jahre inspirierte Jonny als Referent und begeisterter Teilnehmer die alljährliche Dezembertagung Psychomotorik in Bad Orb. E. Jonny Kiphard immer wieder neu erlebend, bedeutete diese Tagung für viele, die eigene psychomotorische Haltung neu zu justieren, zu genießen und im entspannten Austausch besser zu verstehen. Wir alle gratulierten Jonny zum 80. Geburtstag 2003 und er schenkte uns einen seiner letzten Auftritte als Clown und Zauberer: »Aus dem nach Innen gerichteten Lächeln im Raum schöpfen wir Zukunft. Dir als psychomotorischem Innenwie Außenarchitekten, Handwerks- und Baumeister der Psychomotorik gratulieren wir zum 80. Geburtstag« (Kuntz / Voglsinger 2004, 11). Wir überreichten, frisch gedruckt als Vorabexemplar vom Verlag modernes lernen Dortmund, das Jubiläumsbuch: »Humor, Phantasie und Raum in Pädagogik und Therapie- - Zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Ernst J. Kiphard«. Das Lebenswerk Jonnys, das im Titel des Buches mitschwingt, inspirierte uns: »Ein Lächeln im Blick weitet durch den Humor den Raum zur Entwicklung von Phantasie und Vorstellungskraft. In seinem Lebenswerk öffnet Prof. Dr. Kiphard Entwicklungsräume: Psychomotorisch in seinen Rollen als Clown, Zauberer und Beziehungsstifter. Kern seiner Arbeit ist der im Humor getragene Abstand zu sich selbst. In diesem Zwischenraum entfaltet sich die psychomotorische Arbeit. Aktuelle Strömungen in der psychomotorischen Diskussion nehmen diese Grundideen Kiphards erneut auf und entwickeln sie weiter« (Kuntz / Voglsinger 2004, 231). Den Mythos Bad Orb umschreibt Jürgen Seewald als Spiel- und Experimentierraum: »Wer zum ersten Mal die Tagung in Bad Orb erlebt, der staunt. Es hat sich hier über die vielen Jahre hinweg eine Tagungskultur entwickelt, die gefangen nimmt und gleichzeitig entspannt. Was ist es, was so anspricht? Sicher sind wir alle in Zeiten beschleunigten Wandels für Orte dankbar, an denen Traditionen und Kontinuitäten erlebbar sind. Auch die Psychomotorik braucht solche Orte. (…) Ganz sicher tragen Stephan Kuntz und sein Team den größten Teil bei. Durch das klug gewählte Motto jedes Treffens, durch Poster und Aphorismen, die wie geistige Leckerli wirken, verbreitet sich ein Anregungs- und Verwöhnklima, vermischt mit schweizerischer Ge- Abb. 4: Buchgeschenk zum 80. Geburtstag von E. J. Kiphard. Foto: Stephan Kuntz [ 124 ] 3 | 2023 Forum Psychomotorik lassenheit. So hat ›Bad Orb‹ Qualitäten eines intermediären Raumes, einer Probier- und Spielwiese der Psychomotorik. (…) Ich wünsche mir, dass dieses Anregungs- und Verwöhnklima weiter gepflegt wird: Es macht ›Bad Orb‹ zum Synonym für eine psychomotorische Atmosphäre« (Seewald 2004, 195). Jonnys Ausstrahlung gestaltete so auch einen Teil der zukünftigen psychomotorischen Entwicklungen. »Stimmungen weben, Jonny erleben und Psychomotorik verstehen« war in seiner unverwechselbaren Dreieinheit in Bad Orb hautnah spür- und erlebbar. Jonny, ein Glücksfall für die Psychomotorik bis heute. Jonnys Schatzkiste Psychomotorik öffnet Zukunft Das Jahr 2023, der 100. Geburtstag von Jonny, lädt ein, seine psychomotorische Schatzkiste zu öffnen. Als Essenz enthalten steckt sicher leidenschaftliches Spiel darin: staunend, nichts erwartend, offen abwartend, auch eine Konzentration auf Stille erlebend. Innen wie Außen neu entdeckend, vom würdevollen Dialog und Beziehung getragen. Jonny akzentuiert- - vor beinahe 50 Jahren- - frisch und aktuell: »Je spontaner ein solches Spiel entsteht, je mehr die Kinder an Idee und Ausgestaltung teilhaben, desto begeisterter sind sie (…). Mit Feingefühl und Erfahrung kann man sie über Emotionen und Phantasie erreichen« (Kiphard 1970, 25). Da kann möglicherweise eine weitere, frühe psychomotorische Essenz Jonnys enthalten sein: Innen mit Außen verbindend im kindlichen Spiel. Fredrik Vahle erlebte Jonny mitten im Spiel mit Kindern und schrieb: »Als Germanist, Geisteswissenschaftler und Liedermacher faszinierte mich diese spielerisch-humorvolle Art, kindliche Beweglichkeit zu entwickeln und aktiv zu fördern. Der Körperbezug stand im Vordergrund, aber auf besondere Art. D. h., innere Entwicklungsprozesse wurden ebenfalls hervorgerufen und in Gang gesetzt. Es war etwas von Ganzheitlichkeit da, ohne dass das von Jonny ausführlich reklamiert worden wäre« (Vahle 2014, 16). Im bereits erwähnten »Warten können« stärkt Jonny den inneren Dialograum des Kindes ganz im Sinne Arthur Rubinsteins dynamischer Resonanz und ebenso im Sinne des Safe Place (Katz-Bernstein 1996, Kuntz 2009). Ein im Spiel entstehender Resonanzraum ermöglicht hierbei ein sogenanntes »Anverwandeln«, das heißt »ich mache mir eine Sache so zu eigen, dass sie mich verwandelt. Ich bin danach ein anderer« (Rosa / Endres 2016, 17). Jonnys psychomotorische Schatzkiste ist in der Leidenschaft des Spiels gefangen, voller »Anverwandlungen« und einem grundlegenden atmosphärischen Vermögen. Jung (2020, 131) meint damit »die Fähigkeit spürend zu handeln und damit Atmosphären wahrzunehmen und zu gestalten.« Die empirisch begründeten Ansätze der noch jungen Atmosphärenforschung an der Universität Innsbruck ab 2010 (Rauth 2012) sowie unterrichtswissenschaftliche Studien an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Frankfurt am Main (Jung 2020) lassen Atmosphären als Teil der Meisterlehre im Sinne Kiphards empirisch fassbar und auch gestaltbar werden. Der Aufbau eines inneren Dialograumes als Schnittstelle zwischen Psychomotorik und Safe-Place-Konzept steckt ebenfalls in Jonnys Schatzkiste. Ein »erinnerndes Vorausahnen zukünftiger Handlungen im Moment der Stille und äußeren Bewegungslosigkeit« (Kuntz 2009, 9) verbindet im Safe Place Innen und Außen, meist begleitet von einem sprachbildenden Lächeln unmittelbar nach oder noch Abb. 5: 80. Geburtstag 2003 von-E. J. Kiphard, rechts Stephan Kuntz, Bad Orber Psychomotorik Tagung. Foto: Gundula Höhn- Kuntz [ 125 ] Kuntz • Stimmungen weben, Jonny erleben, Psychomotorik verstehen 3 | 2023 [ 125 ] Kuntz • Stimmungen weben, Jonny erleben, Psychomotorik verstehen 3 | 2023 während einer erfolgreichen Handlung (Zollinger 1995). In Jonnys psychomotorischer Schatzkiste versammelt sich demnach ein wunderbares Forschungspotential: Knisternde Atmosphären, vibrierende Resonanzachsen und erinnerndes Vorausahnen in sicheren Räumen etc. füllen die Schatzkiste Jonnys zum 100. Geburtstag frisch auf. Vieles noch zu Erahnendes- - einmal angestoßen- - wird nach vorne blickend folgen. Die Psychomotorik E. Jonny Kiphards mit seiner sich stets erneuernden, frisch gefüllten Schatzkiste glänzt schon jetzt hell und weit in einem zukünftigen Staunen- - welch ein Reichtum an Ideen. Die Stimmungen und Atmosphären einer Clownerie werden ganz im Sinne Jonnys zu einer möglichen, weiteren Essenz einer sich dem Innen zuwendenden Psychomotorik. Henry Miller hat diesen Kern der Clownerie in einem gemeinsam mit Joan Miró publizierten Buch poetisch wie folgt formuliert: »Der Clown lehrt uns, wie wir über uns selbst lachen sollen. Und dieses unser Lachen wird aus Tränen geboren. Freude ist wie ein Strom: sie fließt ohne Unterlass. Das ist nach meinem Glauben die Botschaft, die der Clown uns zu überbringen versucht, dass wir teilhaben sollen am unaufhörlichen Fluss der endlosen Bewegtheit, dass wir nicht anhalten sollen, um nachzudenken, zu vergleichen, zu zergliedern, zu besitzen, sondern fließen immerfort, ohne Ende wie Musik« (Miller / Miró 1989, 77). Dieser Formulierung hätte sich wahrscheinlich auch Jonny Kiphard angeschlossen. Literatur Böhme, G. (2014): Atmosphäre. Suhrkamp, Berlin Doll-Tepper, G. (1989): Jonny ist ein wahrhaft Internationaler. In: Doll-Tepper, G.: Festschrift zur Emeritierung von Prof. Dr. E. J. Kiphard 1989 an der Universität Frankfurt am Main. Universitätsinterner Druck, Frankfurt, 2 Fischer, K. (2019): Einführung in die Psychomotorik. 4. Aufl. Ernst Reinhardt, München, https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838548029 Göhle, U. H., Schuller, J. C., Ferraro, S. (2022): Quantitative Gesundheitsparameter in der psychomotorischen Reflexion am Beispiel der Herzfrequenzvariabilität. motorik 45 (3), 135-141, https: / / doi. org/ 10.2378/ mot2022.art24d Haase, H. (1989): Jonny menschlich. In: Doll-Tepper, G.: Festschrift zur Emeritierung von Prof. Dr. E. J. Kiphard 1989 an der Universität Frankfurt am Main. Universitätsinterner Druck, Frankfurt, 3 Jessel, H. (Hrsg.) (2022): Lehren und Lernen in der Psychomotorik III. Werkstattberichte aus der Lehrqualifikation der Deutschen Akademie- - Aktionskreis Psychomotorik e. V. Verlag Aktionskreis Psychomotorik, Lemgo Jung, J. (2020): Stimmungen weben. Eine unterrichtswissenschaftliche Studie zur Gestaltung von Atmosphären. Springer, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-26582-3 Katz-Bernstein, N. (1996): Das Konzept des Safe Place. In: Metzmacher, B., Petzold, H. (Hrsg.): Praxis der integrativen Kindertherapie. Junfermann, Bonn, 11-143 Kiphard, E. J. (2001): Die Anfänge. In: Irmischer, T., Hammer, R.: Psychomotorik in Geschichten. Verlag Aktionskreis Literatur und Medien, Lemgo, 9-13 Kiphard, E. J. (1970): Leibesübungen als Therapie. Flöttmann, Gütersloh Kiphard, E. J. (1960): Bewegung heilt. Flöttmann, Gütersloh Kuntz, S. (2009): Der »Safe Place« in der Psychomotorik. Innere und äußere (Sprach-)Räume begegnen sich. motorik 32 (3), 3-13 Kuntz, S., Voglsinger, J. (Hrsg.) (2004): Humor, Phantasie und Raum in Pädagogik und Therapie. Zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Ernst J. Kiphard. verlag modernes lernen, Dortmund Miller, H., Miró, J. (1989): Das Lächeln am Fuße der Leiter. Rowohlt, Hamburg Rauth, A. (2012): Die besondere Atmosphäre. Ästhetische Feldforschungen. transcript, Bielefeld, https: / / doi.org/ 10.1515/ transcript.9783839420 270 Reppenhorst, S. (2016): Humor und Haltung- - kindliches Spiel humorvoll begleiten. In: Jessel, H. (Hrsg.): Spiel(T)raum. Spielraum lassen- - Spielraum geben- - Spielraum haben. Verlag Aktionskreis Psychomotorik, Lemgo, 75-98 Rosa, R., Endres, W. (2016): Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. Beltz, Weinheim / Basel Schäfer, I. (2001): Eine Institution steht Pate. In: Irmischer, T., Hammer, R. (Hrsg.): Psychomotorik in Geschichten. Verlag Aktionskreis Literatur und Medien, Lemgo, 13-16 Schilling, F. (2001): Persönliches zur Geschichte der Psychomotorik. In: Irmischer, T., Hammer, R. (Hrsg.): Psychomotorik in Geschichten. Verlag Aktionskreis Psychomotorik, Lemgo, 21-26 Seewald, J. (2004): Mythos Bad Orb. In: Kuntz, S., Voglsinger, J. (Hrsg.): Humor, Phantasie und Raum in Pädagogik und Therapie. Zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Ernst J. Kiphard. verlag modernes lernen, Dortmund, 195 Seewald, J. (1991): Von der Psychomotorik zur Motologie. Über den Prozess der Verwissenschaftlichung einer Meisterlehre. motorik 14 (1), 3-16 Vahle, F. (2014): Kinder durch Bewegung und Musik innerlich stärken. Beltz, Weinheim / Basel Vahle, F. (2013): Singen-- sagen-- sich bewegen. Auf 7 Wegen zum Singen. Beltz, Weinheim / Basel [ 126 ] 3 | 2023 Forum Psychomotorik Vahle, F. (2010): Sprache mit Herz, Hand und Fuß. Wege zur Motorik der Verbundenheit. Beltz, Weinheim / Basel Zollinger, B. (1995): Die Entdeckung der Sprache. Paul Haupt, Bern, https: / / doi.org/ 10.1055/ s-0030- 1255661 Der Autor Stephan Kuntz Diplom-Pädagoge, Sonderschullehrer, Sprachheilpädagoge, Psychomotoriker, als Dozent, Logopäde, Schulischer Heilpädagoge und Psychomotoriker an Schulen und Hochschulen tätig, Lehrbeauftragter für Sprache, Bewegung, Inklusion am FB Bildungswissenschaften der Hochschule des Saarlandes 1998 bis heute, Dozent der Deutschen Akademie-- Aktionskreis Psychomotorik, Leiter der alljährlichen, internationalen Dezembertagungen Psychomotorik Bad Orb von 1983-2017, ab 1989 Schweiz. Anschrift Stephan Kuntz, Langmoosweg 6, CH-9400 Rorschach stephan.kuntz@gmx.ch
