eJournals motorik 46/3

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2023.art28d
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2023
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Insight - Erfahrungen aus der Praxis: Lehren an der »Wiege der deutschen Psychomotorik« - Erfahrungen aus dem Berufsalltag an einer Fachschule für Motopädie

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Markus Serrano
»… eigentlich will ich doch gar nicht an die Schule!«
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[ 142 ] 3 | 2023 Insight-- Erfahrungen aus der Praxis [ INSIGHT-- ERFAHRUNGEN AUS DER PRAXIS ] Lehren an der »Wiege der deutschen Psychomotorik«-- Erfahrungen aus dem Berufsalltag an einer Fachschule für Motopädie Markus Serrano »…-eigentlich will ich doch gar nicht an die Schule! « Mit dieser Entscheidung habe ich damals nach dem Lehramtsstudium nicht das Referendariat angeschlossen, sondern bin- - inspiriert durch »Umwege« im Bereich der Erlebnis- und Sonderpädagogik- - nach Marburg zum Motologiestudium gekommen. Nach mehrjähriger motolo- Abb. 1: das Schwungtuch in den Fachschulen gischer Tätigkeit in unterschiedlichen Arbeitsfeldern (Schwerpunkt Mototherapie) sowie begleitender Dozentenerfahrung bei der dakp (Deutsche Akademie für Psychomotorik) habe ich seit nunmehr 17 Jahren das große Glück, meine Traumstelle an einer Fachschule für Motopädie gefunden zu haben. Mein Setting Am LWL-Berufskolleg- - Fachschulen Hamm ist es unser Auftrag, zukünftige MitarbeiterInnen für soziale Berufsfelder ausbzw. weiterzubilden. Staatlich anerkannte ErzieherInnen, HeilerziehungspflegerInnen, HeilpädagogInnen und eben auch MotopädInnen verlassen nach erfolgreichem Abschluss un- [ 143 ] Insight-- Erfahrungen aus der Praxis 3 | 2023 sere vier Fachschulen. Darüber hinaus bietet das LWL-Berufskolleg in sog. Aufbaubildungsgängen (ABG) auch die Qualifikation »Fachkraft in Offenen Ganztagsschulen« sowie »Fachkraft für inklusive Bildung und Erziehung« an. Als Motologe arbeite ich hier im Angestelltenverhältnis und habe von Beginn an sowohl in allen Bildungsgängen unterrichtet als auch als Bildungsgangleiter der Fachschule für Motopädie hauptverantwortlich die Ausbildung zusammen mit meinen KollegInnen gestaltet. Die Tatsache, dass in Hamm auch MotopädInnen ausgebildet werden, ist kein Zufall! Das Berufskolleg befindet sich auf dem Gelände der LWL-Universitätsklinik Hamm (Kinder- und Jugendpsychiatrie- - Psychotherapie- - Psychosomatik), genau jener Klinik, in der Johnny Kiphard in den 50er- & 60er Jahren des letzten Jahrhunderts mit seinen innovativen (und manchmal unkonventionellen) Methoden die Psychomotorik in Deutschland »geboren« hat. Diese »historischen Spuren« sind hier tagtäglich zu spüren. Sei es, wenn ich über das Gelände gehe und mich an die ersten Schwarz-Weiß-Aufnahmen Kiphards erinnere, in denen er auf dem Klinikgelände den KTK-Körperkoordinationstest für Kinder durchführt oder wenn wir im Rahmen unserer Ausbildungen dank enger und freundschaftlicher Kooperation mit den KollegInnen der Fachabteilung für Psychomotorik auch die hervorragend ausgestatteten Bewegungsräume der Klinik mitbenutzen können. Ein professionell »bunt« aufgestelltes Team von ca. 40 haupt- und nebenamtlichen Lehrkräften begleitet die gut 500 engagierten Studierenden auf dem Weg zu ihrem Fachschulexamen. Hier finden sich am LWL-Berufskolleg sowohl klassisch ausgebildete LehrerInnen als auch sogenannte »QuereinsteigerInnen«, die mit ihren langjährigen Berufserfahrungen und spezifischen Qualifikationen (z. B. PädagogInnen, PsychologInnen, TherapeutInnen-…) ein multiprofessionelles Lehrteam bilden, das den Anspruch hat, praxisnah und berufsfeldbezogen auszubilden. Auch innerhalb der Motopädieweiterbildung sind wir hier mit FachkollegInnen aus den Bereichen Motologie, Motopädie, Körperpsychotherapie, Traumapädagogik, Kinder- und Jugendpsychotherapie und Systemische Beratung psychomotorisch passgenau »aufgestellt«. Mein Berufsalltag Das »Kerngeschäft« an einer Schule ist das Unterrichten- - und hier bin ich als Motologe innerhalb der Fachschule für Motopädie schwerpunktmäßig in den zentralen Fächern aus dem »fachrichtungsbezogenen Lernbereich« eingesetzt: z. B. »Motopädische Arbeitsweisen und Konzepte« (Grundlagen und Geschichte der Psychomotorik, didaktisch-methodische Arbeitsweisen mit unterschiedlichen Zielgruppen, Ansätze in der deutschen Psychomotorik) oder »Praxis der Motopädie« (körper- und leibbezogene Eigenerfahrung in den psychomotorischen Lernfeldern). Ebenso begleite ich hier die projektorientierte Arbeit, welche sich auf erlebnis- und naturpädagogische oder auch abenteuersportliche Themenfelder bezieht und seit vielen Jahren in Form einer gemeinsamen Bildungsgangfahrt beider Motopädieklassen gestaltet wird. Praxisberatung stellt einen weiteren zentralen Baustein in unserem Praxisausbildungskonzept dar; hier begleite ich zusammen mit drei KollegInnen die angehenden MotopädInnen über zwei Jahre in Kleingruppen und darf im Rahmen der Besuche in den Praktikumsstellen (PM-Vereine, KiTas, Frühförderstellen, psychiatrische Kliniken uvm.) immer wieder auch in die unterschiedlichsten psychomotorischen Arbeitsfelder eintauchen. Die Motopädie am LWL-Berufskolleg »färbt« inhaltlich auch auf die anderen Fachschulen / Aufbaubildungsgänge »ab«. In den anderen Bildungsgängen unseres Berufskollegs vertreten wir motopädischen oder motologischen Lehrkräfte hier ebenfalls psychomotorische oder körper- und bewegungsorientierte Fächer und Module (z. B. in der Heilpädagogik, Heilerziehungspflege und in den Aufbaubildungsgängen die »Methode Psychomotorik« und in der Sozialpädagogik die Bereiche »Spielpädagogik« und »Vertiefung im Bildungsbereich Bewegung«). Unterricht am LWL-Berufskolleg in Hamm findet zum einen in Präsenzform statt, bereits seit 2004 arbeiten wir zum anderen aber auch onlinegestützt. Über diesen sog. Distanzlernunterricht ermöglichen wir unseren Studierenden eine flexibilisierte, erwachsenenorientierte, praxisintegrierte und berufsbegleitende Ausbildungsmöglichkeit. Dies bedeutet also auch, dass nicht wenig Arbeitszeit am Schreibtisch vor dem Computer verbracht wird. Unterrichtliche Kurse und Themenseiten müssen auf der Lernmanagementsoftware eingerichtet und motivierend gestaltet werden und die Studierenden müssen hier kontinuierlich fachlich begleitet werden. Darüber hinaus gehört es zum Job als Lehrkraft auch, schuljahresbegleitend schriftliche Hausarbeiten und Klausuren o. ä. zu korrigieren, schulische Leistungen zu bewerten, staatlich geregelte Abschlussprüfungen zu gestalten und vielfältige Dokumentationspflichten zu erfüllen (eine Tätigkeit, die nicht zu meinen »Lieblingsaufgaben« gehört-…, die aber auch dazu gehört). Eine Schule »läuft« aber nicht nur durch das Unterrichten! Als Bildungsgangleiter der Fachschule für Motopädie und Mitglied im erweiterten [ 144 ] 3 | 2023 Insight-- Erfahrungen aus der Praxis Schulleitungsteam habe ich weitere Aufgaben, die den Berufsalltag abwechslungsreich füllen: u. a. hauptverantwortliche Planung und Koordination des Bildungsganges sowie Gremienarbeit und Kooperation mit Praxisstellen oder anderen PartnerInnen (z. B. Bundesverband der Motopädiefachschulen, Deutscher Berufsverband der MotopädInnen / MototherapeutInnen e. V., Hochschule Emden / Leer, Deutsche Akademie- - Aktionskreis Psychomotorik e. V.), Öffentlichkeitsarbeit, Durchführung der Bewerbungsverfahren der zukünftigen Motopädiestudierenden-- es ist nie langweilig! Mein theoriegeleiteter Zugang Fachlich fühle ich mich in der Motologie beheimatet- - hier habe ich noch bei Friedhelm Schilling lernen dürfen, später dann aber auch im Rahmen meiner beruflichen Erfahrung im Verein für Mototherapie in Münster v. a. die verstehende Psychomotorik nach Jürgen Seewald (2007) sowie systemische Blickperspektiven tief verinnerlicht. Eine grundsätzliche Orientierung an der humanistischen Psychologie bietet mir in sämtlichen Arbeitsbezügen eine wertvolle fachliche Kompassnadel. Diese fachliche psychomotorische Basis ist im schulischen Kontext mein »Safe Place«-- der Ankerpunkt, den ich auch im Rahmen meiner Dozententätigkeit in der Deutschen Akademie für Psychomotorik so sehr zu schätzen gelernt habe. Der damalige kollegiale Austausch auf DozentInnenkonferenzen oder in der gemeinsamen Gestaltung von Kursreihen mit den vielen tollen KollegInnen empfinde ich bis heute als Bereicherung auch für meine Arbeit an einem Berufskolleg. Ich stelle oft fest, dass es im System Schule mit seinen speziellen Strukturen und curricularen Rahmenbedingungen (im Vergleich zu psychomotorischen Settings) nicht selbstverständlich ist, dass diese humanistischen Werte und die daraus ableitbaren Prinzipien und professionellen Haltungen (Kuhlenkamp 2022, 114 ff ) im Schulalltag ihren Niederschlag finden. Daher erlebe ich es als sehr bereichernd, dass im dialogischen Miteinander mit KollegInnen und Studierenden eine spürbare Resonanz entsteht und ich immer wieder bestärkt werde, dass es lohnend ist, die Psychomotorik mit ihren Ideen und Idealen in das Schulkonzept zu implementieren-- nicht nur fachlichinhaltlich, sondern als »gelebte Schulkultur«! Neben diesen motologischen Bezügen orientiere ich mich in der Vorbereitung der angehenden ErzieherInnen, MotopädInnen und anderen PsychomotorikerInnen auf ihre berufliche Praxis auch an den Ergebnissen des hochschulübergreifenden Forschungsverbundprojektes »BIK- - Bewegung in der frühen Kindheit« (Fischer et al. Abb. 2: Das Pedalo ermöglicht Eigenerfahrung in der Ausbildung. [ 145 ] Insight-- Erfahrungen aus der Praxis 3 | 2023 2016), in denen neben der Zusammenschau von interdisziplinären Analysen zur Bedeutung von Bewegung für Persönlichkeitsentwicklungsprozesse vor allem auch praxeologische Konsequenzen für die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften im Bereich der Körper- und Bewegungsarbeit handlungsleitend vorgestellt wurden. Meine Bedeutsamkeit Die Bedeutsamkeit meiner Tätigkeit bzw. der Psychomotorik/ Motologie am Berufskolleg messe ich zum einen an der qualitativen Rückmeldung der Studierenden zum Stellenwert des Unterrichts für deren Professionalisierung und zum anderen an den Beobachtungen, in welchen Arbeitsfeldern unsere AbsolventInnen ihren beruflichen Weg beschreiten und inwiefern die Psychomotorik dort ihren Platz finden kann. Beide Qualitätsmesser zeigen, dass wir am LWL-Berufskolleg in Hamm erfolgreich zu sein scheinen und dass die psychomotorische Idee von hier aus weiter ihren Weg in die beruflichen Wirkfelder findet. Letztendlich sind es die vielen, von den Studierenden später professionell begleiteten Menschen, die von der psychomotorischen Wirksamkeit unserer Lehre profitieren. Sie sind diejenigen, die auf ihrem Lebensweg durch eine achtsame, dialogische, ressourcen- und v. a. bewegungsorientierte Begleitung gestärkt werden und denen wir letztendlich im Wesentlichen verpflichtet sind. Neben diesen positiven Konsequenzen eines psychomotorisch ausgerichteten Unterrichts auf die pädagogischtherapeutischen Arbeitsfelder unserer AbsolventInnen kann das motologische Profil einer Lehrkraft sicherlich auch die Schulentwicklung unseres Berufskollegs bereichern. So finden die regelmäßigen Bildungsgangkonferenzen in der Motopädie auch praxis- und bewegungsorientiert statt, kollegiale Zusammenkünfte wie z. B. Betriebssport oder Betriebsausflüge können einen psychomotorischen »Anstrich« bekommen und Bewegung erhält insgesamt vermehrt Einzug auch in den Unterricht vieler anderer KollegInnen. Einen weiteren Mehrwert für die Schulentwicklung sehe ich in der sehr konstruktiven und engagierten Kooperation mit anderen AkteurInnen unserer »psychomotorischen Szene«, zu denen ich im Laufe meiner langjährigen Berufstätigkeit einen bereichernden Kontakt aufbauen bzw. halten konnte und zwischen denen sich ein sehr tragfähiges Netzwerk der Zusammenarbeit gebildet hat. Dieses unterstützt z. B. im sehr Gewinn bringenden fachlichen Austausch, bei der Übernahme von Lehraufträgen oder z. B. bei der inhaltlichen Gestaltung unserer traditionsgemäßen »Alumni«-Veranstaltungen (zu diesen Ehemaligen-Treffen in der Motopädie durfte ich hier schon viele KollegInnen aus der Psychomotorik und Motologie begrüßen). Nachdem ich nun all diese Überlegungen zusammengefasst habe, komme ich zu folgendem freudigen Schluss: Wie wunderbar, dass ich- - entgegen meiner eingangs formulierten Erkenntnis- - doch an einer Schule gelandet bin: der Fachschule für Motopädie! Literatur Fischer, K., Hölter, G., Beudels, W., Jasmund, C., Krus, A., Kuhlenkamp, S. (Hrsg.) (2016): Bewegung in der frühen Kindheit. Fachanalyse und Ergebnisse zur Aus- und Weiterbildung von Fach- und Lehrkräften. Springer, Berlin Kuhlenkamp, S. (2022): Lehrbuch Psychomotorik. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. Ernst Reinhardt, München DOI 10.2378 / mot2023.art28d Kontakt Markus Serrano Diplom-Motologe, seit 2005 Bildungsgangleiter der Fachschule für Motopädie am LWL-Berufskolleg in Hamm; Vorstandsmitglied im Verein für Mototherapie und psychomotorische Entwicklungsförderung e. V. in Münster Markus.SerranoMinar@lwl.org www.lwl-berufskolleg.de