eJournals motorik 46/4

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2023.art34d
101
2023
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Forum Psychomotorik: Motologie als Verkörperung des Sozialen und zwischenleiblicher Resonanzraum

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2023
Holger Jessel
Die Motologie befindet sich als interdisziplinäre Wissenschaft und Praxis im Zentrum zahlreicher Spannungsfelder. Diese sind u.a. mit der menschlichen Subjektstellung in der reflexiven Moderne verbunden, die zu Beginn beschrieben wird. Anschließend werden mithilfe des Optionalisierungsdispositivs daraus resultierende Herausforderungen für die Theorie und Praxis der Motologie beleuchtet. Darauf aufbauend wird die Motologie als Verkörperung des Sozialen sowie als zwischenleiblicher Resonanzraum diskutiert. Abschließend werden schließlich einige Perspektiven für die Theorie und Praxis der Motologie skizziert.
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Zusammenfassung / Abstract Die Motologie befindet sich als interdisziplinäre Wissenschaft und Praxis im Zentrum zahlreicher Spannungsfelder. Diese sind u. a. mit der menschlichen Subjektstellung in der reflexiven Moderne verbunden, die zu Beginn beschrieben wird. Anschließend werden mithilfe des Optionalisierungsdispositivs daraus resultierende Herausforderungen für die Theorie und Praxis der Motologie beleuchtet. Darauf aufbauend wird die Motologie als Verkörperung des Sozialen sowie als zwischenleiblicher Resonanzraum diskutiert. Abschließend werden schließlich einige Perspektiven für die Theorie und Praxis der Motologie skizziert. Schlüsselbegriffe: Motologie, Psychomotorik, Verkörperung des Sozialen, Zwischenleiblichkeit, Resonanz Motology as an embodiment of the social and as an intercorporeal resonance space As an interdisciplinary science and practice, motology finds itself at the centre of numerous fields of tension. These are linked, among other things, to the human subject position in reflexive modernity, which is described at the beginning. Then, with the help of the optionalisation dispositive, the resulting challenges for the theory and practice of motology are illuminated. Building on this, motology is discussed as an embodiment of the social and as an intercorporeal resonance space. Finally, some perspectives for the theory and practice of motology are outlined. Keywords: motology, psychomotricity, embodiment of the social, intercorporeality, resonance [ 180 ] [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] 4 | 2023 motorik, 46. Jg., 180-186, DOI 10.2378 / mot2023.art34d © Ernst Reinhardt Verlag Motologie als Verkörperung des Sozialen und zwischenleiblicher Resonanzraum Holger Jessel Subjekte in der reflexiven Moderne bzw. Spätmoderne Die gegenwärtige hohe Nachfrage nach (motologischen und zahlreichen weiteren) Unterstützungs-, Förder-, Therapie- und Begleitungsangeboten spiegelt möglicherweise »die Anforderungen- an das Handeln und Leben der Subjekte in den hochkomplexen und diversifizierten abendländischen (›westlichen‹) Gesellschaften / Kulturen wider« (Seel 2014, 21). Die Charakteristika dieser Modernisierungsprozesse wurden unter anderem als »Risikogesellschaft« (Beck 1986)-- verbunden mit vielschichtigen Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen- - oder als »reflexive- Modernisierung« (Beck/ Giddens/ Lash 1996) beschrieben. Damit verbunden sind Chancen und Risiken zugleich, denn die Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung sind einerseits so ausgeprägt wie möglicherweise nie zuvor in der Menschheitsgeschichte, andererseits geht damit jedoch auch die Notwendigkeit der individuellen Gestaltung eines gelingenden Lebens einher, verbunden mit zahlreichen Entscheidungsherausforderungen und Ambivalenzen (Seel 2014, 21 ff ). In einer Gesellschaft, in der alles in Bewegung ist, ist zugleich nichts mehr selbstverständlich. »Die aufgeklärten Subjekte stehen einer fluiden Gesellschaft, die alles Stabile verflüssigt, zunehmend allein und ohne Bindungen gegenüber: Vor ihnen türmt sich eine aufregend-verwirrende Pluralität von Handlungsmöglichkeiten und Lebensstilen auf« (Wandhoff 2016, 293). In jüngerer Zeit hat Hartmut Rosa (2016) ein Zusammenwirken von drei Krisenlagen analysiert, die er als Öko-, Psycho- und Demokratiekrise bezeichnet. Diese Krisen beruhen in allen [ 181 ] Jessel • Motologie als Verkörperung des Sozialen und zwischenleiblicher Resonanzraum 4 | 2023 drei Dimensionen darauf, »dass die strukturell institutionalisierte und kulturell legitimierte Strategie der Weltreichweitenvergrößerung paradoxerweise zu voranschreitenden Formen des Weltverlustes und damit zu einem Verstummen der Resonanzachsen führt« (Rosa 2016, 711). Weltreichweitenvergrößerung bezeichnet dabei die Strategie oder auch Hoffnung, das eigene Leben dadurch zu verbessern, dass man immer mehr Weltausschnitte verfügbar und kontrollierbar macht. So verstehen wir etwa Natur häufig als nutzbaren Rohstoff oder Gestaltungsobjekt und nicht als etwas Unverfügbares, obwohl sie dies zu einem großen Teil ist. Dies kann zu einer Entfremdung von der Natur führen, zu einem Weltverlust: Sie »sagt« uns nichts mehr, sie steht uns »stumm« (oder sogar bedrohlich) gegenüber. Der noch zu beschreibende Resonanzbegriff bezeichnet demgegenüber »das Andere der Entfremdung« (Rosa 2016, 306). Andreas Reckwitz (2020) hat die Spätmoderne als Gesellschaft der Singularitäten bezeichnet. Sie ist »an der Verfertigung von Besonderheiten und Einzigartigkeiten, […] an der Prämierung von qualitativen Differenzen, Individualität, Partikularität und dem Außergewöhnlichen orientiert« (Reckwitz 2020, 19). Die Kehrseite dieses Prozesses besteht für ihn »in der subtilen kulturellen Abwertung oder auch massiven sozialen Deklassierung, welche die traditionelle Mittelklasse und die prekäre Klasse erfahren« (Reckwitz 2020, 23), verbunden mit einem hohen Enttäuschungspotenzial. Aus diesen exemplarischen Beschreibungen der menschlichen Subjektposition in der reflexiven Moderne bzw. Spätmoderne ergeben sich bedeutsame Schlussfolgerungen für die Theorie und Praxis der Motologie. Folgt man der Einschätzung von Haas (2023), dass die wechselseitige Beeinflussung von körperlich-leiblicher Identität und gesellschaftlichen Strömungen und Wertzuschreibungen aufgrund einer traditionell individuumszentrierten Praxis »in der Psychomotorik selten thematisiert […]« werden (Haas 2023, 73), so ist diese Auseinandersetzung auch dringend geboten. Die Motologie und das Optionalisierungsdispositiv Zunächst sollte transparent gemacht werden, aus welcher Perspektive und wie in diesem Beitrag über Motologie gesprochen wird. Ausgangspunkt ist die Position der verkörperten Anthropologie, die »die menschliche Person als leibliches oder verkörpertes, als freies, sich selbst bestimmendes und schließlich als konstitutiv soziales, mit anderen verbundenes Wesen« (Fuchs 2020, 8) begreift. Motologie wird als eine Wissenschaftsdisziplin gefasst, »die sich grundlegend mit Theorien, Konzepten und Modellen von Körperlichkeit und Bewegung beschäftigt und damit versucht, das komplexe Zusammenspiel mit psychischen Prozessen des Menschen pädagogisch und therapeutisch aufzubereiten und im Sinne einer Angewandten Motologie nutzbar zu machen« (Schache 2022, o. S.). In einer motologischen Anwendungsperspektive ist der folgende Zusammenhang zentral: »Menschliche Entwicklung, Gesundheit, Bildung usw. sind ohne Bewegungsbzw. Körper- / Leiberfahrung nicht möglich […]. Und Menschen, welche hier Defizite haben, benötigen spezifische Angebote« (Richter-Mackenstein 2017, 32). In diesen Aussagen offenbart sich ein Spannungsfeld, dessen eine Seite durch einen ganzheitlichen und multidisziplinären Blick auf den Menschen gekennzeichnet ist. Diese Perspektive erklärt u. a. auch die Strukturierungsnotwendigkeiten der Motologie. Nach Jürgen Seewald »wird der Motologie in besonderer Weise ein systematisierender Überblick über die Konzepte der Psychomotorik und ihre Hintergründe […] abverlangt. Es gibt deshalb in der Motologie ein Ordnungsinteresse, nämlich die bunte Vielfalt der praktischen Psychomotorik immer wieder nach theoretischen Zusammenhängen zu durchleuchten bzw. solche Zusammenhänge zu erzeu- Motologie befasst sich mit Theorien, Konzepten und Modellen von Körperlichkeit und Bewegung. [ 182 ] 4 | 2023 Forum Psychomotorik gen und als Ordnungsvorschläge in den Fachdiskurs einzuspeisen« (Seewald 2006, 282). Die andere Seite des Spannungsfeldes zeigt sich in einem der Motologie (wie auch vielen anderen Handlungswissenschaften) inhärenten Veränderungsimperativ, der einerseits durch eine problemorientierte Sichtweise, u. a. auf Entwicklung und Gesundheit, angetrieben (Entwicklung sollte gefördert, Gesundheit erhalten bzw. wiederhergestellt werden) und andererseits durch angenommene bzw. behauptete Entwicklungs- und Veränderungsoptionen genährt wird. Ein Blick auf das Optionalisierungsdispositiv (Traue 2010) kann diesen Zusammenhang illustrieren. Für den Kontext der Beratung fasst Traue (2010, 284) verschiedenste Handlungsprobleme »als Problem der Generierung von Optionen, zwischen denen sich entschieden werden muss«. Das Verhältnis zwischen Individuen und ihrer sozialen Welt wird infolgedessen als Verhältnis von Möglichkeiten beschrieben, was er als Optionalisierungsdispositiv bezeichnet. Dispositive können als Antworten auf gesellschaftliche Probleme verstanden werden. Sie stellen also Problemlösungen dar, »die im Allgemeinen von Expertengruppen entwickelt werden« (Traue 2010, 51), wobei diese ExpertInnen durch sogenannte Diskursarenen miteinander verbunden sind. Für die Motologie lassen sich sehr ähnliche Zusammenhänge beschreiben. Auch wenn sich je nach Paradigma (Entwicklungsförderung, Gesundheitsförderung, Bildung, Therapie) verschiedene Spezifika benennen lassen (z. B. Hilfe bei der Bewältigung des nächsten Schritts der Entwicklung, Hilfe bei der Gesunderhaltung), so generiert die Motologie dennoch stets Problemlösungen im Rahmen des Optionalisierungsdispositivs. Dieses Dispositiv enthält allerdings drei grundlegende Problematiken: Die erste bezieht sich darauf, dass das Spektrum an Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten stets situativ, sozial und historisch konstruiert ist und damit jegliche Entscheidungen implizit und/ oder explizit privilegiert bzw. abgewertet werden. Die zweite Problematik verweist auf den Widerspruch zwischen behaupteten und realen Optionen. Die Gefahr ist, dass strukturelle gesellschaftliche Probleme »in einer Art ideologischen Kategorienfehler auf den Einzelnen projiziert werden« (Traue 2010, 288). Die dritte Problematik zeigt sich darin, dass ein Verständnis der Option als Erweiterung von Möglichkeiten die Perspektive des Eintretens von unerwarteten Ereignissen oder deren Nichtkontrollierbarkeit ausschließt. Die Aspekte der (zwischen-)leiblichen Widerfahrnis (u. a. Seewald 2007) und der Unverfügbarkeit (Rosa 2018) werden damit von vornherein ausgeblendet, im Vordergrund steht vielmehr das Bedürfnis nach Weltreichweitenvergrößerung (Rosa 2016, 707 ff ). Am Beispiel des Optionalisierungsdispositivs zeigt sich die Notwendigkeit der Klärung der Beziehung zwischen der Wissenschaft der Motologie und dem motologischen Handeln, die in vielfältige gesellschaftliche Entwicklungsdynamiken eingebettet ist. Motologie als Verkörperung des Sozialen Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen die Gefahr, dass in der Motologie gesellschaftliche Strukturen und Prozesse (re)produziert werden bzw. sich (überwiegend) implizit verkörpern. Will man nun verstehen, »wie genau Sozialität immer wieder in das Somatische einbricht, ist aber eine vielperspektivische transdisziplinäre Sicht auf Körper im Sinne der Erkenntnis geboten« (Wuttig 2016, 172). Im Folgenden werden ausgewählte Beobachtungen aus erkenntnistheoretischer, gesellschaftstheoretischer und leibphänomenologischer Perspektive beschrieben. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive liegt ein übergeordnetes Spannungsfeld der Motologie in der Klärung des Verhältnisses von Erfahrung und Diskurs. Die zentralen Fragen lauten erstens, wie MotologInnen und AdressatInnen Phänomene im Kontext motologischer Angebote (u. a. körperlich-leiblich) erleben, zweitens, wie Motologie generiert Problemlösungen im Rahmen des Optionalisierungsdispositivs. [ 183 ] Jessel • Motologie als Verkörperung des Sozialen und zwischenleiblicher Resonanzraum 4 | 2023 [ 183 ] Jessel • Motologie als Verkörperung des Sozialen und zwischenleiblicher Resonanzraum 4 | 2023 diese Phänomene im motologischen Diskurs verhandelt werden und drittens, wie sich Erfahrung und Diskurs wechselseitig beeinflussen. Wuttig (2016, 173) argumentiert, dass eine Klärung dieser Fragen nur durch die Kombination leibphänomenologischer bzw. lebenswissenschaftlicher und diskurstheoretischer bzw. gesellschaftswissenschaftlicher Ansätze realisierbar ist. Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive lässt sich zunächst das Spannungsfeld von Selbstsorge und Vereinnahmung identifizieren. Folgt man den gegenwärtigen Modernisierungsdiskursen, offenbaren sich die Thematiken der Beweglichkeit (Traue 2010, 275), der Flexibilität (Schröder 2009) bzw. der Modus der dynamischen Stabilisierung. Letzterer erzeugt eine Welt, die »systematisch auf Wachstum, Innovationsverdichtung und Beschleunigung angewiesen ist, um ihre Struktur zu erhalten und zu reproduzieren« (Rosa 2016, 673). Für die Subjekte bedeutet dies einen »Zwang zur permanenten Neuerfindung des Selbst und zur flexiblen Veränderung der je eigenen Weltposition« (Rosa 2016, 691). In seiner Analyse »Der flexible Mensch und sein Leib« hat Schröder (2009) dies wie folgt formuliert: »Man ist aufgerufen, sich seines eigenen Körpers bewusst zu werden, ihn zu formen und für ihn zu sorgen, unter der Prämisse: Gesundheit, Schönheit und Fitness sind machbar« (Schröder 2009, 76). Im Umkehrschluss heißt dies jedoch auch, wer erfolglos bleibt, kann sich selbst die Schuld geben oder wird mit Schuldzuschreibungen konfrontiert. Mit diesem Spannungsfeld ist eine zentrale Frage verbunden: In welchen Kontexten und gesellschaftlichen Verhältnissen sind die Praktiken der Motologie dazu geeignet, »Subjekte zusammenzusetzen, die der Vereinnahmung durch ihre eigenen Impulse und durch die Methoden der ›Nutzung‹ des Humankapitals widerstehen können« (Traue 2010, 281)? Motologie kann demnach einerseits Praktiken der Selbstsorge (bzw. der Sorge um Kinder und Jugendliche) initiieren, die sich an einem ganzheitlichen, humanistischen Menschenbild orientieren, sie kann jedoch auch implizit und unbeabsichtigt v. a. ökonomisch nützliche oder gesellschaftlich erwünschte Interventionen beinhalten. Aus leibphänomenologischer Perspektive besteht ein Spannungsfeld in der Struktur der menschlichen Leiblichkeit. Sie ist nach Fuchs »grundlegend charakterisiert durch die Polarität oder Ambivalenz zwischen subjektivem Leib und objektiviertem Körper oder zwischen Leib- Sein und Körper-Haben« (Fuchs 2011, 565). Der Mensch ist einerseits Leib, d. h. sein subjektives Befinden, Erleben und Handeln vollzieht sich im Medium des Leibes und seiner Möglichkeiten und er wird von anderen in seiner Haltung, seinem Ausdruck und seinen Handlungen unmittelbar, »leibhaftig« wahrgenommen (Fuchs 2021, 102). Der Mensch hat zugleich aber auch einen Körper als Ergebnis einer Objektivierung; dieser wird einerseits zum bewusst gebrauchten Instrument und ist andererseits anfällig für vielfältige Störungen (Fuchs 2011, 566). Dieser Doppelaspekt von Leib und Körper ist für die Theorie und Praxis der Motologie von zentraler Bedeutung (u. a. Haas 2023; Schröder 2009; Seewald 2007). Motologie als zwischenleiblicher Resonanzraum Thomas Fuchs (2021; 2013) hat ausführlich herausgearbeitet, welche zentrale Bedeutung die zwischenleibliche Kommunikation und Resonanz für die menschliche Entwicklung besitzt. Immer wenn zwei Personen einander leiblich begegnen, »sind sie von vorneherein in ein systemisches Interaktionsgeschehen einbezogen, das ihre Körper miteinander verbindet und ein präverbales und präreflexives Verstehen herstellt. Die Gefühle des Anderen werden in seinem Ausdruck unmittelbar verständlich, weil dieser in uns einen meist unbemerkten leiblichen Eindruck mit subtilen Empfindungen, Bewegungs- und Gefühlsvorstufen hervorruft« (Fuchs 2021, 211). Dieses Wechselspiel von Ausdruck, Eindruck und Reaktion bezeichnet er als »zwischenleibliche Resonanz« (Fuchs 2021, 211). Der Doppelaspekt von Leib und Körper ist für die Theorie und Praxis der Motologie zentral. [ 184 ] 4 | 2023 Forum Psychomotorik Dies erklärt auch, wie Kinder bereits sehr früh ein implizites Beziehungswissen erwerben, d. h. ein leibliches Wissen, wie man gelingende Kontakte zu anderen gestaltet. Daraus entstehen »implizite Beziehungsstile«, die die Grundstrukturen des lebenslangen Beziehungsraums prägen (Fuchs 2013, 22). Sämtliche Interaktionen des Menschen werden stark »von leiblichen, affektiven und intuitiven Formen der Beziehung getragen, die der symbolisch und verbal vermittelten Kommunikation lange vorausgehen« (Fuchs 2021, 210). Diese zwischenleiblichen Aspekte der Kommunikation sowie deren (immer nur bedingt mögliche) Explikation und Reflexion sind sowohl für die Theorieentwicklung als auch für die Gestaltung psychomotorischer Dialoge in der Motologie von grundlegender Bedeutung. Die Perspektive der Resonanztheorie Für Rosa (2016, 246 ff ) stellen Resonanz und Entfremdung die Basiskategorien einer Weltbeziehungstheorie dar. Er hält es für wahrscheinlich, dass die spezifische Qualität der Resonanzfähigkeit die Entwicklung des sozialen Lebewesens Mensch begünstigt hat (Rosa 2016, 247). Nach Auffassung von Randall Collins hat »die Evolution beim Menschen zu einer besonders hohen Empfänglichkeit für mikrointeraktive Signale von anderen Menschen geführt. Menschen sind zu intersubjektiver Aufmerksamkeit prädestiniert und dazu, die Emotionen zwischen zwei Körpern in einem gemeinsamen Rhythmus zur Resonanz zu bringen« (Collins 2011, 45 f ). Der Resonanzbegriff hat das Potenzial, nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen, sondern Weltbeziehungen generell zu analysieren. Resonanz ist für Rosa (2016) eine Form der Weltbeziehung, die durch »Af←fizierung und E→motion, intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung« (Rosa 2016, 298) gebildet wird, dabei berühren und transformieren sich Subjekt und Welt gegenseitig. Resonanz ist demnach eine Antwortbeziehung, die voraussetzt, dass beide Seiten mit eigener Stimme sprechen; das beinhaltet zugleich Momente der Unverfügbarkeit (Rosa 2018) und des Widerspruchs. In deskriptiver Hinsicht ist Resonanz »eine emotionale, neuronale und vor allem durch und durch leibliche Realität. Sie ist die primäre Form unserer Weltbeziehung« (Rosa 2016, 747). In normativer Hinsicht kann Resonanz als »Kriterium für die Bewertung der Qualität sozialer Verhältnisse« (Rosa 2016, 749) und damit als Maßstab der Gesellschaftskritik gelten. Lebensqualität bemisst sich vor diesem Hintergrund nicht an der Steigerung von materiellem Wohlstand, Optionen und Ressourcen, sondern an der Qualität der Weltbeziehung. »Ein gutes Leben ist dann eines, das reich an Resonanzerfahrungen ist und über stabile Resonanzachsen verfügt« (Rosa 2016, 749). Dabei unterscheidet Rosa (2016, 331) horizontale (Beziehungen in Familie, Freundschaft, Politik), diagonale (Objektbeziehungen, Arbeit, Schule, Sport, Konsum) und vertikale Resonanzachsen (Religion, Natur, Kunst, Geschichte, das Leben) sowie eine Selbstachse, die es uns ermöglicht, mit uns selbst, mit unserem Körper, unseren Emotionen und unserer Biografie in Resonanz zu treten (Rosa 2021, 249). Entfremdung ist für Rosa (2016, 316) der Gegenbegriff zur Resonanz und bezeichnet einen Modus der Weltbeziehung, »in dem die (subjektive, objektive und/ oder soziale) Welt dem Subjekt gleichgültig gegenüberzustehen scheint (Indifferenz) oder sogar feindlich entgegentritt (Repulsion)« (Rosa 2016, 306). Das Subjekt erfährt den eigenen Körper, die eigenen Gefühle, die Umwelt oder die sozialen Beziehungen als äußerlich, unverbunden, stumm und/ oder bedrohlich. Umgekehrt wird Entfremdung dann überwunden, wenn Subjekte die Erfahrung machen können, »dass sie von anderen oder anderem berührt werden, dass sie aber auch selbst die Fähigkeit haben, andere(s) zu berühren« (Rosa 2016, 306). Entscheidend für ein gutes, gelingendes Leben ist laut Rosa (2016, 297) die Erfahrung einer Zwischenleibliche Resonanz hat für die-menschliche Entwicklung eine elementare Bedeutung. [ 185 ] Jessel • Motologie als Verkörperung des Sozialen und zwischenleiblicher Resonanzraum 4 | 2023 [ 185 ] Jessel • Motologie als Verkörperung des Sozialen und zwischenleiblicher Resonanzraum 4 | 2023 existentiellen »Resonanzgewissheit«, die Erfahrung, gesehen und gehört zu werden, die Erfahrung, antworten zu können und Antworten zu erhalten. Diese Zusammenhänge sind für das Verständnis von zwischenleiblichen Resonanzphänomenen in der aktuellen gesellschaftlichen Situation und damit auch für die Theorie und Praxis der Motologie von großer Bedeutung. Perspektiven für die Theorie und Praxis der Motologie Verkörperung, Zwischenleiblichkeit und Resonanz können nach den bisherigen Ausführungen als wesentliche Elemente menschlicher Weltbeziehungen und damit als zentrale Bezugspunkte der Motologie verstanden werden. Eine Kernaussage der verkörperten Anthropologie lautet: »Nur als verkörperte, leibliche Wesen sind wir aber auch füreinander wirklich. […] Empathie erlernen wir nur im leiblichen Kontakt mit anderen, in der ›Zwischenleiblichkeit‹, wie Merleau-Ponty sie nannte« (Fuchs 2020, 13). Subjektwerdung entsteht in einem »dichten, interaktiven Resonanzfeld, aus dem heraus sich die Einsozialisation in die Welt und die Entwicklung der Sprach- und Gefühlsfähigkeit entfalten« (Rosa 2016, 257). All diese Prozesse laufen überwiegend implizit ab und sind in der Reflexion, teilweise, explizierbar. Genau dieses Verhältnis von impliziten und expliziten Prozessen, die den Menschen in seinen Beziehungen zu sich und zur Welt betreffen, muss die Theorie und Praxis der Motologie fortlaufend in den Blick nehmen. Hierfür ist implizites Erfahrungswissen erforderlich, das jedoch ohne explizite Reflexions- und Explikationsangebote letztlich unzugänglich bleibt. Deshalb ist zusätzlich wissenschaftliches Wissen als Begründungs- und Reflexionswissen erforderlich (Helsper 2021). Im Kern geht es damit um eine Einsozialisation in eine ExpertInnenkultur (Neuweg 2020), in der sowohl Prozesse des zwischenleiblichen Erlebens und Lernens als auch eine theoretische und gesellschaftskritische Reflexion von Verkörperungen des Sozialen ermöglicht werden. Die Bearbeitung der hier diskutierten Spannungsfelder bedarf demnach der Entwicklung eines reflexiven Habitus (Neuweg 2015, 41) bzw. einer »reflexiven Leiblichkeit« (Seewald 2007, 95 f ). Dies betrifft nicht nur die motologischen Fachkräfte, sondern auch die Selbstbeobachtungs- und Selbstreflexionskompetenzen der Motologie als Disziplin. Literatur Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main Beck, U., Giddens, A., Lash, S. (1996): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Suhrkamp, Frankfurt am Main Collins, R. (2011): Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie. Hamburger Edition, Hamburg Fuchs, T. (2021): Das Gehirn- - ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. 6. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart, https: / / doi.org/ 10.5771/ 9783845296951-69 Fuchs, T. (2020): Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie. Suhrkamp, Berlin Fuchs, T. (2013): Verkörperung, Sozialität und Kultur. In: Breyer, T., Etzelmüller, G., Fuchs, T., Schwarzkopf, G. (Hrsg.): Interdisziplinäre Anthropologie. Leib- - Geist- - Kultur. Universitätsverlag Winter, Heidelberg, 11-33 Fuchs, T. 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In: Richter- Mackenstein, J., Blos, K. (Hrsg.): Megatrends und Werte. Zukunftsweisende Themen und Herausforderungen für Psychomotorik und Motologie. wvpm, Marburg, 15-37 Rosa, H. (2021): Best Account. Skizze einer systematischen Theorie der modernen Gesellschaft. In: Reckwitz, A., Rosa, H. (Hrsg.): Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Suhrkamp, Berlin, 151-251 [ 186 ] 4 | 2023 Forum Psychomotorik Rosa, H. (2018): Unverfügbarkeit. Residenz, Wien / Salzburg Rosa, H. (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Schache, S. (2022): - Motologie.- socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, In: https: / / www.socialnet.de/ lexikon/ 4169, 29.03.2023 Schröder, J. (2009): Besinnung in flexiblen Zeiten: Leibliche Perspektiven auf postmoderne Arbeit. VS Verlag, Wiesbaden Seel, H.-J. (2014): Beratung: Reflexivität als Profession. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. Reinhardt, München / Basel Seewald, J. (2006): Gesundheitsförderung als neues Paradigma der Motologie? In: Fischer, K., Knab, E., Behrens, M. (Hrsg.): Bewegung in Bildung und Gesundheit. Lemgo, Verlag Aktionskreis Literatur und Medien, 282-290 Traue, B. (2010): Das Subjekt der Beratung. Zur Soziologie einer Psychotechnik. transcript, Bielefeld Wandhoff, H. (2016): Was soll ich tun? Eine Geschichte der Beratung. Corlin Verlag, Hamburg Wuttig, B. (2016): Das traumatisierte Subjekt. Geschlecht- - Körper- - Soziale Praxis. Eine gendertheoretische Begründung der Soma Studies. transcript, Bielefeld Der Autor Prof. Dr. phil. Holger Jessel Dipl.-Motologe, Professor für Psychomotorik in sozialpädagogischen Handlungsfeldern an der Hochschule Darmstadt, 1. Vorsitzender der Deutschen Akademie-- Aktionskreis Psychomotorik e. V. Anschrift Prof. Dr. phil. Holger Jessel Hochschule Darmstadt Fachbereich Soziale Arbeit Adelungstr. 51 64283 Darmstadt holger.jessel@h-da.de a w Klassiker der Kinderpsychotherapie Dieser Klassiker der Kinderpsychotherapie führt in die nicht-direktive Spieltherapie ein. Dabei wird das Spiel als ein natürliches Mittel zur Selbstdarstellung des Kindes angesehen und Verantwortung und Führung dem Kind überlassen: Das Kind bestimmt den Ablauf der Stunde und wählt aus, was ihm wichtig ist. In der vertrauensvollen, annehmenden therapeutischen Beziehung kann es seine inneren Wachstumskräfte in konstruktive und positive Bahnen lenken. Virginia M. Axline stellt neben den Grundprinzipien nicht-direktiver Kinder- Spieltherapie auch viele Praxisanleitungen anhand von Fallvignetten und Beispieldialogen aus Einzel- und Gruppentherapien dar. Virginia M. Axline Kinder-Spieltherapie im nicht-direktiven Verfahren 12. Auflage 2023. 341 Seiten. (978-3-497-03196-2) kt