eJournals motorik 46/4

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2023.art38d
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2023
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Insight - Erfahrungen aus der Praxis: Psychomotorische Förderung - Bedeutung für das Studium der Heilpädagogik/Inklusiven Pädagogik in Praxis und Theorie

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2023
Christina Reichenbach
Marie-Luise Hünerbein
An der Ev. Hochschule R-W-L (EvH) in Bochum kann Psychomotorik als ein Handlungsfeld heilpädagogischer/inklusionspädagogischer Arbeit studiert werden.
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[ 206 ] 4 | 2023 Insight-- Erfahrungen aus der Praxis [ INSIGHT-- ERFAHRUNGEN AUS DER PRAXIS ] Psychomotorische Förderung-- Bedeutung für das Studium der Heilpädagogik/ Inklusiven Pädagogik in Praxis und Theorie Christina Reichenbach, Marie-Luise Hünerbein Unser Setting An der Ev. Hochschule R-W-L (EvH) in Bochum kann Psychomotorik als ein Handlungsfeld heilpädagogischer / inklusionspädagogischer Arbeit studiert werden. Lehrkräfte für diesen Schwerpunkt sind unter anderem Prof.- Dr.- Michael Wendler, Prof.- Dr. Stefan Schache und Prof.- Dr.- Christina Reichenbach, die alle eine Ausbildung im Fach Psychomotorik oder Motologie haben. In der EvH gibt es die Heilpädagogische Ambulanz (HPA), die für Studierende die Gelegenheit bietet, Theorie und Praxis zu verbinden. Seit 2010 wird hier Psychomotorische Entwicklungsförderung als Möglichkeit für Praxiserprobung im Rahmen des Studiums zur Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik (HP / IP) angeboten. Der Arbeitsauftrag der HPA umfasst Beratung, Diagnostik und Förderung für Kinder, Jugendliche und deren Familien oder Bezugspersonen. In diese Prozesse sind Studierende konkret eingebunden und gestalten u. a. regelmäßig Angebote zur psychomotorischen Förderung. Die Studierenden absolvieren die Tätigkeiten in der HPA im Rahmen von Seminaren, Teilzeitpraktika oder freiwillig im Rahmen ihres Studiums. Für die psychomotorische Praxis stehen ein größerer Aktionsraum und ein Spielraum mit zahlreichen psychomotorischen Materialien zur Verfügung (Abb. 1). Zudem verfügt die HPA über einen Gesprächsraum sowie eine eigene »Testothek« mit zahlreichen aktuellen diagnostischen Verfahren, die sowohl von Studierenden und Lehrenden der Hochschule als auch auswärtigen PraxispartnerInnen entliehen werden können. Die gesamten Prozesse werden in Form von wöchentlichen Fallbesprechungen und individuellen, videogestützten Reflexionen durch eine hauptamtliche Mitarbeiterin (Frau Hünerbein) begleitet. Des Weiteren erlangen Studierende Kompetenzen in Gesprächsführung sowie der Dokumentation von Entwicklungsverläufen. Kooperationen finden mit Frühförder- und Beratungsstellen, Kindergärten, Schulen, Jugendämtern und weiteren Institutionen statt. Hierdurch Abb. 1: Förderraum der HPA [ 207 ] Insight-- Erfahrungen aus der Praxis 4 | 2023 wird die Bedeutung von Kooperation und Interdisziplinarität erfahrbar. Unser Berufsalltag Der Arbeitsalltag ähnelt dem einer freien psychomotorisch-heilpädagogischen Praxis. Die Türen sind montags bis freitags ab 8.00 Uhr bis 17.30 Uhr geöffnet. Termine werden mit der Klientel bedürfnisorientiert individuell vereinbart. In der HPA wird mit Menschen im Alter zwischen Null bis ins Erwachsenenalter gearbeitet. Die Studierenden erhalten in der HPA direkt und konkret Einblicke in die Praxis. Schwerpunktmäßig kommen Kinder im Grundschul- und Jugendalter in die HPA. Zielgruppen der Angebote sind Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf bzgl. Bewegung, Wahrnehmung, Lernen und/ oder sozial-emotionaler Entwicklung. Eine Werbung ist nicht erforderlich, da zahlreiche Anfragen über »Mundpropaganda« ehemaliger Studierender, Familien oder Institutionen erfolgt. Ziel der psychomotorischen Förderung auf der Basis eines kognitiven Modells ist das Erreichen von eigenständiger Handlungskompetenz. Um dieses Ziel in der HPA zu erreichen, werden vielfältige Handlungssituationen geschaffen, die es erlauben, individuell neue Erfahrungen zu sammeln und die ein Zusammenspiel von Bewegung, Wahrnehmung, Erleben, Denken und Fühlen ermöglichen (Eggert/ Lütje- Klose, 2005). Psychomotorische Entwicklungsförderung ist sowohl als Einzel- oder Gruppenangebot (2-5 Kinder) möglich. Gespräche und eine Zusammenarbeit mit Bezugspersonen finden vor dem Start der Angebote und fortlaufend bei beidseitigem Bedarf statt. Ein hoher Arbeitsaufwand besteht neben den zu reflektierenden Praxisangeboten darin, dass umfangreiche Gutachten im Anschluss an durchgeführte diagnostische Prozesse verfasst werden. Die Gutachten sind für die Familien, die sie nachfolgend nutzen können, um Förderangebote in der Schule oder bei anderen Trägern zu erhalten. Eine feste volle Stelle, Kosten für genutzte Räumlichkeiten und Materialien werden durch die Hochschule finanziert. Dank der Hochschule, die alle Kosten (Personal- und Sachkosten) finanziert, sind alle Angebote (Diagnostik, Förderung, Gespräche) kostenfrei und damit ist der Zugang für Familien sehr niederschwellig, da sie anderweitig keine Gelder beim Sozial- oder Jugendamt oder der Krankenkasse beantragen müssen. Unser theoriegeleiteter Zugang Unserer psychomotorischen Arbeit liegt ein ganzheitlich orientiertes humanistisches Menschenbild zugrunde. Es ist geprägt von dem humanistischen, psychologischen Ansatz nach Rogers mit seinen Überlegungen zu Aspekten positiver zwischenmenschlicher Beziehungsgestaltung. Zudem wird Entwicklung als lebenslanger Prozess verstanden, der durch das aktiv handelnde Individuum in seinen verschiedenen ökologischen Kontexten geprägt ist. Aus heilpädagogischer Perspektive ist das zugrundeliegende Menschenbild angelehnt an Haeberlin (1998, 70) und umfasst »Glauben an die Gleichheit der Menschenwürde und an die dadurch entstehende Nächstenliebe«. Unter speziell psychomotorischer Perspektive lehnen wir uns an das vom Europäischen Forum für Psychomotorik (EFP) formulierte holistische Menschenbild an, »das von einer Einheit von Körper, Seele und Geist ausgeht« und den Begriff Psychomotorik als »Wechselwirkung von Kognition, Emotion und Bewegung und deren Bedeutung für die Entwicklung der Handlungskompetenz des Individuums im psychosozialen Kontext« versteht (European Forum of Psychomotricity, o. J.). Theoretische Bezüge liegen in der Sinnes- und Bewegungsschulung sowie in der Rhythmik und weiterführend in entwicklungspsychologischen Erkenntnissen. Entsprechend den Fragestellungen orientieren wir uns an entwicklungspsychologischen Überlegungen zum Beispiel von Bronfenbrenner (1989), Axline (1980), Rogers (1973), Cohn (1975), Bruner (1983) und Piaget (1973). Dabei spielt Bewegung die zentrale Rolle für den angestrebten Entwicklungsprozess. Primär orientieren wir uns an den Theorien der kognitiven Konzepte (vgl. Seewald 2009; Reichenbach 2009). Damit verbunden ist die Auseinandersetzung mit Prozessen, die das Wahrnehmen, Erkennen, Begreifen, Urteilen und Erschließen erklären (Davison et al. 2002). Durch neue Handlungserfahrungen vor allem im Bewegungs- und Wahrnehmungsbereich sowie durch das Entwickeln von Lösungsstrategien wird Neues gelernt, Wissen verarbeitet und beides miteinander vernetzt. Kognitive Informationsverarbeitungsprozesse sind somit die Grundlage für den Erwerb neuer Fähigkeiten. Im Sinne der geschilderten theoretischen Zugänge sind die Angebote der HPA individuell abgestimmt und umfassend angelegt. Wir nutzen ein breites Methodenrepertoire qualitativer und quantitativer Verfahren sowie vielfältiger Methoden (Screenings, Inventare, Tests, u. a.) (vgl. Reichenbach / Thiemann 2018). Unsere Bedeutsamkeit/ Unsere Wirksamkeit In unserem Setting ist Psychomotorik besonders wichtig, da einerseits Studierende praxisnah erleben, wie über das Medium Bewegung Förderprozesse initiiert werden können. Andererseits erfahren wir immer wieder, dass [ 208 ] 4 | 2023 Insight-- Erfahrungen aus der Praxis über die Psychomotorische Förderung Kinder und Jugendliche besonders gut erreicht und motiviert werden können, sich auf Lernprozesse einzulassen. Zudem ist die Möglichkeit, im Rahmen psychomotorischer Förderung verschiedene Angebote zu gestalten, sehr groß und kann thematisch und inhaltlich sehr gut individuell abgestimmt werden. Auch wenn wir keine Studien zur Wirksamkeit initiiert haben, gibt es durchweg positive Rückmeldungen zur Zufriedenheit von Bezugspersonen, Kindern und Jugendlichen sowie Studierenden: stärkende und ressourcenorientierte Lernerfahrungen können in den Alltag übertragen werden. Psychomotorik hat eine besondere Bedeutsamkeit im Rahmen der Arbeit in der HPA sowie des Studiengangs HP / IP an der EvH. Studierende profitieren sehr von diesen Inhalten sowohl während des Studiums als auch in der anschließenden Berufspraxis. Literatur Axline, V. M. (1980): Kinderspieltherapie. Reinhardt, München Bronfenbrenner, U. (1989): Ökologie der Entwicklung. Fischer, Frankfurt Bruner, J. (1983): Wie das Kind sprechen lernt. Huber, Bern Cohn, R. (1975): Themenzentrierte Interaktion. Klett-Cotta, Stuttgart Davison, G. C., Neale, J. M., Hautzinger, M. (2002): Klinische Psychologie. 6.-Aufl. Beltz, Weinheim Eggert, D., Lütje-Klose, B. (2005): Theorie und Praxis psychomotorischer Förderung. borgmann, Dortmund European Forum of Psychomotricity (o. J.): Satzung. § 1 Präambel. In: https: / / psychomot.org/ wp-content/ uploads/ 2012/ 09/ statutes-german_1996.pdf, 02.07.2023 Haeberlin, U. (1998): Das Menschenbild für die Heilpädagogik. 4. Aufl. Haupt, Bern Piaget, J. (1973): Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. 3. Aufl. Klett, Stuttgart Seewald, J. (2009): Wann ist ein Ansatz ein Ansatz? Über Kriterien für psychomotorische Ansätze. Praxis für Psychomotorik 34, 1, 31-34 Reichenbach, C. (2009): Psychomotorik. UTB Reinhardt, München Reichenbach, C., Thiemann, H. (2018): Lehrbuch diagnostischer Grundlagen der Heil- und Sonderpädagogik. verlag modernes lernen, Dortmund Rogers, C. R. (1973): Die klient-bezogene Gesprächstherapie. Reinhardt, München DOI 10.2378 / mot2023.art38d Die AutorInnen Prof. Dr. Christina Reichenbach Diplom-Pädagogin (Schwerpunkt Psychomotorik), langjährige praktische Tätigkeit als Psychomotoriktherapeutin, 11 Jahre am Ernst- Kiphard-Berufskolleg, Fachschule für Motopädie, Dortmund. Seit 2009 an der Ev. Hochschule R-W-L in Bochum im Studiengang Heilpädagogik/ Inklusive Pädagogik. Schwerpunkte ihrer Arbeit: psychomotorische Entwicklungsförderung (Praxis und Theorie), Theorie und Praxis im Bereich entwicklungsorientierter Diagnostik reichenbach@evh-bochum.de Marie-Luise Hünerbein Dipl.-Heilpädagogin, seit 2010 wiss. Mitarbeiterin in der Heilpädagogischen Ambulanz an der Evangelischen Hochschule R-W-L in Bochum; langjährige Erfahrung im Praxisfeld der frühkindlichen Erziehung, Bildung und Förderung; Entwicklungsbegleiterin nach Doering und Doering; sandspieltherapeutische Begleitung in der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis; Lehrbeauftragte zu den Themen frühkindliche Entwicklung, Spiel und heilpädagogische Entwicklungsbegleitung hpa@evh-bochum.de