eJournals Motorik 47/1

Motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2024
471

Forum Psychomotorik: »Diagnostik mit Bauchgefühl?«

11
2024
Susanne Amft
Wolfgang Beudels
Iris Bräuninger
Gerd Hölter
Mone Welsche
Die Motor Behavior Checklist (MBC) ist ein psychomotorisch orientiertes Beobachtungsverfahren für Kinder. Im Mittelpunkt steht die gezielte Beobachtung von Merkmalen des Bewegungsverhaltens in Alltagssituationen in der Gruppe. In enger Anlehnung an die englischsprachige Vorlage wurde von dem AutorInnen-Team eine deutschsprachige Anpassung erarbeitet und für die Altersspanne 4–10 Jahre erprobt. In dem Beitrag werden die Hintergründe des Verfahrens, seine spezifischen Merkmale und praktische Handhabung dargestellt, diskutiert sowie kritisch reflektiert.
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Zusammenfassung / Abstract Die Motor Behavior Checklist (MBC) ist ein psychomotorisch orientiertes Beobachtungsverfahren für Kinder. Im Mittelpunkt steht die gezielte Beobachtung von Merkmalen des Bewegungsverhaltens in Alltagssituationen in der Gruppe. In enger Anlehnung an die englischsprachige Vorlage wurde von dem AutorInnen-Team eine deutschsprachige Anpassung erarbeitet und für die Altersspanne 4-10 Jahre erprobt. In dem Beitrag werden die Hintergründe des Verfahrens, seine spezifischen Merkmale und praktische Handhabung dargestellt, diskutiert sowie kritisch reflektiert. Schlüsselbegriffe: Beobachtungsverfahren, Bewegungsverhalten, auffälliges Verhalten, Vor- und Grundschulkinder »Diagnostics with gut feeling? « The Motor Behavior Checklist (MBC) as an instrument for observing and documenting behavioral problems in childhood The Movement Behavior Checklist (MBC) is a psychomotor-oriented observation method for children. The focus is on the targeted observation of characteristics of movement behavior in everyday situations in the group. In close accordance with the English-language original, the authors developed a German-language adaptation and tested it for the age range 4-10 years. In this article, the background of the procedure, its more detailed description and practical handling as well as its critical evaluation are presented and discussed. Keywords: observation methods, movement behavior, behavioral problems, preschool and primary school children [ 4 ] 1 | 2024 motorik, 47. Jg., 4-11, DOI 10.2378 / mot2024.art02d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] »Diagnostik mit Bauchgefühl? « Die Motor Behavior Checklist (MBC) als Instrument zur Beobachtung und Dokumentation von auffälligem Verhalten im Kindesalter Susanne Amft, Wolfgang Beudels, Iris Bräuninger, Gerd Hölter, Mone Welsche Einleitung »Wissen Sie, Bauchgefühl klingt so nach Schmetterlingen im Bauch, aber ich meine damit meine aus Erfahrung gewachsene Intuition, die sich häufig durch eine spätere Diagnostik bestätigt. Fast im Wochenrhythmus kommen Anfragen von der Schulbehörde oder der Uni mit beigelegten Fragebögen, die nach phonologischer Bewusstheit, Hypo- oder Hyperaktivität, familiärem Bildungspotenzial und so weiter fragen. Mich nervt das total, nicht nur wegen des zusätzlichen Aufwands, sondern weil solche Aktionen für mich und die Kinder überwiegend folgenlos bleiben. Und dann lese ich irgendwann in der Presse, wie desaströs die Situation in den Kitas und im Bildungswesen im Allgemeinen sei! 11% Sprachentwicklungsstörungen, 7 % Adipositas, 5 % ADHS, über 4 % Anpassungsstörungen und Störungen des Sozialverhaltens, 3,5 % motorische Störungen und so weiter. Mein Gott, ich arbeite doch nicht in einer Kinderklinik und die meisten der genannten Auffälligkeiten merke ich spätestens nach vier Wochen ganz ohne zusätzliche Erhebungen. Ja, in unserer Einrichtung gibt es regelmäßig Fallkonferenzen, meistens mit kollektivem Jammern, aber Konsequenzen haben die kaum. Ich frage Sie zurück: Wo sind die zusätzlichen Räume für Kleingruppen, die Zeiten zum Innehalten und zur Fortbildung, die SchulassistentInnen, Schulpflegefachpersonen und SozialarbeiterInnen, wo bleibt sie, die kontinuierliche Supervision und eine schulintegrierte Förderung? « Gespräch mit Katja. B., Lehrerin an einer deutschen Grundschule, Juni 2023. Nach diesem ernüchternden Auftakt stellen wir im Folgenden mit der Motor Behavior Checklist (MBC) von Efstratopoulou et al. (2012a) ein In- [ 5 ] Amft et al. • »Diagnostik mit Bauchgefühl? « 1 | 2024 strument zur systematischen und strukturierten Beobachtung von besonderen Verhaltensmerkmalen vor, die sich im Spiel- und Bewegungsverhalten von Kindern äußern können. Beobachtungen sind im Sinne eines Screenings eher der informellen Diagnostik, d. h. einer Stegreif-Diagnostik oder einer Diagnostik mit Bauchgefühl zuzuordnen. Hierdurch kann allerdings der Weg zu einer semi-informellen Diagnostik geöffnet und so bei der momentanen Evidenzeuphorie in allen Fachgebieten auch eine Brücke zur sog. internen Evidenz geschlagen werden (Hölter 2012, Niederkofler 2023). Bei jeder zusätzlichen diagnostischen Maßnahme in Kindergarten und Schule ist aus unserer Sicht, wie auch aus der Sicht der Lehrerin in der Eingangssequenz, zu fragen: »Was bringt uns Sehen und Beurteilen für das praktische Handeln? « oder etwas konkreter: »Welchen Sinn macht die Einführung eines weiteren diagnostischen Instruments? « Hierauf wird im ersten Teil des Beitrags näher eingegangen. Im Weiteren werden dann die Hintergründe, der Prozess der deutschen Übersetzung der MBC und die erste Erprobung in der Praxis näher erläutert. Abschließend werden wir unter Bezug auf die Leitidee »Keine Diagnostik ohne Förderung und keine Förderung ohne Diagnostik« (Anders 2023), Konsequenzen für die Praxis vorschlagen. Hintergründe Warum die Beobachtung des Bewegungsverhaltens? Das Bemühen, aus dem Bewegungsverhalten von Menschen im Alltag oder in besonderen Bewegungs- und Spielsituationen Rückschlüsse auf Aspekte der Persönlichkeit zu ziehen, ist nicht neu. Aus diesem Bestreben ist vor über hundert Jahren auch der Begriff der Psychomotorik entstanden. Ähnlich alt ist das Bemühen, die häufig spontanen oder unbewusst ablaufenden Beobachtungen und Rückschlüsse ›aus dem Bauchgefühl‹ zu dokumentieren und zu ordnen. Dies macht vor allem deswegen Sinn, um eine bessere Kommunikation unter Fachpersonen zu fördern und evtl. gemeinsam Strategien einer gezielten Verhaltensänderung zu planen. Mit dieser Zielsetzung sind im Laufe der Zeit zahlreiche Tests und auch Beobachtungsverfahren entstanden, die vor allem in der heil- und sonderpädagogischen sowie in der klinischen Diagnostik und Klassifikation eine bedeutsame Rolle spielen. Obwohl, vor allem im Kindesalter, Bewegung die dominierende Form des zur und in der Welt Seins darstellt (Merleau-Ponty 1966), wird das Bewegungsverhalten im pädagogischen Alltag im deutschsprachigen Raum wenig systematisch beobachtet. Die Beobachtung mit der MBC bezieht sich nur zum Teil unmittelbar auf Bewegungssituationen in einem sportlich-spielerischen Sinne, sondern im Mittelpunkt steht die Bewegung als ein allgemeines Ausdrucksphänomen des kindlichen Verhaltens und Erlebens. Ob ein Kind bastelt, schreibt, vorliest, singt, einen Turm im Sandkasten baut oder schaukelt … sein Verhalten ist bis zu einem bestimmten Alter dominierend psychomotorisch. Im Jugend- und später im Erwachsenenalter findet hingegen eine zunehmende De- Somatisierung statt. Interessanterweise ist bei Menschen in Belastungssituationen oder auch bei schweren psychischen Erkrankungen eine Re-Somatisierung wie Nägelkauen, Schaukeln oder Zusammenkauern zu beobachten. Die Beobachtung des Bewegungsausdrucks hat vor allem in Anlehnung an von Labans Bewegungsanalyse (1988) eine lange Tradition und sie spielt ebenfalls in der Beobachtung von nonverbalem Verhalten in Psychologie, Tanz-, Bewegungspädagogik und -therapie eine bedeutende Rolle (Kennedy 2010). Es ist hier zu betonen, dass die Analyse, Beobachtung und Messung der Bewegungshandlung selbst ein anderes Untersuchungsfeld ist, wobei wir hier für alle Altersgruppen über hervorragende Messinstrumente zur Bewegungskompetenz verfügen (Reichenbach / Tiemann 2013; Niederkofler 2023). Diagnostik mit oder ohne Bauchgefühl-- gleichzeitig eine stärkere Defizitorientierung und Stigmatisierung? Es ist tatsächlich so, dass frühe diagnostische Einschätzungen und Festlegungen Entwicklungs- und Bildungschancen erheblich beeinflussen können. Am Ende des letzten Jahrhunderts sind [ 6 ] 1 | 2024 Forum Psychomotorik vor allem in der Heil- und Sonderpädagogik und z. T. in der Psychologie diverse Schlachten um Status- und Prozessdiagnostik, um die Gefahren der Stigmatisierung und vorschnelle Normzuweisungen geschlagen worden (Reichenbach / Thiemann 2013). Davon war (und ist) auch die Psychomotorik nicht ausgenommen. Bei der Erprobung der MBC wurde manchmal die Defizitorientierung des Verfahrens beklagt, was allerdings auf die meisten diagnostischen Verfahren zutrifft. Dies entspricht auch der griechischen Wortbedeutung von Diagnostik als der Fähigkeit zu unterscheiden. So fallen der Lehrerin im Eingangsstatement vor allem die Kinder auf, die einer unausgesprochenen Norm nicht entsprechen. Trotz der MBC als semi-formelles Verfahren (s. u.) wurden wir häufig nach einem sog. Cut-Off Wert gefragt: »Ja, wann ist das Kind denn auffällig und bei welchem Wert soll ich das melden? « Offensichtlich besteht trotz des Bauchgefühls das Bedürfnis nach einer formellen diagnostischen Bestätigung. Bei standardisierten Motoriktests (z. B. MOT 4-6, Zimmer 2015) kann dies durch einen niedrigen Motorikquotienten (MQ ) oder Prozentrang begründet werden. Dies ist bei einem qualitativen Beobachtungsverfahren wie der MBC erheblich schwieriger bzw. unmöglich, da hier die Subjektivität der BeobachterIn die Resultate erheblich beeinflussen kann und auch keine Alternsnormen vorliegen. Zu betonen ist, dass eine Verhaltensauffälligkeit nur diagnostiziert werden kann, wenn diese situationsunspezifisch bzw. in mehreren Lebensbereichen beobachtbar ist. Die Beobachtung des Kindes in unterschiedlichen Situationen und durch mehrere Personen ermöglicht eine höhere Objektivität. Wenn wir das heil- und sonderpädagogische Referenzsystem verlassen, dann gelten andere Regeln als dies bei Klassifikationsverfahren, vor allem der ICD und dem DSM, in der Medizin und der klinischen Psychodiagnostik der Fall ist. Auch eine Kostenübernahme durch Krankenkassen und / oder Jugendämter wird in Deutschland nur gewährt, wenn eine klare medizinnahe Diagnose vorgelegt werden kann. Hier stellt die MBC als niederschwelliges, semi-formelles Instrument in diesem Verwendungszusammenhang eine wichtige Ergänzung zu anderen diagnostischen Verfahren dar. Die Motor Behavior Checklist (MBC) Entstehung und Einordnung Die MBC wurde von Efstratopoulou et al. (2012b) entwickelt, um SportlehrerInnen in griechischen Grundschulen ein zuverlässiges und ökonomisches Instrument an die Hand zu geben, mit dem sie das motorische Verhalten von SchülerInnen von sechs bis elf Jahren erfassen und auffällige Verhaltensweisen frühzeitig erkennen können. Die MBC ist als Beobachtungsinstrument mit einer Screeningfunktion konzipiert. Sie soll pädagogische und therapeutische Fachkräfte unterstützen, sozial-emotionale Auffälligkeiten in alltagsnahen Spiel- und Bewegungssituationen sowie in (sport)unterrichtlichen Zusammenhängen verlässlich und ökonomisch zu erkennen und einzuschätzen. Die Erfassung geschieht durch einen standardisierten Beobachtungsbogen mit vorformulierten Items. Zugrunde liegt die Annahme, dass sich bestimmte soziale und emotionale Auffälligkeiten im Bewegungsverhalten ausdrücken. Die MBC wurde bislang in mindestens sieben Sprachen übersetzt. Eine erste deutschsprachige Version liegt seit 2022 vor (Amft et al. 2022), die nach einer Erprobungsphase in unterschiedlichen pädagogischen und therapeutischen Handlungsfeldern eingesetzt werden kann. Die Entwicklung der Items erfolgte durch SportlehrerInnen, die im Unterricht Auffälligkeiten im Bewegungsverhalten beobachteten und auflisteten. Diese Beobachtungen wurden in einem nächsten Schritt von einem ExpertInnenteam anhand des DSM-IV und der ICD-10 Diagnosekriterien kategorisiert und als Items formuliert. Über eine Clusteranalyse gelang schließlich die Reduktion von 85 Items in der ersten Version auf die nun auch in der deutschen Version aufgelisteten 59 Items. Trotz Bauchgefühl besteht das Bedürfnis nach einer formellen diagnostischen Abklärung. [ 7 ] Amft • »Diagnostik mit Bauchgefühl? « 1 | 2024 [ 7 ] Amft et al. • »Diagnostik mit Bauchgefühl? « 1 | 2024 Struktur Die MBC umfasst 59 Items, die in zwei Breitbandfaktoren (externalisierend und internalisierend) sowie in sieben Verhaltenskategorien bzw. Problemskalen unterteilt sind (vgl. Tabelle 1). Die Bewertung erfolgt jeweils anhand einer 5 Punkte Likert-Skala, die von nie (0) bis fast immer (4) reicht. In Anbetracht der Bedeutung der Frühdiagnostik wird mit der MBC ein Beurteilungsinstrument im Sinne einer Sensibilisierung zur Erkennung von Risikokindern für verschiedene emotionale und Verhaltensstörungen, so u. a. ADHS, Angststörung, Depressionen oder auch Autismus-Spektrum-Störungen (s. DSM-IV und ICD-10) entwickelt. Zielsetzung Nach Efstratopoulou besteht das Ziel der MBC nicht darin, eine klinische Diagnose zu erstellen, sondern darin, den pädagogischen und therapeutischen Fachkräften zu helfen, vorhersagbare Aussagen über das Verhalten zu machen, und um risikogefährdete Kinder frühzeitig zu erkennen. Aufgrund der Beobachtung des Bewegungsverhaltens kann eine individuelle Einschätzung hinsichtlich weiterer Verhaltensmerkmale erstellt werden. Deshalb wird von einem Gesamtscore abgesehen und die Verwendung von getrennten Werten für die einzelnen Problembereiche des Verhaltens empfohlen, um individuelle Förderangebote zu entwerfen und die Einschätzung, ob Kinder noch weitere Diagnostik benötigen, zu erleichtern (Efstratopoulou 2012). Gütekriterien Anhand der Daten einer Stichprobe von Kindern im Grundschulalter (n = 841) wurden die Konstruktvalidität, die Reliabilität und die Inter-Rater-Übereinstimmung der MBC untersucht (Efstratopoulou et al. 2012b). Dazu wurde eine Multitrait-Multimethod Validierung (MTMM) verwendet, die Daten aus vier weiteren Verhaltensbeobachtungsinstrumenten nutzte. Es gab signifikante Korrelationen zwischen den entsprechenden Skalen der Instrumente. Die Korrelation zwischen pädagogischen und therapeutischen Fachkräften war signifikant höher als zwischen PädagogInnen und Eltern. Diese Diskrepanz entspricht den Ergebnissen bei anderen Fragebogenverfahren wie z. B. der CBCL (Döpfner et al. 2014). Der Grad der Übereinstimmung zwischen dem Test in der Wiederholungsprüfung war signifikant. Die Inter-Rater-Übereinstimmung für alle Probleme war signifikant. Die höchste Übereinstimmung gab es bei den Skalen für externale Probleme, die geringste Übereinstimmung bei der Skala »Mangelhafte Sozialkompetenz.« Die psychometrischen Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass die MBC ein vielversprechen- Tab. 1: Übersicht über die Kategorisierung der MBC mit Beispielitems (Amft et al. 2022) Externalisierende Skala Internalisierende Skala Nichteinhalten von Regeln (7 Items) Das K. verhält sich aggressiv gegenüber pädagogischen Fachpersonen. Antriebsarmut (4 Items) Das K. zeigt ein vermindertes Aktivitätsniveau. Hyperaktivität/ Impulsivität (14 Items) Das K. hat Schwierigkeiten zu warten, bis es an der Reihe ist. Stereotypes Verhalten (2 Items) Das K. wiederholt ständig bestimmte Bewegungsmuster. Mangel an Aufmerksamkeit (10 Items) Dem K. fällt es schwer, länger bei einer Aufgabe zu bleiben. Mangelhafte Sozialkompetenz (10 Items) Das K. will keinen Körperkontakt. Mangelhafte Selbstregulation (12 Items) Das K. hantiert ständig mit anderen Gegenständen herum. [ 8 ] 1 | 2024 Forum Psychomotorik des Instrument ist, das valide Einschätzungen zu externalisierendem Verhalten und sozialen Problemen bei Kindern liefern kann. Methodik Übersetzung und kulturelle Anpassung Das AutorInnen-Team übersetzte in einem an Efstratopoulou et al. (2023) und Paiano et al. (2019) angelehnten mehrstufigen Prozess die englische MBC-Originalversion nach international bei solchen Verfahren üblichen Regeln ins Deutsche. Dazu gehören u. a. die Vorwärtsübersetzung des Originalinstruments ins Deutsche und die Entwicklung einer Synthese des Übersetzens von verschiedenen Übersetzungsversionen in andere Sprachen. Nach der Rückübersetzung der ersten deutschen Version in die englische Sprache und einem semantischen Vergleich beider Versionen konnte eine Bewertung abweichender Elemente erfolgen und ein erster deutscher Bogen entwickelt werden, der durch Fachkräfte einer Praxiserprobung unterzogen wurde (s. u.). Die gesamte Entwicklungsarbeit erfolgte in dem Bemühen, möglichst nahe an der englischen Version zu bleiben und gleichzeitig Formulierungen zu finden, welche grammatikalisch vertretbar und im deutschsprachigen Raum aussagekräftig und akzeptabel sind. Manche Formulierungen im englischen Original konnten nicht 1: 1 übersetzt werden, sondern mussten im Prozess des Versuchs einer kulturellen Anpassung interpretiert werden. So wurde z. B. nach ausführlicher Diskussion das Item »The child doesn’t want physical contact« mit »Das Kind lehnt Körperkontakt ab« übersetzt oder das Item »The child plays too rough during team games« mit »Das Kind verhält sich in Regelspielen unfair«. Die Klärung über unterschiedliche Termini und Bedeutungen von Begriffen sowie das Ringen um eine passende Formulierung fand immer im gesamten AutorInnen-Team statt, um eine möglichst gute Übersetzung zu erreichen. Dies war sicherlich der mit Abstand zeitintensivste Teil des Prozesses. Praxiserprobung Ob die MBC für den deutschsprachigen Raum ein handhabbares Instrument darstellt, wurde anhand einer Befragung von 38 pädagogischen und therapeutischen Fachkräften (n = 33 weiblich, n = 5 männlich, Alter Mittelwert 43 Jahre) untersucht. Die MBC wurde bei 48 Kindern (Durchschnittsalter 6,9 Jahre) mit und ohne Beeinträchtigung und z. T. mit Mehrfachdiagnosen in unterschiedlichen Settings (z. B. angeleiteten Situationen, Bewegungssituationen, Freispiel, Sportunterricht, Schulpausen, Gruppenalltag) eingesetzt. Nach der Erprobung wurden die Fachkräfte um ihr Feedback zur MBC gebeten. Die Auswertung der erhobenen Daten erfolgte qualitativ und deskriptiv und zeigt, dass die MBC als ökonomisches Instrument für verschiedene Praxisfelder und Beobachtungssituationen als praxistauglich beurteilt wird. Darüber hinaus wurde die MBC zur systematischen Erfassung eines ersten Eindrucks, als Screening und zur Prozessdokumentation als sinnvoll bewertet. Zusätzlich zu dieser Erprobung wurde die MBC durch ExpertInnen im Rahmen von Fortbildungen zum Thema Diagnostik erprobt. Die Verbesserungsvorschläge der Fachkräfte bezogen sich auf die Umformulierung einzelner Items, die Änderung der Reihenfolge und das Auswertungsprozedere. Ferner wurden Fragen zur Aussagekraft und zu Handlungsempfehlungen formuliert. Im nächsten Schritt erfolgte durch das AutorInnen-Team eine erneute kritische Durchsicht. In der finalen deutschen Version konnten nicht alle Feedbacks berücksichtigt werden: Beispielsweise wurde die Reihenfolge der Items beibehalten, da das Instrument so ursprünglich validiert wurde. Handhabung und Auswertung Das Ziel des Beobachtungsverfahrens ist es nicht, eine Verhaltensauffälligkeit oder -störung Erprobung der deutschen Version durch pädagogische und therapeutische Fachkräfte [ 9 ] Amft • »Diagnostik mit Bauchgefühl? « 1 | 2024 [ 9 ] Amft et al. • »Diagnostik mit Bauchgefühl? « 1 | 2024 bei Kindern zu diagnostizieren, sondern im Sinne eines Screenings Kinder zu identifizieren, bei denen der Verdacht auf eine externalisierende oder internalisierende Verhaltensauffälligkeit bzw. -störung vorliegt oder vorliegen könnte, um diese dann in einer differenzierteren Diagnostik näher abzuklären. Im Gegensatz zu anderen Beobachtungsverfahren in Kita und Schule wird die MBC nicht bei allen Kindern regelmäßig zu vorbestimmten Zeitpunkten eingesetzt, wie es z. B. häufig in der Kita bei Sprachentwicklungstests der Fall ist, sondern nur bei »Bedarf«. Anlass für die Anwendung des Verfahrens ist also ein in den aufmerksamen, professionellen Blick einer Fachkraft geratenes Kind mit auffälligem, aber zunächst schwer einzuordnendem Verhalten. Die Einschätzung mit Hilfe der vorgegebenen Items findet im Anschluss an die pädagogische oder therapeutische Situation und immer auf Grundlage von Beobachtungen in mehreren unterschiedlichen Situationen statt. Idealerweise sollten die Beobachtungsergebnisse von zwei Fachkräften zu dem betreffenden Kind miteinander verglichen und diskutiert werden. Auf der Homepage www.gerd-hoelter.com wird die MBC mit einer ausführlichen Anleitung sowohl als Paper-Pencil-Version (mit einer zusätzlichen Auswertungsschablone) als auch in digitaler Form, in welche alle Formeln für die Auswertung integriert sind, zum kostenlosen Download zur Verfügung stehen (Zusendung des Links über die u.g. Kontaktadresse). Jedes der 59 Items wird in einer fünfstufigen Skala eingeschätzt, im Gegensatz zum Original in einem Ranking von 1 bis 5 (statt von 0-4): nie (1) / manchmal (2) / oft (3) / sehr häufig (4) / fast immer (5). So wird sichergestellt, dass u. U. nicht angekreuzte Items mit dem Wert »0« in die Auswertung einfließen. Die Auswertung, die im Bogen selbst schrittweise und geführt vorgenommen wird, erfolgt durch Summierung der zu jeder Kategorie erhobenen Werte. Ein Teilscore wird dann durch Division mit der Anzahl der jeweiligen Items errechnet. Ein Gesamtwert, getrennt für Externalisierung und Internalisierung, ergibt sich durch die Summierung der zugeordneten Teilscores und die Division durch drei bzw. vier. Nach Diskussion im AutorInnen-Team lassen sich zumindest aus den Gesamtwerten zu den Bereichen externalisierende und internalisierende Verhaltensweisen durch semi-formelle Beobachtungen begründete Handlungsziele ableiten. Bei der Interpretation der Werte zu den einzelnen Kategorien ist zu beachten, dass sich diese aus einer sehr unterschiedlichen Anzahl von Items errechnen. Vor allem die Scores der Kategorien I, IV und V sind nicht isoliert interpretierbar, sondern liefern eher ergänzende Hinweise zum Gesamtbild. Bei der Interpretation der Scores sollte man zudem bedenken, dass diesem Verfahren keine (Alters)Normen zugrunde liegen, d. h. eine Zuordnung des individuellen Ergebnisses zu entwicklungsgerechter vs. auffälliger Entwicklung nicht möglich ist. Zur Bewertung der erhobenen Beobachtungen erscheint uns derzeit die folgende Einteilung plausibel und nützlich: Teilscore / Gesamtscore: ■ 0 bis 2,5  kein Handlungsbedarf ■ 2,6 bis 3,5  erneute Beobachtung ratsam ■ 3,6 bis 5  Einleitung einer differenzierten diagnostischen Abklärung erforderlich Fazit und Perspektive Wie lässt sich der eingangs zitierte Leitsatz Keine Diagnostik ohne Förderung und keine Förderung ohne Diagnostik! im pädagogischen Alltag konstruktiv umsetzen? Aus unserer Sicht ist es im Hinblick auf eine angemessene Förderung sinnvoll, zwei Handlungsebenen voneinander zu unterscheiden. Institutionsnahe Handlungsebene Die eingangs von der Kollegin erwähnten Fallkonferenzen haben trotz Jammern und Klagen auch eine wichtige psychohygienische Funktion. Ableitung von gezieltem Handeln [ 10 ] 1 | 2024 Forum Psychomotorik Darüber hinaus können jedoch systematisch ermittelte, semi-formelle Daten im Austausch mit KollegInnen im Gegensatz zu einer Stehgreifdiagnostik oder einem ›Bauchgefühl‹ zu einer vertieften und damit evtl. auch validierten Beurteilung führen: Wie beurteilen meine KollegInnen meine Beobachtungen? Wo setzen wir in unserer Institution eine Grenze, um Auffälligkeiten noch mit unseren pädagogischen Kompetenzen ›systemintern‹ angemessen begegnen zu können? Benötigen wir externe Hilfen und welche? Eine Grenzziehung zwischen systeminternen und -externen Interventionen ist fließend. Sie hängt u. a. von den institutionsnahen Ressourcen ab. Gibt es die Möglichkeit zur Kleingruppenförderung, wie heute beispielhaft in der Schweiz die schulintegrierte Psychomotorik und Sprachförderung oder wie der lange in Deutschland recht erfolgreiche Sportförderunterricht? Oder können sog. Rucksackmodelle Hilfen und Unterstützung durch Zeit, Geld und zusätzliches Personal für pädagogische Einrichtungen mit einem hohen Anteil an förderungsbedürftigen Kindern bieten? Institutionsübergreifende Handlungsebene Die Lehrerin in dem Interview deutet es schon an: Über eine diagnostische Abklärung von Ursachen sollen auf das Individuum bezogene Maßnahmen folgen bzw. ermöglicht werden, so auch mit der MBC bei auffälligem Verhalten. Es sind die hochgerechneten Prozentanteile von hunderten von Kindern, die zu einer an die Eigenschaften von Personen gebundenen Rangordnung auffälliger Verhaltensmerkmale führen. Dies steht in der Tradition des medizinischen Modells, das heutzutage durch ein kontextuelles Modell in der Diskussion um die Wirkfaktoren pädagogischer wie therapeutischer Beeinflussung zu ergänzen ist (Wampold et al. 2018). Sprach- und Bewegungsauffälligkeiten, Ängste und aggressives Verhalten fallen nicht vom Himmel, sondern sind zu einem großen Teil spezifischen sozialen Situationen und anderen äußeren Gegebenheiten geschuldet. Dies ist keine neue Erkenntnis, und Streiks in Kitas, der enorme Personalmangel und der hohe Anteil an Frühberentungen und Arbeitsausfalltagen sind Symptome dieser Verhältnisse. Viele Beschäftigte in Praxis und Theorie, z. T. auch in der Politik, erkennen immer mehr, dass es im Bildungssystem eines entschlossenen und solidarischen Handelns bedarf, um institutionenübergreifend Veränderungen zu bewirken und nachhaltige Rahmenbedingungen zu schaffen, damit individuelle Diagnostik und Förderung wirksam werden kann. Die MBC könnte in diesem Sinne ein kleiner Mosaikstein in dem Bemühen sein, Kinder mit auffälligem Verhalten frühzeitig zu erkennen und zu fördern. Literatur Amft, S., Beudels, W., Bräuninger, I., Hölter, G., Welsche, M. (2022): Die Movement Behavior Checklist von Efrastopoulou et al. in einer dt. Version. Unveröffentlichtes Manuskript Anders, Y. (2023): »Mit Verschulung hat das nichts zu tun« Bildung muss schon in der Kita beginnen«, Die ZEIT Nr. 23 v. 1.6.2023, 41 Döpfner, M., Achenbach, T. M., Plück, J., Kinnen, C., Plück, J. (2014): CBCL / 6-18R-TRF / 6-18R-YSR / 11- 18R: Deutsche Schulalter-Formen der Child Behavior Checklist von Thomas M. Achenbach: Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (CBCL / 6-18R), Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (TRF / 6-18R), Fragebogen für Jugendliche (YSR / 11- 18R). Hogrefe, Göttingen Efstratopoulou, M. (2012): Motor Behavior Checklist for Children. Development and Psychometric Properties in Greek Elementary Education (Dissertation, Biomedical Sciences). Katholische Universität Leuven Efstratopoulou, M., Janssen, R., Simons, J. (2012a): Differentiating children with attention-deficit/ hyperactivity disorder, conduct disorder, learning disabilities and autistic spectrum disorders by means of their motor behavior characteristics. Research in Developmental Disabilities, 33 (1), 196- 204, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.ridd.2011.08.033 Efstratopoulou, M., Janssen, R., Simons, J. (2012b): Agreement among physical educators, teachers and parents on children’s behaviors: A multitrait- multimethod design approach. Research in Developmental Disabilities, 33(5), 1343-1351 Efstratopoulou, M., Opoku, M. P., El Howeris, H., Al- Qahtani, O. (2023). Assessing children at risk in the United Arab Emirates: Validation of the Arabic version of the Motor Behaviour Checklist (MBC) for use in primary school settings. Research in Developmental Disabilities, 136, 104489. https: / / doi. org/ 10.1016/ j.ridd.2023.104489 Hölter, G. (2012): Leitlinien und Evidenzbasierung in der Bewegungstherapie. In: Deimel, H. (Hrsg.): Facetten der Bewegungs- und Sporttherapie in Psy- [ 11 ] Amft • »Diagnostik mit Bauchgefühl? « 1 | 2024 [ 11 ] Amft et al. • »Diagnostik mit Bauchgefühl? « 1 | 2024 chiatrie, Psychosomatik und Suchtbehandlung. Academia, St. Augustin, 100-114 Kennedy, A. (Hrsg.) (2010): Bewegtes Wissen. Berlin: Logos Laban v., R. (1988): Kunst der Bewegung. Verlag Florian Noetzel, Heinrichshofen Niederkofler, B. (2023): Urteilsakkuratheit von Grundschullehrpersonen in der Einschätzung von motorischen Basiskompetenzen. motorik, 46 (3), 26-34 Paiano, R., Teixeira, M. C. T. V., Cantiere, C. N., Efstratopoulou, M. A., Carreiro, L. R. R. (2019): Translation and Cross-Cultural Adaptation of the Motor Behavior Checklist (MBC) into Brazilian Portuguese. Trends in Psychiatry and Psychotherapy, 41 (2), 167-175, doi: 10.1590 / 2237-6089-2017-0104 Reichenbach, C., Tiemann, H. (2013): Lehrbuch diagnostischer Grundlagen der Heil- und Sonderpädagogik. modernes lernen, Dortmund Wampold, B. E., Imel, Z. E., Flückiger, C. (2018): Die Psychotherapie-Debatte- - Was Psychotherapie wirksam macht. Hogrefe, Göttingen Welsche, M., Eschle, L., Zinnecker, L. (2023): Handhabbarkeit und Einsatzfähigkeit der Motor Behavior Checklist im deutschsprachigen Raum aus Sicht von pädagogisch-therapeutischen Fachkräften. Praxis der Psychomotorik (3), 134-141 Zimmer, R. (2015). MOT 4-6. Motoriktest für vierbis sechsjährige Kinder (3. Aufl.). Hogrefe, Göttingen Die Autorinnen und Autoren Prof.in Dr. em. Susanne Amft leitete das Institut für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung an der interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Motologin und Therapeutin für Konzentrative Bewegungstherapie und Tanztherapie Dr. rer. soc. Iris Bräuninger Senior Researcher, Mitarbeiterin am Institut für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung, Dozentin in den Studiengängen Psychomotoriktherapie (BA, MA), Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich, Tanztherapeutin MA (City University London) Prof. Dr. em. Gerd Hölter Studium der Leibeserziehung und Romanistik; Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Professor an der Philipps- Universität Marburg (1985-1994) und der TU-Dortmund (1994-2011); Begründer und Leiter des Bewegungsambulatoriums an der TU Dortmund (1995-2011) Prof. Dr. em. Wolfgang Beudels Lehrer für Sport und Geschichte für die Sekundarstufen I und II, Seniorprofessor an der Hochschule Koblenz, FB Sozialwissenschaften, Leiter des Schwerpunktes »Bewegung und Gesundheit« im MA-Studiengang »Kindheits- und Sozialwissenschaften« Prof.in Dr. Mone Welsche Professorin für Entwicklungsförderung im Kindes- und Jugendalter an der KH Freiburg, Schwerpunkt bewegungsorientierte Methoden und Konzepte in Heilpädagogik und Sozialer Arbeit Anschrift Prof. Dr. Wolfgang Beudels Hochschule Koblenz Fachbereich Sozialwissenschaften Konrad-Zuse-Straße 1 56075 Koblenz E-Mail: beudels@hs-koblenz.de