Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Forum Psychomotorik: ICF-Orientierung in der Motopädieweiterbildung - wie die Fachschule für Motopädie den Weg zu mehr Aktivität und Teilhabe ebnet - ein Praxisbericht
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Markus Serrano
Die aktuellen arbeitsmarktspezifischen Anforderungen an die Qualifikation von MotopädInnen verdeutlichen, dass zunehmend Grundkenntnisse in der Arbeit mit der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) erforderlich sind. Die AbsolventInnen der Fachschule für Motopädie in Hamm erhalten daher seit 2018 durch ein neu konzipiertes Modul ein erstes geeignetes Handlungskonzept an die Hand, um fachlich orientiert und entsprechend vorbereitet in eine inklusiv ausgerichtete Berufswelt zu starten.
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Zusammenfassung / Abstract Die aktuellen arbeitsmarktspezifischen Anforderungen an die Qualifikation von MotopädInnen verdeutlichen, dass zunehmend Grundkenntnisse in der Arbeit mit der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) erforderlich sind. Die AbsolventInnen der Fachschule für Motopädie in Hamm erhalten daher seit 2018 durch ein neu konzipiertes Modul ein erstes geeignetes Handlungskonzept an die Hand, um fachlich orientiert und entsprechend vorbereitet in eine inklusiv ausgerichtete Berufswelt zu starten. Schlüsselbegriffe: ICF, Motopädie, Curriculum, Weiterbildung ICF orientation in further education in motopaedics-- how the school for motopaedics paves the way to more activity and participation-- a practical report The current labor market-specific requirements for the qualification of motopedists make it clear that basic knowledge in working with the ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) is increasingly required. The graduates of school for motopedics in Hamm therefore receive since 2018 by a newly designed module a first suitable action concept at hand to start professionally oriented and appropriately prepared in an inclusive-oriented professional world. Keywords: ICF, motopedics, curriculum, further education [ 75 ] motorik, 47. Jg., 75-78, DOI 10.2378 / mot2024.art12d © Ernst Reinhardt Verlag 2 | 2024 [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] ICF-Orientierung in der Motopädieweiterbildung-- wie die Fachschule für Motopädie den Weg zu mehr Aktivität und Teilhabe ebnet-- ein Praxisbericht Markus Serrano Aktuelle Stellenausschreibungen für Motopäd- Innen, z. B. im Bereich der (Interdisziplinären) Frühförderstellen, fordern zunehmend explizit Grundkenntnisse in der Arbeit mit der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) oder erwarten eine Bereitschaft zur Einarbeitung in dieses Feld. In diesem Beitrag wird daher vorgestellt, wie die Fachschule für Motopädie am LWL-Berufskolleg in Hamm ihre AbsolventInnen auf die Arbeit mit der ICF in der motopädischen Praxis vorbereitet. »b 1402.0, b 7601.0, d 1751.0 & d 830 …: ich verstehe nur Bahnhof« Was hat es mit diesen geheimnisvollen Zahlencodes auf sich? Wie binde ich diese »Hieroglyphen« in meine berufliche Praxis ein? Warum hilft mir gerade meine professionelle Haltung als MotopädIn, Inklusion tatkräftig und wegweisend mitzugestalten? Diese exemplarischen Fragen sowohl aus der beruflichen Praxis als auch von Studierenden, haben Lehrende am LWL- Berufskolleg in Hamm dazu bewegt, seit 2018 die »ICF-orientierte Arbeit« als festen curricularen Bestandteil in die zweijährige berufsbegleitende Weiterbildungspraxis zum / r staatlich anerkannten MotopädIn aufzunehmen. [ 76 ] 2 | 2024 Forum Psychomotorik Wieso, weshalb, warum? -- motopädischer (Weiter-) Bildungsauftrag und Berufswelt Für eine curriculare Weiterentwicklung ist in einem ersten Schritt zunächst zu klären, welchen Auftrag eine Fachschule für Motopädie hat. Die Lehrpläne für Berufskollegs (Fachschulen des Sozialwesens) in Nordrhein-Westfalen definieren diesen Auftrag wie folgt: Fachschulen »qualifizieren zur Übernahme erweiterter Verantwortung und Führungstätigkeit [und] orientieren sich an den aktuellen Qualifikationsanforderungen der Arbeitswelt« (MSW NRW 2015, 7 f ). Vor diesem Hintergrund erscheint die Implementierung des hier vorzustellenden »ICF-Moduls« in die Ausbildungspraxis an der Fachschule für Motopädie dem geforderten (Weiter-)Bildungsauftrag zu entsprechen. Gleichzeitig besteht eine zentrale Aufgabe in der Weiterbildung darin, den Studierenden eine professionelle Haltung zu vermitteln, die von der humanistischen Psychologie und den daraus ableitbaren psychomotorischen Prinzipien getragen wird. MotopädInnen richten demnach ihre Arbeit u. a. ressourcenorientiert, mehrdimensional und handlungsorientiert aus. Sie gehören damit in den unterschiedlichen Berufsfeldern zu den Fachkräften, die insbesondere auf Basis ihrer Haltung, ihres Menschenbildes und ihres Zugangs zum Menschen über Bewegung und Körperlichkeit beste Voraussetzungen und entsprechende Kompetenzen für die Gestaltung von inklusiven Rahmenbedingungen und Strukturen sowie gelingenden Begegnungen im Arbeitskontext mitbringen (Kuhlenkamp 2022). Neben diesen Haltungsgrundlagen verlangt eine inklusive Arbeitswelt die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) und fordert von Fachkräften zudem Fähigkeiten im Umgang mit spezifischen Instrumenten und Methoden im Sinne eines »Handwerkszeugs«. Die ICF-orientierte Arbeit erscheint hier zielführend, hat sie sich doch vielerorts als geeignet und Orientierung gebend herausgestellt, um im Kontext der Teilhabegewährung fachliche Transparenz und Qualität zu sichern (Pretis 2019). Wie passt ein Stein zum anderen? -- Einbindung in die Weiterbildungsstrukturen Aufgrund der fachlichen Ansprüche des Arbeitsmarktes haben die Lehrenden der Fachschule für Motopädie in Hamm eine Unterrichtsreihe für die ICF-orientierte motopädische Arbeit entwickelt. Diese ist mit einem Umfang von 40 Unterrichtsstunden im zweiten Halbjahr des ersten Ausbildungsjahres platziert. Zu diesem Zeitpunkt kennen die Studierenden bereits wesentliche unterrichtliche Inhalte zur historischen Entwicklung der Psychomotorik in Deutschland sowie zu den Grundlagen der Motologie, zur professionellen Haltung, zu den Grundlagen der Motodiagnostik sowie zu medizinisch-psychologischen Grundlagen. Damit verfügen sie über wichtige fachliche Vorkenntnisse. Innerhalb der Unterrichtsreihe werden unterschiedliche Lernformen und Lernarrangements genutzt, z. B. Fachunterricht in Präsenzform (Theorie und Praxis) sowie Inhalte und Aufgaben auf der online gestützten Lernplattform (asynchrone Distanzlernphasen). Der Unterricht wird im Schwerpunkt von drei Lehrkräften mit ihren Fachinhalten aus den Bereichen »Motopädische Arbeitsweisen und Konzepte«, »Praxis der Motopädie« sowie »Motodiagnostik« gestaltet. Im konkreten vorbereitenden Fachunterricht mit sonderpädagogischem Schwerpunkt lernen die Studierenden soziologische Grundlagen zu den Themenkomplexen »Empowerment- - Integration- - Inklusion« kennen. Die hier vermittelten lebensweltorientierten und bio-psycho-sozial ausgerichteten Perspektiven sollen in das eigene berufliche (am BTHG orientierte) Handlungskonzept integriert werden. Wesentliches Ziel ist es, dass die in inklusiven Zusammenhängen arbeitenden MotopädInnen lernen, diversitätsbewusst und diskriminierungskritisch wahrzunehmen und zu agieren. Des Weiteren setzen Zentral ist, den Studierenden eine professionelle Haltung zu vermitteln, die von psychomotorischen Prinzipien getragen wird. [ 77 ] Serrano • ICF-Orientierung in der Motopädieweiterbildung 2 | 2024 [ 77 ] Serrano • ICF-Orientierung in der Motopädieweiterbildung 2 | 2024 sich die Studierenden inhaltlich mit den zwei für Inklusion wesentlichen Phänomenen der »Teilhabe« und »Aktivität« auseinander. In diesen zwei Themenfeldern bzw. Komponenten kann die Psychomotorik/ Motopädie sicherlich ihren Schwerpunkt in der Begleitung von Menschen sehen! Mit diesen Unterrichtsinhalten wird eine wichtige Brücke zum zentralen Unterrichtsgegenstand der ICF gebaut. Die ICF dient in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern als Basis für die Begutachtung, Leistungssowie Bedarfsermittlung. Somit gilt sie auch für MotopädInnen, mit ihrem Auftrag sowohl für Diagnostik als auch für Förderung / Therapie, als ein wichtiges Arbeitsinstrument im interdisziplinären Berufsalltag. Unterrichtlich lernen die Studierenden die Historie, die Ziele sowie den Aufbau und die Struktur der ICF kennen. Sie erproben an ersten kleinen Fallschilderungen mit Hilfe der ICF-CY (WHO 2017) den konkreten Umgang mit der Kodierung auf der zweiten Gliederungsebene (dreiziffrig). Damit sind die Grundlagen gelegt für die konkrete Anwendung des Gelernten auf eine spezifische berufliche motopädische Handlungssituation, die abschließend an zwei kompletten aufeinander folgenden Unterrichtstagen mit 15 Unterrichtsstunden erfolgt. MotopädInnen im Bereich der Frühförderung-- die konkrete Anwendungsperspektive Die Motopädieweiterbildung orientiert sich an einem lernfelddidaktischen Lehrkonzept, in welchem motopädiespezifische berufliche Handlungssituationen beschrieben werden. Aufgrund einer sowohl von den Fachschulen als auch vom Deutschen Berufsverband der MotopädInnen und MototherapeutInnen feststellbaren Zunahme an Stellenangeboten für MotopädInnen im Bereich der Frühförderung ist die hier gewählte Aufgabe im Arbeitsfeld einer Interdisziplinären Frühförderstelle angesiedelt: Die Studierenden sollen sich in die Situation versetzen, im Rahmen der Komplexleistung Frühförderung einen 5; 10-jährigen Jungen motopädisch zu begleiten. Dafür erhalten sie Informationen zu folgenden Bereichen: ■ Vorstellungsgrund / Diagnose / Gesundheitssorge ■ Anamnese / Familiensituation ■ Sozial- und Spielverhalten ■ Beobachtungen aus den ersten Frühfördereinheiten im Bewegungsraum mit einem anderen gleichaltrigen Jungen In »komponentenbezogenen« ExpertInnengruppen (Gruppe A: Körperstrukturen und -funktionen s & b, Gruppe B: Aktivitäten und Teilhabe d, Gruppe C: Umwelt e sowie Personbezogene Faktoren- - narrativ) sollen sie die Handlungssituation zunächst mit Hilfe von Checklisten für die ICF-CY (DGSPJ o. J.) sowohl ressourcenals auch förderbedarfsorientiert kodieren, um anschließend in gemischten Kleingruppen die jeweiligen ExpertInneneinschätzungen zusammen zu tragen. Auf der Basis dieser diagnostischen Hypothesen entwickeln die Studierenden anschließend motopädische / interdisziplinäre Interventionsstrategien. Diese sollen zunächst, an den ICF- Kodierungen orientiert, grob formuliert werden, um im Weiteren »smart« (spezifisch, messbar, akzeptabel, realistisch, terminierbar) ausdifferenziert zu werden. Hinsichtlich der körper- und bewegungsorientierten Förderung im motopädischen Setting planen die Studierenden dann abschließend konkrete Praxisideen, die gemeinsam im Bewegungsraum der Fachschule vorgestellt, erlebt und ausprobiert sowie vor dem Hintergrund didaktisch-methodischer Anwendungsbezüge reflektiert werden. Und was bringt’s? -- Fazit und Ausblick Die abschließenden Auswertungs- und Reflexionsrunden zum gesamten ICF-Modul haben sowohl auf Seiten der Studierenden als auch der beteiligten Lehrkräfte eindrücklich gezeigt, dass Die Studierenden sollen sowohl ressourcenals auch förderbedarfsorientiert kodieren. [ 78 ] 2 | 2024 Forum Psychomotorik die Motopädieweiterbildung mit dieser Unterrichtsreihe »am Puls der Zeit« ist und es sinnvoll erscheint, die in der Motopädie seit jeher gelehrte ressourcen- und handlungsorientierte Arbeitsweise für die aktuell zunehmend geforderte inklusive Berufspraxis mit ihren spezifischen Inhalten, Strukturen und Aufgaben zu nutzen. Auch wenn sich abzeichnet, dass vor allem die begrenzte Zeitressource innerhalb einer berufsbegleitenden Weiterbildung sicherlich nicht ausreicht, den angehenden MotopädInnen umfangreiche berufliche Performanzen an die Hand zu geben, sind wir PsychomotorikerInnen uns darüber bewusst, dass sich diese über das konkrete Tun, die wiederholende Anwendung des Gelernten sowie dessen Reflexion im Arbeitsfeld entwickeln. Wir Lehrenden sind überzeugt, dass diese Unterrichtsreihe den Studierenden Türen in neue interessante und wichtige inklusive Arbeitsfelder öffnet und ihnen Mut macht, sich in der interdisziplinären Zusammenarbeit selbstbewusst zu platzieren sowie sich fachlich gewinnbringend für die Menschen einzubringen, mit denen sie arbeiten. Gerade mit ihren professionsspezifischen Kompetenzen und ihrem dialogischen Zugang zu anderen Menschen über Körperlichkeit und Bewegung können MotopädInnen wertvolle Impulse für eine gelingende inklusive Praxis bieten und Aktivität und Teilhabe in freudvoller, sinnstiftender und erfüllender Art und Weise erlebbar werden lassen. Literatur Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e. V. (DGSPJ) (o. J.): Checklisten für die ICF- CY. In: www.dgspj.de/ service/ icf-cy, 10.07.2023 Kuhlenkamp, S. (2022): Lehrbuch Psychomotorik. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München Pretis, M. (2019): ICF-basiertes Arbeiten in der Frühförderung. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (MSW NRW) (2015): Richtlinien und Lehrpläne für das Berufskolleg in Nordrhein-Westfalen- - Fachschule des Sozialwesens, Fachrichtung Motopädie vom 01.08.2015. In: www.berufsbildung.nr w.de/ cms/ upload/ _ lehrplaene/ e/ motopaedie.pdf, 10.08.2023 World Health Organisation (WHO) (2017): ICF-CY. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. 2. Aufl. Hogrefe, Bern Der Autor Markus Serrano Diplom-Motologe, Bildungsgangleiter der Fachschule für Motopädie am LWL-Berufskolleg in Hamm; Vorstandsmitglied im Verein für Mototherapie und psychomotorische Entwicklungsförderung e. V. in Münster Anschrift Markus Serrano LWL-Berufskolleg-- Fachschulen Hamm Heithofer Allee 64 59071 Hamm Markus.SerranoMinar@lwl.org
