Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2024
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Auf den Punkt gebracht: Aktuelles Stichwort: Partizipation/Teilhabe
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Markus Spreer
Britta Dawal
Partizipation lässt sich dem lateinischen Ursprung nach (lat. particeps) mit »Teilhabe« oder »Teilnahme« übersetzen. Sie gilt als Zielstellung rehabilitativer Prozesse und ist dabei zugleich unbedingt handlungsleitend für die zu beschreitenden Wege. Für eine Verwendung des Begriffs im Kontext von Menschen mit Beeinträchtigungen/Unterstützungsbedarfen/Behinderungserfahrungen kann auf den gesetzlichen Anspruch der »uneingeschränkten Teilhabe« der UN-BRK hingewiesen werden (United Nations 2006).
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[ 85 ] motorik, 47. Jg., 85-87, DOI 10.2378 / mot2024.art14d © Ernst Reinhardt Verlag 2 | 2024 [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Aktuelles Stichwort: Partizipation/ Teilhabe Markus Spreer, Britta Dawal Partizipation lässt sich dem lateinischen Ursprung nach (lat. particeps) mit »Teilhabe« oder »Teilnahme« übersetzen. Sie gilt als Zielstellung rehabilitativer Prozesse und ist dabei zugleich unbedingt handlungsleitend für die zu beschreitenden Wege. Für eine Verwendung des Begriffs im Kontext von Menschen mit Beeinträchtigungen / Unterstützungsbedarfen / Behinderungserfahrungen kann auf den gesetzlichen Anspruch der »uneingeschränkten Teilhabe« der UN-BRK hingewiesen werden (United Nations 2006). Das im englischsprachigen Originaltext verwendete »participation« (vielfach in Verbindung mit dem Zusatz »full«, d. h. »umfassend«) wurde bei der Übersetzung ins Deutsche durchgängig mit »Teilhabe« übersetzt. Die bereits 2001 in der »International Classification of Functioning, Disabilities and Health (ICF)« der WHO formulierte Zielstellung der uneingeschränkten Teilhabe / vollständigen Partizipation eines Menschen ergänzt diesen Rechtsanspruch und verdeutlicht gleichzeitig den Paradigmenwechsel von einer eher ausgrenzenden Fürsorge hin zu einer möglichst uneingeschränkten Teilhabe aller. In der ICF werden die beiden Termini »Partizipation [Teilhabe]« stets gemeinsam verwendet (BfArM 2023). Das Recht auf Teilhabe, z. B. an Bildung, Förderung oder Therapie sollte gleichzeitig zu dem Zwecke eingesetzt werden, Teilhabemöglichkeiten zu erhöhen. Hierdurch sind Bildung und Förderung / Therapie gleichzeitig nachhaltige »Vorbereitungsinstanzen« für eine (spätere) Teilhabe (Weiß 2019). In Anlehnung an Imms et al. (2017) lässt sich das komplexe Konstrukt Partizipation / Teilhabe als multidimensionales Konzept in zwei Komponenten einteilen: Zum einen »attendance«, im Sinne der reinen Anwesenheit in einer Situation [Teilnahme; »Dabei-sein«], die als Häufigkeit der Teilnahme und / oder Reichweite oder Unterschiedlichkeit von Aktivitäten erfasst werden kann. Zum anderen »involvement« [Teilhaben an; »Eingebunden sein«], was auf Erfahrungen während der Anwesenheit rekurriert (z. B. Engagement, Motivation, Ausdauer, soziale Verbindung). In welcher Weise sich Situationen der »Teilnahme« zu einem »Eingebunden-Sein« entwickeln ist noch nicht abschließend geklärt (Imms et al. 2016/ 2017). In der Modellvorstellung von Imms et al. (2017) werden hierfür beeinflussende intrinsische und extrinsische Elemente unterschieden. Dabei besteht ein wechselseitiges Verhältnis zwischen der Ausprägung der Partizipation und der Umwelt (als objektive, soziale und physische Strukturen der Lebenswelt) sowie den jeweiligen Kontexten (für die partizipierende Person relevante Faktoren wie Personen, Orte, Aktivitäten, Gegenstand und Zeiten). Hierzu gehören nicht nur Umweltfaktoren, Einrichtungen und individuelle Hilfsmittel, sondern auch die Unterstützung und Einstellung unterschiedlicher Gruppen (z. B. Lehrkräfte, Peers) sowie der eigene Gesundheitszustand. Je nach subjektiver Einschätzung der Person können diese Faktoren als hemmend, unterstützend oder unwichtig empfunden werden (Bärwalde et al. 2023). [ 86 ] 2 | 2024 Auf den Punkt gebracht Ergänzt sind die Komponenten zudem durch die Präferenzen der Person, ihr Selbstverständnis und ihre Handlungskompetenz. Gerade diese Faktoren gelten als wichtige Prädiktoren für die zukünftige Partizipation und gleichzeitig werden sie durch bereits erlebte Partizipationserfahrungen beeinflusst (Imms et al. 2016; Abb. 1). Grundsätzlich ist die Einschätzung der Partizipation / Teilhabe in sozialen Situationen äußerst subjektiv und daher schwer operationalisierbar. Die subjektive Relevanz der Teilhabe, die deutlich vom sozialen und ökologischen Kontext abhängig ist, muss als Gewichtungskomponente unbedingt in die Bewertung einbezogen werden. So ist zu eruieren, welche Bereiche für das Leben einer Person wichtig sind und daher (volle) soziale Partizipation / Teilhabe verlangen. Dies ist besonders bedeutsam, um die Partizipation sowohl präzise als auch individuell auf der Grundlage der Wünsche und Bedürfnisse der / des Einzelnen zu erfassen und so beispielsweise das Ergebnis von Förder- und Therapieprozessen entsprechend messbar zu machen. Zudem wird hierdurch die Bedeutung des Einbeziehens in die Zielformulierung von Förder- und Therapieprozessen nochmals unterstrichen. Herausfordernd bleibt, dass es derzeit wenig deutschsprachige Messinstrumente gibt, die der Individualität jeder und jedes Einzelnen in ihrer / seiner Lebenssituation Rechnung tragen (Gebhard et al. 2019). Die systematische Erfassung von Partizipation / Teilhabe steht noch am Anfang. Hinzu kommt, dass unterschiedliche Aspekte dabei fokussiert werden, z. B. die soziale Partizipation (siehe »Soziales Partizipations- Inventar Jugendliche (SPI-J)«, Dawal et al. 2022), die kommunikative Partizipation (Opitz / Neumann 2019) oder Partizipation und Umwelt (»Participation and Environment Measure Children and Youth deutschsprachige Version« (PEM- CY), Coster et al. 2010 / 2019 bzw. »Young Children Participation and Environment Measure deutschsprachige Version” (YC-PEM), Khetani et al. 2013 / 2023). Das subjektive Zugehörigkeitsgefühl in eine Lebenssituation, die Einschätzung des Mitwirkens, des aktiv Beteiligt-Seins, um mitgestaltend Einfluss auf die Lebensumstände nehmen zu können, muss hierbei zwingend miterfasst werden (Weiß 2019). Literatur Bärwalde, T., Hoffmann, L., Fink, A., Völlm, C., Martin, O., Bernard, M., Gebhard, B., Richter, M. (2023): The Adolescent Concept of Social Participation-- A Qualitative Study on the Concept of Social Participation from Adolescents with and without Physical Disabilities. Qualitative Health Research 33(3), 143-153, https: / / doi.org / 10.1177 / 10497323221146414 KONTEXT UMWELT Präferenzen Interpretation Erfahrungen PARTIZIPATION Eingebunden-Sein ermöglicht/ reguliert ermöglicht/ reguliert beeinflusst/ re-agiert Selbst-Verständnis Handlungskompetenz Bewältigen Auswählen Wahrnehmen Engagieren Lernen Handeln Abb. 1: Einflussgrößen auf das Konstrukt »Partizipation / Teilhabe« [ 87 ] Spreer • Aktuelles Stichwort: Partizipation / Teilhabe 2 | 2024 [ 87 ] Spreer, Dawal • Aktuelles Stichwort: Partizipation / Teilhabe 2 | 2024 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) (2023): Klassifikationsfamilie der WHO. In: www.bfarm.de/ DE/ Kodiersysteme/ Klassifikationen/ ICD/ ICD-10-WHO/ Historie/ klassifikationsfamilie.html, 01.01.2024 Coster, W. J., Law, M. A., Bedell, G. M. (2010 / 2019): Participation and Environment Measure Children and Youth (German), In: www.canchild. ca / en / shop / 2-pem-cy-participation-and-environment-measure-children-and-youth, 01.01.2024 Dawal, B., Bernard, M., Hoffmann, L., Völlm, C. (2022): SPI-J-- Soziales Partizipations-Inventar für Jugendliche: Ein Fragebogen zur Messung sozialer Partizipation von Jugendlichen mit und ohne körperlich-motorischen Beeinträchtigungen und / oder chronischen Erkrankungen. In: www.fh-swf.de/ de/ ueber_uns/ standorte_4/ soest_4/ bg/ mitarbeiter/ professorinnen_5/ gebhard/ partju/ partju_studie. php, 01.01.2024 Gebhard, B., Fink, A., DeBock, F. (2019): Messinstrumente zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Frühförderung interdisziplinär 38 (4), 218- 222, http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ fi2019.art28d Imms, C., Adair. B., Keen. D., Ullenhag, A., Rosenbaum, P., Granlund, M. (2016): ‘Participation’: a systematic review of language, definitions, and constructs used in intervention research with children with disabilities. Developmental Medicine & Child Neurology, 58 (1), 29-38, https: / / doi. org / 10.1111 / dmcn.12932 Imms, C., Granlund, M., Wilson, P. H., Steenbergen, B., Rosenbaum, P. L., Gordon, A. M. (2017): Participation, both a means and an end: a conceptual analysis of processes and outcomes in childhood disability. Developmental Medicine & Child Neurology 59 (1), 16-25, https: / / doi. org / 10.1111 / dmcn.13237 Khetani, M. A., Coster, W. J., Law, M. A., Bedell, G. M. (2013 / 2023): Young Children’s Participation & Environment Measure (German). In: www.canchild. ca / en / shop / 23-yc-pem-young-children-s-participation-and-environment-measure, 01.01.2024 Opitz, M., Neumann, S. (2019): Selbsteinschätzung der kommunikativen Partizipation von Grundschulkindern mit (S) SES. Erste Daten anhand des ‚Fragebogens zur Beteiligung an Alltagskommunikation‘ (FBA 6-10). Forschung Sprache 7 (2), 37-52 Spreer, M., Fink, A., Gebhard, B. (2019): Stichwort: Partizipation. Frühförderung interdisziplinär, 38(4), 214-217, http: / / dx.doi.org / 10.2378 / fi2019.art27d United Nations (2006): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN- BRK) Weiß, H. (2019): Teilhabe im Kontext der Frühförderung. Frühförderung interdisziplinär, 38 (4), 191- 206, http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ fi2019.art25d Die AutorInnen Prof.in Dr. Britta Dawal FH Südwestfalen Professur Diversität und Frühförderung Prof. Dr. Markus Spreer Universität Leipzig Professur für Pädagogik im Förderschwerpunkt körperlichmotorische Entwicklung Anschrift Prof. Dr. Markus Spreer Universität Leipzig Marschnerstraße 29 d/ e 04109 Leipzig markus.spreer@uni-leipzig.de
