eJournals Motorik 47/3

Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2024
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Forum Psychomotorik: Scheitern lernen mit Jonglage

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2024
Nora Kassan
Der Beitrag handelt von einer spielerischen Haltung gegenüber dem Scheitern, die wir mit Jonglage üben können. Anhand konkreter Übungen für die Praxis wird gezeigt, wie das Werfen, Loslassen, Fallen, Annehmen, Wiederholen und Variieren dabei helfen kann, sich zu entwickeln und Blockaden zu lösen. Dabei geht es nicht um Ziel- und Leistungsorientierung, sondern darum, das Ziel aus dem Weg zu räumen, um Raum für spielerische Bewegung, Veränderung und Freude am Lernen zu schaffen.
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Zusammenfassung/ Abstract Der Beitrag handelt von einer spielerischen Haltung gegenüber dem Scheitern, die wir mit Jonglage üben können. Anhand konkreter Übungen für die Praxis wird gezeigt, wie das Werfen, Loslassen, Fallen, Annehmen, Wiederholen und Variieren dabei helfen kann, sich zu entwickeln und Blockaden zu lösen. Dabei geht es nicht um Ziel- und Leistungsorientierung, sondern darum, das Ziel aus dem Weg zu räumen, um Raum für spielerische Bewegung, Veränderung und Freude am Lernen zu schaffen. Schlüsselbegriffe: Jonglage, Scheitern, Philosophie, Clownerie, Embodiment, Systemische Therapie, Zirkuspädagogik Learning to fail with the art of juggling The article is about practising a playful attitude towards failure with the art of juggling. Using specific practical exercises, it shows how throwing, letting go, falling, accepting, repeating and varying can help us to develop and release blockages. It is not about goal and performance orientation, but about getting the goal out of the way in order to create space for playful movement, change and the joy of learning. keywords: juggling, failing, philosophy, clownery, embodiment, systemic therapy, circus pedagogy [ 129 ] motorik, 47. Jg., 129-135, DOI 10.2378 / mot2024.art23d © Ernst Reinhardt Verlag 3 | 2024 [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Scheitern lernen mit Jonglage Nora Kassan »Der Boden unser Freund« (Stefan Sing 2021) Wozu Jonglieren? Wozu Scheitern? »Jonglieren« gilt vielen als Metapher fürs Leben. Anthony Trahair beschreibt es als »perfekte Analogie dafür, mit allem zurechtzukommen, was das Universum auf dich wirft« (Trahair 2015, 27), Steve Cohen als »uralte Überlebenskunst« (Cohen 1988). Jonglage kann zum Ausdruck, zur Kommunikation, zur Lebensgestaltung oder zur Übung für ganzheitliches Lernen dienen. Sie spricht unsere Wahrnehmung, Kognition, Motorik und Emotionen an und schult besonders unsere Koordination. Den koordinativen Fähigkeiten wird eine bedeutende Rolle im Kontext der Gesundheitsförderung (Engel 2017), im pädagogischen sowie im therapeutischen Kontext zugesprochen. Sie beeinflussen Denkstrukturen und Wahrnehmungsleistungen: »Die Verknüpfung von Nervenzellen wird unterstützt, das Gehirn wird besser mit Sauerstoff versorgt, Kinder können sich besser konzentrieren« (Zimmer 2006, 9). In der zirkuspädagogischen Arbeit mit Gruppen kommen weitere Wirkfaktoren wie Beziehung, Bewusstheit, Selbstwert, Kreativität und Integration hinzu (Kohne 2005). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Jonglage seit der Gründung der Psychomotorik auch als psychomotorische Bewegungsform bekannt ist. Ernst J. Kiphard hat sich ausführlich mit der heil- und ergotherapeutischen Wirkung der Jonglage beschäftigt: »Jonglieren stellt wie kaum eine andere Tätigkeit höchste Anforderungen an die Augenbeweglichkeit, die visuelle Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit sowie an die motorische Reaktionsfähigkeit der Hände mit ihren jeweils feinsten Anpassungsleistungen.« (Kiphard 1991, 167) Jonglage trainiere und verbessere die Konzentration, die Körperorientierung, die räumliche und zeitliche Orientierung, das ‚Timing‘ sowie die Planungs- und Merkfähigkeit (Kiphard 1991). Aufgrund dieser ganzheitlichen Wirkung kann Jonglage eine vielfältige Anwendung finden (Engel 2017; Kohne 2016; Trahair 2015). Zum Beispiel bei »der Genesung nach einem Trauma, [ 130 ] 3 | 2024 Forum Psychomotorik In der Clownerie spielen wir mit uns selbst, in der Jonglage mit Gegenständen. der Rehabilitation nach einer Krankheit und der Arbeit mit alten und chronisch leidenden Menschen kann das Jonglieren mit Tüchern ein Erfolgserlebnis bedeuten, das das Selbstgefühl stärkt« (Finnigan 1988, 491). Allerdings kommt es hierbei auch auf die Haltung an, in der Jonglage genutzt wird. Denn Jonglieren kann man auf sehr unterschiedliche Weise (Oberschachtsiek 2009). Es gibt sogenannte ‚Helden‘ und sogenannte ‚Clowns‘ (Rippchen 1993), solche Menschen, die Jonglage als Leistungs- oder Wettkampf-Sport und solche, die sie zum Spaß, als Kunst oder spirituelle Praxis betreiben (Trahair 2015; Finnigan 1993). In diesem Beitrag wird Jonglage gemäß der ursprünglichen lateinischen Bedeutung von ‚Joculator‘ als ‚SpaßmacherIn‘ und der italienischen Bedeutung von ‚Giocoliere‘, gleichbedeutend mit ‚jemand, der spielt‘, als ein Spiel verstanden, das der Clownerie nahesteht. In der Clownerie spielen wir mit uns selbst, in der Jonglage mit Gegenständen. Anhand der Würfe von Gegenständen testen wir Entwürfe für uns selbst (Schoch 2022). Durch das stetige Loslassen, Werfen, Fangen und besonders das Fallenlassen von Objekten (genannt: Drops) ist die Jonglage ein Sinnbild fürs Lernen und Scheitern. Daher bietet sie einen einfachen Einstieg in die Kunst, spielerisch zu scheitern und eine wohlwollende Haltung gegenüber den eigenen Fehlern zu entwickeln. Wegweisend hierfür sind das Motto der Jonglage »Dropping the balls […] is a sign of progress« (Finnigan 1987, 4) und das Motto der Clownerie »Das Ziel ist im Weg« (Gilmore 2024, o.S.). Auch der Begriff der Psychomotorik kann unterschiedlich verstanden werden. Im Lehrbuch Psychomotorik werden vier Bedeutungen unterschieden, wobei die ersten beiden (Psychomotorik als Konzept der Entwicklungsförderung und Psychomotorik als Einheit körperlicher und seelischer Prozesse) in Bezug zur Jonglage gesetzt werden können (Kuhlenkamp 2017). Jonglage wird in diesem Sinne hier als eine ganzheitliche Übung betrachtet, die übereinstimmend mit der Satzung des Europäischen Forums für Psychomotorik (1996) an einem ganzheitlichen und humanistischen Menschenbild orientiert ist. Charakteristisch dafür ist, dass im »Mittelpunkt die Förderung der Persönlichkeit steht« (Kiphard 1984, 49), wobei sich dieses Konzept auf die gesamte Lebensspanne beziehen lässt (Krus / Jasmund 2014). Jonglage wird hier also verstanden als eine ganzheitliche Bewegungsform, in der wir spielerisch einen humanistischen Umgang mit dem Scheitern üben können. Doch wozu sollten wir lernen zu scheitern? Scheitern, Fehler und Versagen gelten häufig als etwas Negatives, das wir vermeiden wollen. Doch Leben, Entwicklung, Lernen, Innovation, die Stabilität von Systemen und das Überleben von Organismen sind ohne zu scheitern nicht möglich (Weizsäcker / Weizsäcker 2008). Auch Persönlichkeitsentwicklung beinhaltet immer Versuche und Irrtümer in Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Allein schon aufgrund unserer Endlichkeit gehört Scheitern wesentlich zur menschlichen Lebensrealität. Philosophinnen wie Simone de Beauvoir beschreiben das Scheitern daher als ein Merkmal, das »dem Menschsein zu eigen« ist (de Beauvoir 1964, 89). Auch politisch und erkenntnistheoretisch ist dies relevant, insofern autoritäre Konzepte wie Fanatismus oder Dogmatismus dadurch charakterisiert werden können, dass sie die eigene Fehlbarkeit ausschließen (Popper 2023). Insofern lässt sich eine humanistische Haltung fördern, indem wir uns erlauben, eine »Null« (Gilmore 2007, 12) zu sein und Raum zu schaffen für Fehlbarkeit, Entwicklung und Bewegung. Jonglage kann helfen, das Scheitern als problematische oder tabuisierte Lebenserfahrung wieder zuzulassen. Sie ermöglicht im Sinne von Ingrid Olbrich den leiblichen Ausdruck von Gefühlen und zwar »neben den gesellschaftlich zugelassenen auch die unerwünschten, die sich beim Kind oft nur noch im Spiel zeigen können« (Olbrich 1995, 47). Was mit Blick auf Kinder gilt, lässt sich auch für Erwachsene annehmen. Die spielerische und ganzheitliche Beschäftigung bietet einen Schutz zur Auseinandersetzung mit unangenehmen Themen und ermöglicht neue Erfahrungen. [ 131 ] Kassan • Scheitern lernen mit Jonglage 3 | 2024 [ 131 ] Kassan • Scheitern lernen mit Jonglage 3 | 2024 Jonglage als Freude am Scheitern Im Folgenden wird in sieben Schritten dazu angeregt, das Scheitern in den Mittelpunkt der Jonglage zu stellen. Dabei geht es um eine Haltung, in der ich mich ■ fehlerfreundlich, ■ tatkräftig, ■ kontinuierlich, ■ in Ruhe, ■ respektvoll, ■ weitsichtig und ■ bodenständig auf das Spiel mit den fliegenden Gegenständen einlassen kann. Exemplarisch wird zu jedem Aspekt eine praktische Übung genannt. Fehlerfreundlich Heute fällt es mir leicht Dave Finnigan lehrt: »Wenn du die Bälle fallenläßt, ist das kein Zeichen für Ungeschicklichkeit, sondern für Fortschritt: Es zeigt, daß ein Lernprozess im Gang ist« (Finnigan 1988, 9). Beim Jonglieren kann ich lernen, dass Scheitern mich weiterbringt und jede Menge Spaß machen kann. Wenn etwas nicht gelingt, kann ich mich durch Selbstbeobachtung und Aufmerksamkeit liebevoll selbst korrigieren. Das geht aber nur, wenn auch tatsächlich etwas hinfällt und dazu muss erst einmal etwas losgelassen und geworfen werden. Deshalb können wir uns jedes Mal freuen, wenn ein Ball hinfällt, denn dies zeugt von einem erfolgreichen Wurf. Außerdem ist das Bücken gut, um beweglich zu bleiben. Weil es so schön ist, wenn etwas fällt, können wir voller Freude den Ball hochwerfen, ohne dass wir uns fürchten müssen zu versagen oder Fehler zu machen. Beim Jonglieren sind die Drops wichtiger als die Erfolge, denn ohne Drops kann es keinen Erfolg geben, doch Drops ohne Erfolge sind immer möglich. Praktische Anregung: Um uns stärker auf das Scheitern zu konzentrieren, können wir den Fokus auf die Drops lenken und mit ‚Fallbeispielen‘ experimentieren. Wir können verschiedene Möglichkeiten ausprobieren, wie wir damit umgehen, wenn ein Ball hinfällt. In der Sammlung »Juggling Comedy« von Rich Chamberlin (1981) gibt es Anregungen für lustige Reaktionen, in denen der Drop als Witz oder zur Unterhaltung genutzt wird. Tatkräftig Probieren vor Studieren Statt darüber nachzudenken, ob und wie ich den Ball richtig werfen sollte, damit er nicht runterfällt, obwohl er dann früher oder später doch runterfallen wird, ist es besser, ihn einfach zu werfen. Der Versuch macht am Ende klug. Viele große Erfindungen wie Radiergummi, Chips oder Röntgenstrahlung sind versehentlich oder aus Missgeschicken entstanden (Mariño / Galbany 2022). Nach einigen Versuchen können wir natürlich auch darüber nachdenken, was wir gerade wie getan haben. Dabei werden wir wahrscheinlich erleben, dass es hilfreich ist, etwas Neues in kleinen Schritten zu lernen, die aufeinander aufbauen. Auch die Wiederholung ist wichtig, denn durch Wiederholung kann ich ein Bewusstsein schaffen für das, was ich tue. Doch am wichtigsten ist es, dass wir uns trauen, überhaupt etwas zu tun und den Ball auch tatsächlich werfen, wieder und wieder, auch wenn wir nicht wissen können, wo genau uns das hinführen wird. Praktische Anregung: Um die Angst vor dem Fallenlassen zu verlieren, können wir üben, die Bälle in der gewünschten Weise zu werfen und sie absichtlich nicht zu fangen. Wenn sie dann landen, erkennen wir anhand ihrer Position, ob sie die beabsichtigten Bahnen geflogen sind. Auch hier kann mit unterschiedlichen Ansätzen experimentiert werden, um selbstgesteuertes Lernen zu fördern: Wir können die Bewegung im Vorhinein durch Imagination der konkreten Flugbahn unterstützen oder nachträglich im Sinne einer Versuch-und-Irrtum-Methode analysieren, was geschehen ist (Rippchen 1993). Kontinuierlich Am Ball bleiben Ziel ist nicht, die Kaskade (die Grundfigur der Dreiballjonglage) oder schwierige Tricks zu lernen und immer ‚mehr‘ zu wollen. Das eigent- [ 132 ] 3 | 2024 Forum Psychomotorik liche Ziel besteht darin, nicht den Spaß am Üben zu verlieren! Wenn es mir gelingt, am Ball zu bleiben und immer wieder neuen Schwung in mein Training zu bringen, dann werde ich automatisch besser. Mit der Zeit stellt sich heraus, dass es kaum einen Unterschied macht, ob ich mit 3 oder mit 6 Bällen übe zu jonglieren. Unabhängig davon, wie gut und wie lange ich schon übe, stehe ich immer vor der Herausforderung, freudig etwas Neues zu lernen, was noch nicht funktioniert. Hierzu brauchen JongleurInnen ihre Kreativität. Darin liegt ihre Kraft. Daher ist es sehr spannend, mit anderen JongleurInnen ins Gespräch zu kommen und zu erfahren, was sie begeistert. Um das zu erfahren, beschränkt man sich am besten nicht auf Sätze wie ‚Zeig mal, was Du kannst! ‘ oder die Frage ‚Wie viele kannst Du oben halten? ‘, sondern fragt auch danach, was gerade am meisten Spaß macht oder ‚Was hast Du heute Neues entdeckt? ‘. Praktische Anregung: Wir können unendliche Möglichkeiten erforschen, einen Ball zu werfen. Wichtig ist nur, dass wir Spaß haben an dem, was wir ausprobieren. Am Ende kann in einer Präsentation gezeigt werden, was entdeckt wurde. Um am Ball zu bleiben, kann es auch helfen, zu zweit zu jonglieren, (eigene) Rekorde aufzustellen und zu brechen, sich Fristen für eine Präsentation zu setzen, Variationen zu üben, zum Beispiel zu unterschiedlicher Musik oder in Gruppen zu jonglieren, Geräusche dabei zu machen, sich anders zu bewegen etc. In Ruhe Pause machen In der Pause passiert oft mehr als beim Üben. Daher gehören Pausen zu jedem Training dazu. Manchmal packt uns der Ehrgeiz. Dann wollen wir einen Trick oder eine neue Bewegung unbedingt lernen und trainieren unermüdlich. Oft bringt es aber nichts, wie eine Maschine zu üben. Wir werden dann verbissen, unfreundlich und machen keinen Fortschritt mehr. Spätestens dann sollten wir eine Pause machen. Viele Bewegungen aus der Jonglage sind für den Körper ganz neu und brauchen Ruhephasen, um erlernt zu werden. Unser Gehirn muss neue Verknüpfungen bilden und das tut es besonders dann, wenn wir schlafen oder uns ausruhen. Deshalb gelingt uns das, was abends einfach nicht funktionieren wollte, am nächsten Morgen häufig wie von selbst. Wenn wir fleißig üben, lernen wir, was uns noch nicht gelingt, tatsächlich am besten im Schlaf. Praktische Anregung: Zur Entspannung innerhalb des Trainings können sehr gut Balance- Übungen dienen. Wir können versuchen, den Ball auf dem Kopf oder auf anderen Körperteilen zu balancieren, atmen, vielleicht sogar die Augen schließen. Auch Spaziergänge oder klassische Pausen zum Dösen oder Schlafen können (gefühlte) Wunder vollbringen. Respektvoll Spiele achten und würdigen Es gibt ein paar wichtige Regeln, um das Spiel respektvoll zu gestalten. Eine besagt, dass man Menschen beim Jonglieren nicht stören soll. Man kann danebenstehen, zuschauen und warten, bis die Gegenstände fallen, das Spiel vorbei ist oder die Spielenden es von selbst unterbrechen. Die Jonglage ist ein geschützter Zustand, in dem das Bewusstsein zur Ruhe kommen kann. Daher verdient die Jonglage Respekt ebenso wie die Jonglier-Utensilien. Denn die Requisiten sind nicht einfach bloß Gegenstände, sondern beseelt, wenn eine Beziehung zu ihnen aufgebaut wird. In der Jonglage werden die Spielenden und ihre Gegenstände eins. Daher ist auch ein respektvoller Umgang mit Bällen, Keulen, Ringen, Hüten und anderen Jonglage-Objekten wichtig. Praktische Anregung: Um unsere Beziehung zu stärken, können wir auch unter anderem Vorzeichen als der Jonglage mit Objekten spielen. Wir können so tun, als wüssten wir nicht, was für ein Gegenstand es ist oder so tun, als wüssten wir, was es ist, aber so spielen, als funktionierte es nicht. Auf diese Weise können wir Beziehung aufbauen und den Spielraum vergrößern. Wir können unendliche Möglichkeiten erforschen, einen Ball zu werfen. [ 133 ] Kassan • Scheitern lernen mit Jonglage 3 | 2024 [ 133 ] Kassan • Scheitern lernen mit Jonglage 3 | 2024 Vorausschauend Vorwärts springen Es klingt absurd, doch manchmal hilft es, sich größere Ziele zu setzen, um die kleineren zu erreichen. Indem wir über unser eigentliches Ziel hinausgehen, können wir ihm indirekt näherkommen. Wir können statt mit 3 Bällen mit 4 Bällen üben zu jonglieren. Dann ist es gut möglich, dass wir zwar mit 4 Bällen scheitern, umso leichter aber anschließend mit 3 Bällen jonglieren können. Denn mit unserem Horizont und dem, was wir als möglich betrachten, verschiebt sich auch die Selbsteinschätzung und damit unsere Fähigkeit. Diesen mentalen ‚Trick‘ können wir anwenden, wenn wir den Eindruck haben, dass wir keine Fortschritte mehr machen, obwohl wir regelmäßig üben. Praktische Anregung: Um sich das Erlebnis der Überforderung zu verschaffen und daran zu wachsen, können wir absichtlich einige Lernschritte überspringen und beispielsweise sehr schwierige Tricks probieren oder mit mehr Gegenständen jonglieren als wir geübt sind. Eine Übung, die zur Routine werden sollte, ist das Jonglieren mit der schwächeren Hand. Man sagt, eine Jongleurin bzw. ein Jongleur sei nur so stark wie die schwächere Hand. Dies bestätigen auch Studien, die zeigen, dass Jonglier-Übungen besonders dann auf komplexe Bewegungsabläufe vorbereiten, wenn »auf eine ausgewogene Beanspruchung der rechten und linken Hand geachtet wird« (Engel 2017, 220). Bodenständig Rückwärts springen Pass auf, dass Du bei all den Fortschritten, Zielen und Möglichkeiten nicht abhebst und Dich nicht selbst verlierst. Das passiert uns allen von Zeit zu Zeit. Beim Jonglieren ist es störend, weil wir dann unkonzentriert werden und die Kontrolle verlieren. In diesem Fall hilft oft eine Reduktion dessen, was wir tun. In der Reduktion können wir uns beruhigen. Indem wir zurückgehen, können wir Halt, Orientierung und unseren Fokus wiedergewinnen. Zum Beispiel können wir mit weniger Gegenständen jonglieren, als wir gewohnt sind oder wieder mit Tüchern jonglieren. Dabei ist die Jonglage mit weniger Gegenständen nicht unbedingt weniger anspruchsvoll. Im Gegenteil kann es sogar sehr schwerfallen, nach komplexen und temporeichen Übungen wieder mit weniger Objekten und dafür mit mehr Ruhe, Langsamkeit, Bewusstsein und Spielraum umzugehen (Rippchen 1993; Engel 2017). Praktische Anregung: Alles ist hilfreich, was zur Unterforderung beiträgt. Zum Beispiel können wir langsamer oder mit weniger Gegenständen jonglieren, uns nur auf den Atem konzentrieren und dabei nur einen Ball bespielen oder balancieren üben. Wir können auch einen Trick erneut üben, den wir schon gut beherrschen und Variationen ausprobieren, zum Beispiel den Trick in einer neuen Position, Geschwindigkeit, Haltung oder Reihenfolge üben. Spielerisch bewegen, spielerisch leben Neben einer spielerischen Haltung und den genannten Übungen lässt sich das Scheitern auch über Spiele in einer Gruppe thematisieren. Das Spiel So ein Mist! ist eines von vielen Beispielen. Dabei trägt jede Person einen Ball auf dem Kopf. Ziel ist es, ohne Berührung die Bälle der anderen Mitspielenden zu Fall zu bringen. Das Spiel kann in verschiedenen Versionen gespielt werden und dadurch für den Umgang mit dem Scheitern sensibilisieren: In einer Version kann es die Aufgabe sein, zu jubeln, sobald der eigene Ball vom Kopf rutscht; in einer anderen Version darf in der gleichen Situation geschimpft werden. Gut geeignet sind auch Spiele, in denen Freude und Spannung im Versuchen erlebt werden. Hierzu kann zum Beispiel Traumfänger dienen. In diesem Spiel liegen die Teilnehmenden auf dem Rücken und versuchen mit geschlossenen Augen das Tuch zu fangen, mit dem sie vorsichtig im Gesicht gekitzelt werden. Anschließend tauschen sie sich darüber aus, wie sie das Spiel erlebt haben. Eine Übung, die zur Routine werden sollte, ist das Jonglieren mit der schwächeren Hand. [ 134 ] 3 | 2024 Forum Psychomotorik Auch verschiedene Ansätze zur Selbsterfahrung bieten sich im Gruppenkontext an. Eine Übung legt den Fokus auf Vertrauen, Loslassen und Zuversicht. In dieser Übung bewegen sich die Teilnehmenden im Raum. Eine Person darf mit dem Rücken zur Gruppe den Ball hinter sich werfen und zuvor einen Wunsch an die Gruppen äußern, beispielsweise, dass der Ball eine sanfte Reise oder so viel Spaß wie möglich erleben soll. Anschließend sorgt die Gruppe dafür, dass der Ball die Runde macht und ohne eigenes Zutun zu der Person zurückkommt, die ihn losgeschickt hat. Dieses Spiel ist angelehnt an die Erfahrung, die kleine Kinder machen, wenn sie Gegenstände wegwerfen und wieder zurückbekommen, um zu erforschen, ob sie sich selbst in die unbekannte, freie Welt hinauswagen können (Schoch 2022). In dem Spiel können wir im geschützten Rahmen eine positive Erfahrung von Loslassen, Kontrollverlust und Autonomie machen. Ein anderer Ansatz zur Selbsterfahrung baut auf dem Verständnis von Jonglage als Metapher, Ausdrucksmittel und Instrument auf. Hierbei suchen sich die Teilnehmenden ein Thema oder Anliegen, das mit dem Scheitern oder anderen Entwicklungsherausforderungen zu tun hat. Es werden unterschiedliche Bälle angeboten, die sich in Farbe, Material, Gewicht, Größe und Form unterscheiden. Jede Person wählt einen Ball und erhält den Auftrag, einige Minuten lang damit zu spielen und dann, wenn eine Bewegung Freude macht, bei dieser Bewegung zu bleiben und sie zu wiederholen. Im nächsten Schritt werden die Ergebnisse präsentiert. Jede Person nennt der Gruppe ihr Anliegen, erläutert kurz, wieso sie sich für diesen Ball entschieden hat und präsentiert daraufhin ihre ‚Lieblingsbewegung‘ für ca. 1-2 Minuten. Anschließend äußert die Gruppe Beobachtungen und gibt Rückmeldungen, die für das Anliegen hilfreich sein könnten. In Übereinstimmung mit den Einsichten der Embodiment-Forschung (Schmid 2017; Cantieni et al. 2022) stimmen Leib und emotionaler Ausdruck in der Bewegung mit der Kognition oft überein und bieten hilfreiche Impulse für Lösungsansätze. Darin wird deutlich, dass unsere Spiele mit unserem Handeln verzahnt sind und unsere Art, uns zu bewegen, mit der Art, unser Leben zu führen, eine Einheit bildet und zugleich eine Wechselwirkung besteht, die einen zusätzlichen Spielraum erlaubt. Dieser Spielraum ermöglicht es uns, unser Leben durch unsere Bewegungen oder unsere Bewegungen durch Änderungen im Leben zu beeinflussen. Denn in beiden Fällen handelt es sich »um zentrale Prozesse menschlichen Daseins […], deren enge Vernetzung mit Bewegung und Leiblichkeit evident ist« (Haas 2007, 125). Wenn wir in dem einen Bereich Spiel und Leichtigkeit zulassen, können wir im anderen Bereich damit rechnen, dass sich Spiel und Leichtigkeit ihren Weg bahnen werden. Das Spiel ist also niemals bloß ein Spiel und die Jonglage ist insofern auch niemals bloß Jonglage, sondern immer auch ein Handeln: »Manche lassen sich besser darauf ein, wenn sie die Versicherung bekommen: ‚Es ist nur ein Spiel! ‘. Wenn sie sich einlassen, merken sie, dass das Spiel nicht ohne Folgen ist, sondern wirkungsvoll und real« (Gilmore 2007, 26). In ähnlicher Weise können wir, wenn wir uns auf das Spiel mit den Gegenständen einlassen, bemerken, dass es einen Einfluss auf unser Leben hat, da es von uns selbst nicht zu trennen ist. Literatur Chamberlin, R. (1981): Comedy Juggling. New York Cohen, S. (1988): “The Juggling Girls of Tonga”. 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Herder, Freiburg im Breisgau Die Schriftleitung und der Verlag freuen sich über Ihr Feedback zu diesem Artikel unter journals@reinhardt-verlag.de Die Autorin Nora Kassan bietet freiberuflich Beratung und Seminare zu Themen der Zirkuspädagogik, Systemischen Therapie und Philosophie an und verwaltet eine Professur für Soziale Arbeit an der HAWK in Holzminden. Kontakt norakassani@gmx.de