Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Impulse für die Praxis: Kinder mit Autismus in der Psychomotorik
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Sihna Lind
Wenn wir über Autismus sprechen, sprechen wir meist über die Schwierigkeiten, die die Diagnose mit sich bringt – zu Recht. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung und beeinträchtigt Menschen in vielen Lebensbereichen.
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[ 151 ] Impulse für die Praxis 3 | 2024 [ Impulse für dIe praxIs ] Kinder mit Autismus in der Psychomotorik schwierigkeiten begegnen-- stärken und Interessen einbringen sihna lind Wenn wir über Autismus sprechen, sprechen wir meist über die Schwierigkeiten, die die Diagnose mit sich bringt- - zu Recht. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung und beeinträchtigt Menschen in vielen Lebensbereichen. Ursache ist eine neuronale Veränderung des Gehirns. Denk- und Wahrnehmungsprozesse verlaufen in anderen Strukturen und in besonderer Qualität. Betroffene nehmen ihre Umwelt in vielen Bereichen anders wahr und reagieren daher auch häufig anders. Diese Reaktionen, welche wir von außen als besondere Verhaltensweisen beobachten, sind uns oft fremd, nicht nachvollziehbar und werden zum Teil als herausfordernd wahrgenommen. Kinder mit Autismus erhalten in ihrem Alltag viele negative Rückmeldungen zu ihrem Verhalten. Sie erleben immer wieder, dass sie trotz großer Anstrengung den Erwartungen ihrer Mitmenschen nicht entsprechen und an Kleinigkeiten im Alltag scheitern. Neben den autismusbedingten Schwierigkeiten bestehen aber auch autismusbedingte Stärken. Diese rücken jedoch, vor allem bei Kindern mit einem komplexen Förderbedarf, allzu oft in den Hintergrund. In der psychomotorischen Arbeit mit betroffenen Kindern bildet daher die Stärkung des Selbstkonzeptes und das Schaffen von selbstwirksamen Erfahrungsräumen ein zentrales Anliegen. Dieser Artikel legt den Fokus auf die Stärken und Interessen von Kindern mit Autismus und deren Einbezug in die Stundengestaltung. Die vorgestellten Beispiele sind aus dem Buch Psychomotorische Praxis bei Kindern mit Autismus (Lind 2024) entnommen und adaptiert. Spezialinteressen Menschen mit Autismus beschäftigen sich intensiv und ausdauernd mit ausgewählten Interessensgebieten und eignen sich hierüber ein umfangreiches Wissen über ausgewählte Themenfelder an. Diese Spezialinteressen werden von Betroffenen als wichtige Kraftquelle bezeichnet. Sie beinhalten häufig ungewöhnliche Themen wie z. B. Waschmaschinen, können aber auch alterstypische Themen, wie z. B. das Interesse an Pferden, enthalten. Über den Einbezug der Spezialinteressen in die psychomotorische Praxis erfährt das Kind Wertschätzung für die eigenen Interessen. Besonders bei ungewöhnlichen Spezialinteressen, die im Umfeld auf Desinteresse oder Abneigung führen, bildet das Aufgreifen ihrer Themen im psychomotorischen Setting einen wichtigen Resonanzraum. Das Einbinden von Spezialinteressen in die Stundengestaltung trägt zur Motivation bei (besonders bei nicht so beliebten Aktivitäten) und bildet bei einigen Kindern (vorerst) den einzigen Weg, um an der Stunde teilzunehmen. Viele Kinder mit Autismus zeigen Auffälligkeiten in der motorischen Entwicklung und lassen sich zum Teil nur schwer für Bewegungsangebote begeistern. Auch unliebsame Stundenanteile können zu Verweigerungen führen. Mit dem Einbezug der Spezialinteressen kann dem entgegengewirkt und die Motivation des Kindes gesteigert werden. Stundengestaltung mit einem Parcours zur Förderung der Fein- und Grafomotorik mit dem Spezialinteresse »Waschmaschine« 1. Fleckenmonster: Auf einem Blatt wird der Umriss eines T-Shirts aufgemalt. Mit farbigen Stiften malt das Kind Flecken auf das Shirt. 2. Wäsche vorbereiten: Bohnensäckchen werden jeweils in ein Chiffontuch gelegt und zusammengeknotet. [ 152 ] 3 | 2024 Impulse für die Praxis 3. Waschmaschine beladen: Die vorbereitete Wäsche wird in eine Schüssel geworfen. 4. Waschprogramm wählen: Jedem Waschprogramm ist ein Muster zugeordnet, welches das Kind nachzeichnet. 5. Waschmittel-Pods: Aus Knete werden Waschmittel-Pods geformt. 6. Waschvorgang: Tücher werden in einer Schüssel eingeweicht und durchgeknetet. Anschließend werden sie ausgewrungen und mit großen Armbewegungen ausgeschleudert. 7. Wäschetransport: Die Wäsche wird mit dem Rollbrett zum Trockenplatz gebracht. 8. Wäsche aufhängen: Die Wäsche wird auf einer Wäscheleine mit Wäscheklammern aufgehangen. Über Spezialinteressen Teilhabe ermöglichen Das Erkennen und Einhalten von Regeln sind für viele Kinder mit Autismus eine Herausforderung. Das Einbinden von Spezialinteressen kann Kindern hierbei Orientierung geben, erwünschtes Verhalten unterstützen und Teilhabe ermöglichen: Fallbeispiel: Nilo ist fasziniert vom Weltall und hat sich über sein Spezialinteresse ein umfangreiches Wissen angeeignet. In der Psychomotorik hat Nilo große Schwierigkeiten, an vorgegebenen Stundenaktivitäten teilzunehmen und bestehende Regeln einzuhalten. Es kommt immer wieder zu Verweigerungssituationen und regelüberschreitenden Verhaltensweisen während der Stunde. Um Nilos Motivation zu steigern, baut die psychomotorische Fachkraft sein Spezialinteresse »Weltall« in ihre Stundengestaltung ein: Fantasiereisen führen ins Weltall, es werden Astronauten-Atemübungen angeboten und Asteroidengestein im Bewegungsparcours gesucht. Über diesen Zugang kann Nilo immer öfter an den Aktivitäten teilnehmen. Herausfordernd bleiben angeleitete Situationen, wie die Begrüßungs- oder Abschlussphase, in welchen die Kinder an einem Platz sitzen und zuhören. Nilos Schwierigkeiten in der Impulsregulation führen dazu, dass er während dieser Phasen immer wieder aufsteht und davonrennt. Wenn Astronauten in ihrer Raumstation an einem Ort bleiben wollen, z. B. an ihrem Arbeitsplatz, befestigen sie ihre Füße in vorgefertigte Schlaufen. Diese sind an vielen Orten in der Raumstation befestigt. So gelingt es ihnen, trotz Schwerelosigkeit, an einem Platz zu bleiben. Die Fachkraft übernimmt die Idee für Gesprächssituationen während der Stunde und installiert für Nilo eine »Astronauten-Docking-Station». An dieser kann Nilo seine Füße während der Begrüßung oder bei der Besprechung von Stundeninhalten andocken. Es ist ihm so möglich, seine Impulse besser zu regulieren und an Gesprächssequenzen während der Stunde teilzuhaben. Abb. 1: Waschprogramm wählen (Lind 2024, 79) Abb. 2: Waschmittel-Pods herstellen (Lind 2024, 79) Abb. 3: Die Astronauten-Docking-Station (Lind 2024, 77) Abb. 4: Die Alarmanlage (Lind 2024, 86) [ 153 ] Mirbek • Wissen kompakt: Bodyshaming 3 | 2024 [ 153 ] Impulse für die Praxis 3 | 2024 Stärken Kinder mit Autismus zeigen vielfältige und individuelle Stärken. Aufgrund der anderen Funktionsweise des Gehirns lassen sich bei Menschen mit Autismus Stärken identifizieren, welche innerhalb dieses Personenkreises gehäuft vorkommen, z. B. Detailwahrnehmung, Merkfähigkeit, logisches Denken, visuelle Wahrnehmung, Gründlichkeit, Loyalität, Ordnungssinn, Ehrlichkeit, Muster- und Fehlererkennung. Über das Aufgreifen der individuellen Stärken in die psychomotorische Stundengestaltung erlebt sich das Kind als kompetent und wirksam, was sich positiv auf das Selbstkonzept auswirkt. Besonders für Kinder, welche im Alltag gehäuft auf negative Resonanz stoßen, stellt dies ein wesentlicher Aspekt in der Entwicklung eines positiven Selbstbildes dar. »Ich sehe was, was du nicht siehst«-- Stärken: Merkfähigkeit, Detailwahrnehmung In einem Reifen wird Kleinmaterial bereitgelegt, z. B. ein Muggelstein, Pinsel, Spielzeugauto, Puzzleteil, etc. Die Kinder dürfen sich die Gegenstände anschauen. Anschließend wird eine Decke über den Reifen gelegt und die Kinder schließen die Augen. Die Fachkraft entfernt einen der Gegenstände und die Kinder raten, welcher Gegenstand entfernt wurde. In der Variation kann ein Gegenstand nicht weggenommen, sondern an einen anderen Ort gelegt oder ein Gegenstand durch einen anderen ersetzt werden. »Alarmanlage«-- Stärken: Mustererkennung, Merkfähigkeit Aus mindestens 10 farbigen Fliesen oder Matten wird ein Weg gelegt, der zu einem Schatz führt. Der Weg dient als Alarmanlage, die mit verschiedenen Codes programmiert wird. Ein Code könnte z. B. lauten: rot, rot, blau, grün. Das Kind muss in der korrekten Farbreihenfolge die Alarmanlage passieren. Dabei wird der Code so lange wiederholt, bis das Kind am Schatz angelangt ist. Wird eine falsche Farbe betreten, wird der Alarm ausgelöst und das Kind muss zurück zum Anfang. Literatur Lind, S. (2024): Psychomotorische Praxis bei Kindern mit Autismus. Arbeitsbuch für die Praxis. Ernst Reinhardt, München DOI 10.2378/ mot2024.art27d Die Autorin Sihna Lind Heilpädagogin und Motologin, arbeitet an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Zu ihrem Tätigkeitsprofil am Institut für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung gehört die Mitarbeit an Forschungsprojekten sowie die Lehre im Bachelor- und Masterstudiengang Psychomotoriktherapie. sihna.lind@hfh.ch
