eJournals Motorik 47/4

Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2024
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Forum Psychomotorik: Mittendrin statt nur dabei? 25 Jahre Schulentwicklung im Kanton Luzern und deren Auswirkungen auf die Psychomotoriktherapie

101
2024
Kimon Blos
Der Beitrag skizziert Schulentwicklungsprojekte im Schweizer Kanton Luzern und deren Auswirkungen auf die im Schulsystem integrierte Psychomotoriktherapie. Während ihr zunächst eigene Entwicklungsziele übertragen wurden, veränderte sich ihr Anforderungsprofil im Anschluss indirekt über die Zusammenarbeit mit den sich entwickelnden Schulen. Die latenten Adaptationen bleiben dann aber von den Aufsichtsgremien unbemerkt, deren statistische Erhebungen die praktische Arbeit nicht mehr umfänglich abbilden. So ist die Psychomotorik zwar Teil der Schule, aber kaum in deren strategische Entwicklung eingebunden.
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Zusammenfassung / Abstract Der Beitrag skizziert Schulentwicklungsprojekte im Schweizer Kanton Luzern und deren Auswirkungen auf die im Schulsystem integrierte Psychomotoriktherapie. Während ihr zunächst eigene Entwicklungsziele übertragen wurden, veränderte sich ihr Anforderungsprofil im Anschluss indirekt über die Zusammenarbeit mit den sich entwickelnden Schulen. Die latenten Adaptationen bleiben dann aber von den Aufsichtsgremien unbemerkt, deren statistische Erhebungen die praktische Arbeit nicht mehr umfänglich abbilden. So ist die Psychomotorik zwar Teil der Schule, aber kaum in deren strategische Entwicklung eingebunden. Schlüsselbegriffe: Psychomotorik, Schulentwicklung Right in the middle instead of just within? 25 years of school development in the canton of Lucerne and its effects on psychomotor therapy The article outlines school development projects in the Swiss canton of Lucerne and their effects on psychomotor therapy integrated into the school system. Because its own developmental goals gradually failed to achieve, its requirements profile subsequently changed indirectly through collaboration with the developing schools. However, the latent adaptations then remain unnoticed by the supervisory bodies, whose statistical surveys no longer fully reflect the practical work. Psychomotor therapy is part of the school, but hardly integrated into its strategic development. Keywords: Psychomotor therapy, school development [ 176 ] 4 | 2024 motorik, 47. Jg., 176-182, DOI 10.2378 / mot2024.art32d © Ernst Reinhardt Verlag [ Forum Psychomotorik ] Mittendrin statt nur dabei? 25 Jahre Schulentwicklung im Kanton Luzern und deren Auswirkungen auf die Psychomotoriktherapie kimon Blos Die Psychomotorik in der Schweiz verdankt ihrer Einbindung ins landesweite Schulsystem eine besondere Aufmerksamkeit, die sich auch in diversen Beiträgen dieser Zeitschrift zur Geschichte, zu Status quo und potenzieller Zukunft (z. B. Blos 2020, Sägesser Wyss / Gasser-Haas 2021) abbildet. Diese zumindest im deutschsprachigen Raum einmaligen Voraussetzungen eröffnen verlässliche Arbeits- und nachhaltige Entwicklungsbedingungen für ihr Fachpersonal bzw. ihren Professionsdiskurs. Sie befördern aber auch eine enge Ausrichtung an schulischen Themen und Zielen, denen sich die Schweizer Psychomotoriktherapie (PMT) aufgrund jener Einbindung nicht entziehen kann. Schulentwicklungsprojekte wirken sich somit jeweils (un)mittelbar auf die psychomotorische Arbeit aus. Am Beispiel des Kantons Luzern, denn auch in der Schweiz herrscht föderalistische Bildungshoheit, sollen diese Zusammenhänge über die vergangenen 25 Jahre skizziert werden (Tab. 1). 1995-2005: Schulen mit Profil »Schools make a difference! « lautete ein populärer Slogan, der sich auf Grundlage angelsächsischer Studien Mitte der 1990er Jahre auch in der Schweiz durchsetzte. Demnach wuchs die Überzeugung, Schule und deren Qualität über die Prinzipien der Selbstorganisation und Teilautonomie wirksam gestalten zu können. Das [ 177 ] Blos • Mittendrin statt nur dabei? 4 | 2024 daraus abgeleitete Luzerner Projekt »Schulen mit Profil« (Tab. 2) galt dem Züricher Bildungsforscher Xaver Büeler (2004, 1) dabei im Hinblick auf »das Gesamtkonzept und die Konsequenz in der Umsetzung« als beispielhaft: Es falle ihm schwer, »im deutschsprachigen Raum ein vergleichbares Reformvorhaben zu bezeichnen.« Büeler unterstreicht die hohen Ambitionen, die in einem systemischen Ansatz zum Ausdruck kämen, obwohl sich dieser zu jener Zeit im pädagogischen Umfeld noch nicht etabliert habe. So sollten sämtliche Anspruchsgruppen, wie z. B. Schulaufsicht, Schulleitung, Lehrpersonen, Eltern und SchülerInnen, in den Innovationsprozess einbezogen und dieser auf allen Ebenen der Bildungspolitik und -administration, der lokalen Schuleinheit sowie der eigentlichen Lernprozesse gleichzeitig vorangetrieben werden. Ausgangspunkt und Zielperspektive waren ein Paradigmenwechsel von einer außengeleiteten, fremdverwalteten hin zu einer innengesteuerten, selbstorganisierten Schule. Fokus Organisationsentwicklung: Psychomotorik als Teil der Schule / Schuldienste Mit der Aufnahme ins kantonale Volksschulbildungsgesetz (§ 9: Schulische Dienste, c: pädagogisch-therapeutische Dienste) mussten alle Schülerinnen und Schüler während ihrer obligatorischen Schulzeit vom Kindergarten bis zur 9. Klasse bei Bedarf Zugang zu psychomotorischen Angeboten erhalten. Dieses Angebot wurde und wird weiterhin über die sogenannten Schuldienste bereitgestellt, zu denen auch die Logopädie, die Schulpsychologie und mittlerweile auch die Schulsozialarbeit gehören. Die Verordnung über die Schuldienste (SRL 408) regelt die Zuständigkeit (13 regionale Kreise im Kanton) und die Mindestkapazitäten (1500 Schülerinnen und Schüler vom Kindergarten bis zur 6. Primarschulklasse generieren 100 Stellenprozente Psychomotoriktherapie). Diese Schuldienste waren ein Zusammenschluss vormals eigenständiger Fachdienste und sollten nun von einer Schuldienstleitung geführt werden, die ihrerseits in die Führungsstruktur der Schulleitung einzubinden war. Da die Schule sich jedoch lediglich kommunal verantwortet, die Schuldienste aber im Hinblick auf sinnvolle Angebotsgrößen und die Verteilung der notwendigen Infrastruktur zumeist regional organisiert wurden, mussten entweder interkommunale Kommissionen gegründet oder eine Trägergemeinde für die behördliche Verwaltung und Aufsicht gefunden werden. Das neugebildete Schuldienstteam aus Fachpersonen der Logopädie, Psychomotorik und Schulpsychologie hatte unterdessen Fragen der resultierenden Interdisziplinarität zu klären, die sich im Hinblick auf die neu definierten »Aufgaben in den Bereichen Unterricht und Erziehung, Gestaltung und Weiterentwicklung der Schule sowie Evaluation und Weiterbildung« (VBG, § 23, 1) noch potenzierten. Im Schnittpunkt dieser Palette lag dabei der direkte Kontakt zur Lehrperson der betreuten Kinder. Denn, »dass die verstärkte Prävention und die Therapie unter Beachtung systemischer Grundsätze von den Fachpersonen vermehrt die Zusammenarbeit mit Erziehungsberechtig- Tab. 1: Schulentwicklungsprojekte Kanton Luzern Entwicklungsprojekt Zeitraum Ziele für die Schule: Entwicklungsschwerpunkte (Haupt-)Auswirkungen auf die PMT Schulen mit Profil 1995-2005 5 Entwicklungsthesen zur Schulführung und Schulorganisation PMT als Teil der Schule bzw. Schuldienste Schulen mit Zukunft 2005-2020 5 Entwicklungsziele: der Unterricht rückt ins Zentrum PMT als Angebot der integrativen Sonderschulung, Implementierung und Emanzipation von schulischen Strukturen Schulen für alle 2023-2035 5 Entwicklungsschwerpunkte noch offen [ 178 ] 4 | 2024 Forum Psychomotorik ten und Lehrpersonen sowie eine gute Verbindung zu den Schulen erfordert, versteht sich von selbst. Aus demselben Grund wurde aber auch eine wesentlich bessere Zusammenarbeit und Koordination der einzelnen Fachdienste untereinander nötig« (EKD 1998, 10). Doch in welcher Intensität und unter welcher Zielstellung sollten die Lehrpersonen beraten werden, galt es nun schulische Lerninhalte zu unterstützen oder individuelle Entwicklungsthemen aufzugreifen (Blos 2014), wer war Auftragsgeber und wie transparent durfte der Austausch zwischen Erziehungsberechtigten, Lehrpersonen und weiteren involvierten (Schuldienst-) Fachpersonen erfolgen? Diese und ähnliche Fragen waren disziplinär wie interdisziplinär zu klären- - denn als Repräsentantinnen einer Schuldiensteinheit sollten sich die Beratungsintentionen der verschiedenen Fachdienste zumindest nicht widersprechen. Die notwendige Koordination oblag der Schuldienstleitung, die »für ein Schuldienstprofil mit gemeinsam erarbeiteten Leitideen und Zielsetzungen« (EKD 1998, 15) zu sorgen hatte. Sie »plant und organisiert die Arbeiten des Schuldienstes« (a. a. O., 16), die sich für alle Mitarbeitenden auf drei Bereiche verteilen: 1. Arbeitsbereich (AB) Kind, Erziehungsberechtigte, Lehrperson (Erfassen / Abklären / Beurteilen, Beraten, Begleiten / Behandeln, Therapieren, Administration); 2. AB Schule und Öffentlichkeit (Prävention, Information / Beratung, Zusammenarbeit mit Behörden und Schulen); 3. AB Fachperson (Zusammenarbeit im Schuldienst und zwischen den Diensten, Fortbildung, Beurteilung / Evaluation). Tab. 2: Entwicklungsprojekt Schulen mit Profil (1995-2005) Fünf Entwicklungsthesen zur Schulführung und Schulorganisation Auswirkungen auf die PMT 1. Schulorganisation und Verhältnis Kanton-Gemeinden Der Kanton gibt den Gemeinden die Kompetenz ab, ihre Schule den lokalen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten. Konkret gibt sich jede Schule ihr eigenes Profil. Um die Qualität zu sichern, legt der Kanton die Rahmenbedingungen fest. Integration der PMT in die Schule (SRL 400a) 2. Teamarbeit und Schulklima Lehrpersonen eines Schulhauses sind ein Team und erfüllen den Bildungsauftrag gemeinsam. Die Eltern werden in die Arbeit miteinbezogen und die Behörden unterstützen sie. Indem in dieser Lehr- und Lerngemeinschaft alle ihren Teil der Verantwortung tragen, sind die Einzelnen entlastet. Integration der PMT in die Schuldienste (SRL 408) 3. Aufgaben der Lehrperson Der berufliche Auftrag der LehrerInnen wird neu umschrieben. Er trägt den anspruchsvollen und vielschichtigen Aufgaben Rechnung. Dazu gehören Unterricht und Erziehung, Teamarbeit, Aufgaben für die Schulgemeinschaft, Zusammenarbeit mit außerschulischen Instanzen sowie Fortbildung. Berufsauftrag und interdisziplinäre Zusammenarbeit 4. Schulleitung Eine Schule, die Profil gewinnen will, braucht eine kompetente Führung in betrieblicher und pädagogischer Hinsicht. Die Schulleitung übernimmt eine Einzelperson oder ein Team-- Personen, die eigens dafür ausgebildet sind. Einbindung in kommunale Leitungsstruktur der teilautonomen Schule 5. Schulaufsicht und Schulpflege Zur Qualitätssicherung der dezentral organisierten Schule gehören Instrumente der Evaluation und der Aufsicht: Das Schulhausteam beurteilt seine Arbeit periodisch selbst. Die kommunalen Schulbehörden und die kantonale Schulaufsicht prüfen die Durchführung dieser Evaluation und führen eigene Beurteilungen durch. Ihr Interesse gilt primär der Schule als Ganzes, nicht der einzelnen Lehrperson. Aufbau der fachlichen Qualitätssicherung (Selbstbeurteilung, kollegiale und vorgesetzte Fremdbeurteilung des Fachpersonals) [ 179 ] [ 179 ] Blos • Mittendrin statt nur dabei? 4 | 2024 Für den ersten Arbeitsbereich sollten 75 % der zeitlichen Kapazitäten eingesetzt werden. Dafür standen in einem 100 %-Pensum 29 Lektionen-- analog zu den Sollverpflichtungen einer Primarschullehrperson (Entlohnung ebenfalls auf deren Niveau)-- zur Verfügung. Die Therapielektionen waren als separative Maßnahmen angelegt, die die jeweiligen Kinder einzeln oder in Zweiergruppen auch während der Unterrichtszeit besuchen konnten. Die oben aufgeworfenen Fragen zur Qualitätssicherung wurden auf die Ebenen der Schuldienstleitung, Selbstbeurteilung wie kollegialen Fremdbeurteilung verteilt. Für Letztere bildeten sich verbindliche überregionale Hospitations- und Intervisionsgruppen, die- - im Sinne der Selbstverwaltungsprämisse- - das vormalige kantonale Inspektorat ablösten. Auf kantonaler Ebene wurde die Funktion einer oder eines Beauftragten für die einzelnen Fachdienste geschaffen, der oder die als Ansprechpartnerschaft für die im Kanton tätigen Psychomotoriktherapeutinnen zur Verfügung steht und Gesamtkonferenzen zur Organisations- und Entwicklungsunterstützung anbietet. 2005-2020: Schulen mit Zukunft Der selbstdeklarierte Erfolg des ersten gemeinsamen Schulentwicklungsprojektes motivierte die fünf involvierten Trägerschaften der Luzerner Volksschulen- - Luzerner Lehrerinnen- und Lehrerverband (LLV), Verband der Schulleiterinnen Tab. 3: Entwicklungsprojekt Schulen mit Zukunft (2005-2020) Fünf Entwicklungsziele: der eigentliche Unterricht rückt ins Zentrum Auswirkungen auf die PMT 1. Kernkompetenzen und Mindeststandards beschreiben In einem neuen Lehrplan werden die zu erreichenden Kernkompetenzen im fachlichen, personalen, sozialen und methodischen Bereich eindeutig definiert. Diese Kernkompetenzen umschreiben die elementare Bildung, welche von allen Lernenden zu erreichen ist. Bezugspunkte der PMT zum Lehrplan verdeutlichen (Strategiegruppe 2017) 2. Schulstrukturen im Sinne von längerfristigen Zyklen schaffen Die Luzerner Volksschule wird so organisiert, dass länger dauernde Lernzyklen mit hoher Kontinuität entstehen. Nach einer vierjährigen Basisstufe folgt eine gleich lange Primarstufe. In diesen beiden Schulstufen erfolgt nur eine innere Differenzierung im Rahmen von Lerngruppen. Den Abschluss der obligatorischen Schulzeit bildet die Sekundarstufe I mit einer geringen äußeren Differenzierung. Schulstrukturen übernehmen und überwinden 3. Den Umgang mit Heterogenität im Unterricht fördern Der zunehmenden Vielfalt in den Klassen ist durch geeignete Unterrichtsformen zu begegnen. Es müssen vermehrt individualisierende Lernformen eingesetzt werden können. Dies wird einerseits durch entsprechende Schulstrukturen mit zusätzlichem Lehrpersonal und andererseits durch eine intensive Weiterbildung ganzer Schulteams sowie der einzelnen Lehrpersonen im Bereich »Lehren und Lernen« sichergestellt. PMT als Angebot integrativer Sonderschulmaßnahmen 4. Schulische Unterstützungsangebote überprüfen und ergänzen Im Zentrum dieser Unterrichtsangebote stehen Lehrpersonen für die integrative Förderung (IF), die direkt in den Klassen eingesetzt werden. Diese werden ergänzt durch schulnahe Angebote, die Einführung der Schulsozialarbeit (SSA) sowie Angebote im Sonderklassenbereich. Zusammenarbeit mit zusätzlichen Fachpersonen erhöht Interdisziplinarität und schärft Fachprofil 5. Familienergänzende Betreuungsangebote bereitstellen Die Schulträger der Luzerner Volksschulen stellen ein breites Angebot von familien-ergänzenden Betreuungsangeboten bereit. Mit diesem Betreuungsangebot werden die Bemühungen der Familie bzw. der Schule ergänzt oder in besonderen Situationen vereinzelt so weit wie möglich kompensiert. PMT-Angebote während der Schul- und Betreuungszeiten generieren Transportfragen [ 180 ] 4 | 2024 Forum Psychomotorik und Schulleiter (VSL LU), Verband der Schulpflegepräsidien (VSPL), Verband Luzerner Gemeinden (VLG) und das Bildungs- und Kulturdepartement (BKD)- - zur Fortsetzung. In Rücksprache mit Wissenschaft und Wirtschaft wurden fünf Entwicklungsziele formuliert (Tab. 3), die nach den Organisationsstrukturen nun den eigentlichen Unterricht ins Zentrum rückten. Zur möglichst optimalen individuellen Förderung in zunehmend heterogenen Klassen »sollten neue Unterrichtskonzepte erprobt und etabliert werden. Damit dies gelingen konnte, mussten aber auch die Schulstrukturen angepasst und die inner- und außerschulischen Unterstützungsangebote überprüft und ergänzt werden« (DVS 2020b, 11). Fokus Fachlichkeit: Implementierung und Emanzipation von schulischen Strukturen Das Vorgängerprojekt »Schulen mit Profil« hatte Teilautonomie und Selbstverwaltung als wesentliche Aspekte und Chance propagiert, die eigene Schulentwicklung wirksam auf die spezifischen kommunalen Bedürfnisse und Anforderungen abzustimmen. Für die deutlich kleineren Einheiten der Schuldienste, die zudem regional aufgestellt wurden, bedeuteten diese Optionen aber auch eine Hypothek. Und während vormals noch explizite Entwicklungsziele für die Schuldienste / Psychomotorik ausformuliert wurden, fehlten diese nun. Doch der Handlungsdruck war spürbar: Zum einen wirkten sich die Veränderungen in der Schule implizit auf die Arbeitsinhalte und die Angebote der Psychomotorik aus. Zum anderen galt es, sich trotz der strukturellen Einbindung gegen die Vereinnahmung durch die Schule zu schützen und die eigene Fachlichkeit als Korrektiv im System zu positionieren (Blos 2014). Zugute kamen der Psychomotorik in diesem Prozess parallel verlaufende Entwicklungen aus anderen Richtungen. So forderte das Behindertengleichstellungsgesetz vermehrte Integration (BehiG 2002) und der Rückzug der Invalidenversicherung aus der Kostenbeteiligung eine umfängliche Finanzierung des pädagogischtherapeutischen Angebots durch das Bildungsdepartement. Die Integration von SchülerInnen mit besonderem Unterstützungsbedarf stärkte die Einsicht in die Notwendigkeit individueller Förderung. So wurde zusätzliches heil- und sonderpädagogisch ausgebildetes Personal in den Schulen eingeführt, welches das Verständnis für die nämlichen psychomotorischen Überzeugungen stärken und multiplizieren konnte. In Absprache mit jenen Unterrichtsteams der Klassenlehrperson und der Fachperson für Integrative Förderung / Schulische Heilpädagogik sowie der jeweiligen kommunalen Schulleitung konnten nun sogar psychomotorische Maßnahmen kantonal verfügt werden. In dieser institutionalisierten Kooperation mit obligatorischen Leistungsvereinbarungen, Fördergesprächen, Dokumentationen und Berichten fließen seitdem psychomotorische Prinzipien regelmäßig in die Schulen, Klassen und Unterrichtsteams ein, stärken deren Aufmerksamkeit für ihre Bedeutung im Lern- und Sozialverhalten der Kinder oder Jugendlichen und verdeutlichen wiederkehrend ihr Angebotsprofil. Mit dem Ausstieg der medizinisch orientierten und dem Gesundheitswesen zugehörigen Invaliden Versicherung (IV) als zusätzliche Geldgeberin wurden auch die formalen Rahmenbedingungen für eine alleinige Verantwortung des BKD für die Finanzierung und Qualitätssicherung der im schulischen Umfeld erbrachten psychomotorischen Dienstleistungen geschaffen. Wie bei allen schulergänzenden Angeboten erfolgten die Anstellungen der Psychomotoriktherapeutinnen nun nicht mehr im Lektionenmodell (29 / 100 %), sondern analog zum Verwaltungspersonal in einer Wochenarbeitszeit von 42h (100 %). Diese Entbindung von schulischen Strukturen wurde jedoch durch einen neuen Berufsauftrag für die Schuldienste / Psychomotorik begleitet, der sich den arbeitsbereichsanteiligen Vorgaben der Lehrpersonen zu fügen hatte. Die klientelorientierte Kernarbeit (AB1) soll nun 85 % betragen (zuvor 75 %) und das Zeitbudget für die (als Arbeitszeit anrechenbare) Weiterbildung und Qualitätssicherung wurde von So konnten nun sogar psychomotorische Maßnahmen kantonal verfügt werden. [ 181 ] [ 181 ] Blos • Mittendrin statt nur dabei? 4 | 2024 5 auf 2.5 % halbiert (DVS 2020a). Dennoch eröffnet das 42h-Modell eine größere Flexibilität für Präventions- oder Interventionsprojekte abseits der starren 45-Minuten-Taktung und bot zudem einer Entzerrung auch der Kernarbeit von den Unterrichtswochen in die Schulferien Vorschub. Damit sollen überlange Arbeitstage, die als ein wesentlicher Stressfaktor evaluiert wurden (Blos 2022), reduziert und so dem Fachkräftemangel durch niedrigere Dropout-Quoten und höhere Anstellungsvolumen der Fachpersonen vorgebeugt werden. Auch bei der Konzeption jener Qualitätssicherung dienten die Instrumente für die Lehrpersonen als obligatorisches Vorbild. So wurden Indikatoren guter psychomotorischer Arbeit in den drei bereits oben genannten Bereichen zur Selbst- und Fremdbeurteilung festgelegt und jeweils eine Auswahl davon im jährlichen Praxisbesuch der Leitung beobachtet und im anschließenden Beurteilungs- und Fördergespräch gemeinsam erörtert. Während die Schulen jedoch regelmäßig extern evaluiert werden, sind die Schuldienste angehalten, diese Qualitätssicherung intern zu erheben. So sollen sie unter kantonalen Rahmensetzungen eine schulische Nähe und fachliche Unabhängigkeit gewährleisten sowie innerhalb der eigenen kommunalen Strukturen eine äußere Expertise bieten. Verlaufszahlen statt Ausblick Da das aktuelle Schulentwicklungsprojekt Schulen für alle (2023-2035) wiederum keine expliziten Zielperspektiven für die Schuldienste respektive die Psychomotoriktherapie ausweist und resultierende Anforderungen noch nicht absehbar sind, sollen statt etwaiger Spekulationen einige statistische Kennzahlen (Tab. 4) einen Einblick in die konkrete psychomotorische Arbeit erlauben. Bei steigenden SchülerInnenzahlen bleibt der Anteil der Anmeldungen über die hier statistisch abgebildeten 20 Jahre mit jeweils 2 % sehr stabil. Die Therapieindikation der angemeldeten Kinder steigt jedoch, was womöglich darauf zurückzuführen wäre, dass das Leistungsprofil der Psychomotorik durch deren regelmäßige Öffentlichkeitsarbeit in den Schulen Lehrpersonen und Erziehungsberechtigte für eine Vorselektion sensibilisiert. So sinkt entsprechend der Anteil der Kinder, die im Anschluss ohne Maßnahme bleiben. Überraschend scheint aber, dass trotz Tab. 4: Mittelwertvergleiche zu ausgewählten statistischen Kennzahlen / Schuljahr Item MW 02 / 03-10 / 11 MW 11 / 12-16 / 17 MW 17 / 18-22 / 23 Total der Lernenden nicht erhoben 39.003 41.083 Total der Anmeldungen 830 777 816 Anteil der Anmeldungen auf das Total der Lernenden nicht erhoben 2,0 % 2,0 % Untersuchungen 794 730 764 Therapieindikationen 59,8% 65,7% 68,8% Wiedervorstellung (Kontrolle / Beratung) 17,2% 14,5% 14,2% Keine Maßnahme 22,5% 18,6% 17,2% Total der Therapien 943 911 881 Verweildauer 15.88 Monate 15.4 Monate 15,37 Monate [ 182 ] 4 | 2024 Forum Psychomotorik einer höheren Indikationsrate und gleichzeitig abnehmender Verweildauer der Kinder in der Therapie das Total der im Kanton Luzern angebotenen Therapien sukzessive sinkt. Hier würden doch steigende Anmeldezahlen und höhere Indikationen auch einen Therapiezahlanstieg vermuten lassen. Als potenzieller Erklärungsansatz wären just die ohne offiziellen Auftrag vollzogenen Entwicklungsschritte denkbar: Die TherapeutInnen investieren ihre Zeitressourcen verstärkt in (Präventions-)Projekte und integrative Sonderschulmaßnahmen, die aber statistisch nicht erfasst werden. Fazit Um die Adaptations- und Lernfähigkeit des Schulsystems auszubauen, sind Schulentwicklungsprojekte unabdingbar. Diese wirken sich auch dann auf die Arbeit der Psychomotoriktherapie als Teil der Schweizer Schulangebote aus, wenn für sie selbst keine expliziten Entwicklungsziele formuliert werden. Die aus der interdisziplinären Zusammenarbeit mit den sich verändernden Schulen latent erwachsenden Anpassungen vollziehen sich somit häufig unbemerkt von den mit Evaluation und Aufsicht betrauten Bildungsgremien, weshalb die erhobenen statistischen Kennzahlen nicht immer die tatsächliche Arbeit abbilden. So ist die Psychomotoriktherapie zwar Teil des kantonalen Schulsystems, selbst aber nicht zwingend Adressatin von dessen Entwicklungsambitionen und verbleibt bisher im Status einer systemerweiternden Ergänzung, die punktuell kindbezogen herangezogen wird, in den überindividuellen Strategieüberlegungen aber keine Rolle spielt. Literatur Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) (2002): Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2002. In: https: / / www.fedlex.admin.ch / eli / cc / 2003 / 667 / de, 14.04.2024 Blos, K. (2014): Wenn zwei dasselbe tun, ist einer überflüssig. Über Heterogenität und Individualisierung in Schule und Psychomotorik. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik 20 (4), 38-45 Blos, K. (2020): Visionen für die Psychomotorik im Schweizer Schulsystem. Von aktuellen Chancen und perspektivischen Risiken. Motorik 43 (1), 10- 15, https: / / doi.org/ 10.2378/ mot2020.art03d Blos, K. (2022): Arbeitsbedingte Stressfaktoren. Interne Evaluation der Schuldienste Willisau (unveröffentlicht). Bühler, X. (2004): Vorwort. In: Universität Zürich. Forschungsbereich Schulqualität und Schulentwicklung (Hrsg.): ARGE Evaluation »Schulen mit Profil«. Zusammenfassender Schlussbericht, 1-2 EKD (Hrsg.) (1998): Schulen mit Profil. Orientierungshilfe Nr. 7. Organisation und Stellung der Schuldienste. DVS (Hrsg.) (2020a): Berufsauftrag für Mitarbeitende der Schuldienste. 2. Aufl. In: www.volksschulbildung.lu.ch, 14.04.2024 DVS (Hrsg.) (2020b): Schulen mit Zukunft. Das Ende, das erst der Anfang ist. CH Media Print AG, Aarau, St. Gallen Sägesser Wyss, J., Gasser-Haas, O. (2021): Entwicklungen in der Schweizer Psychomotoriktherapie. Motorik 44 (4), 161-165 SRL Systematische Rechtssammlung (1999): 400a. Gesetz über die Volksschulbildung (VBG). In: https: / / srl.lu.ch / app / de / texts_of_law / 400a, 14.04.2024 SRL Systematische Rechtssammlung (1999): 408. Verordnung über die Schuldienste. In: https: / / srl. lu.ch / app / de / texts_of_law / 408, 14.04.2024 Strategiegruppe PMT Kanton Luzern (2017): LP21. Ausgewählte Bezugspunkte für die Psychomotoriktherapie (PMT). Eine Orientierungshilfe für lehrplankompatible Inhalte psychomotorischer Angebote. In: https: / / www.psychomotorik-schweiz.ch / / verband / sektionen / luzern, 18.04.2024 Die Schriftleitung und der Verlag freuen sich über Ihr Feedback zu diesem Artikel unter journals@ reinhardt-verlag.de Der Autor Dr. Kimon Blos Psychomotoriktherapeut (EDK), Diplom-Motologe, Diplom-Sportlehrer, Schuldienstleiter Willisau / LU, Fachbeauftragter Psychomotoriktherapie Kanton Luzern, Dozent für Psychomotorik, Motologie und Bewegungsförderung der PHSZ Anschrift Pädagogische Hochschule Schwyz Zaystrasse 42 CH-6410 Goldau kimon.blos@phsz.ch