Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Wissen kompakt: Sprachförderung durch psychomotorische Intervention
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Nina Kaufmann-Kern
Von zentraler Bedeutung für eine gelingende Bildungsbiografie ist die gut entwickelte sprachliche und kommunikative Kompetenz. Die sprachbezogenen Anforderungen, die im Lauf der Bildungsbiografie zu bewältigen sind, abhängig vom Entwicklungsstand, dem sprachlichen Umfeld der Kinder und der selbsttätigen Auseinandersetzung mit dem realen Umfeld, verändern und differenzieren sich.
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[ 198 ] 4 | 2024 motorik, 47. Jg., 198-200, DOI 10.2378 / mot2024.art35d © Ernst Reinhardt Verlag [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Wissen kompakt: Sprachförderung durch psychomotorische Intervention Nina Kaufmann-Kern Von zentraler Bedeutung für eine gelingende Bildungsbiografie ist die gut entwickelte sprachliche und kommunikative Kompetenz. Die sprachbezogenen Anforderungen, die im Lauf der Bildungsbiografie zu bewältigen sind, abhängig vom Entwicklungsstand, dem sprachlichen Umfeld der Kinder und der selbsttätigen Auseinandersetzung mit dem realen Umfeld, verändern und differenzieren sich. Kinder erwerben und erweitern bereits in elementaren Bildungseinrichtungen ihre bildungssprachliche Kompetenz und lernen, diese situationsgerecht anzuwenden. Eine sprachsensible Gestaltung des Unterrichts in allen Fächern ist besonders wichtig, damit die Kinder bestmöglich gefördert werden können. Hier kann auch der Einsatz von psychomotorischen Interventionen hilfreich sein, denn was wäre eine Sprache ohne Motorik? Mit allen Sinnen-- die Wahrnehmung Es gibt Fern- und Nahsinne, mit denen wir verschiedene Reize aufnehmen und verarbeiten können. Der Seh- und der Hörsinn werden als Fernsinne bezeichnet und diese helfen uns, Informationen über eine gewisse räumliche Distanz aufzunehmen. Die anderen Sinne bezeichnet man als Nahsinne. Mit der Sprache hängt der Hörsinn am unmittelbarsten zusammen. Bereits im Mutterleib funktioniert der Hörsinn und mehr als zwei Monate vor der Geburt reagieren Kinder auf akustische Reize mit Bewegung der Augenlider (Wilkening / Krist 1995). Liegt eine Hörstörung vor, wirkt sich dies natürlich negativ auf den Spracherwerb aus. Laut Flehmig (1996) ist das taktile System das Sinnessystem, das wahrscheinlich schon vor dem Ende des zweiten Schwangerschaftsmonats am frühesten in der Lage ist, Reize von außen aufzunehmen. Die vielen, im Mundinnenraum vorhandenen Rezeptoren ermöglichen es, feinste Bewegungen auszuführen, um unterschiedliche Laute zu bilden. Ein Beispiel wäre ein »ssss«-- um das zu bilden, legt sich die Zungenspitze ganz leicht hinter die Schneidezähne. Beim Lernen eines neuen Begriffs muss das taktile System das neue Ding begreifen, daher auch Informationen über die taktile Beschaffenheit sammeln. Das bedeutet also, dass dieses System nicht nur für die Artikulation, sondern auch für die Entwicklung des Wortschatzes essenziell ist. Adjektive zum Beispiel verbinden wir mit einer taktilen Bedeutung: weich- - Fell, Seide; rau-- Schmirgelpapier. Durch die Integration aller Sinne entsteht ein Gesamtbild aller Sinneseindrücke. Sprachentwicklung Kinder erlangen ihr Wissen über den Klang und die Struktur der Sprache. Die Kommunikation ist daher bereits im 1. Lebensjahr sehr wichtig. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Bezugsper- [ 199 ] Kaufmann-Kern • Wissen kompakt: Sprachförderung durch psychomotorische Intervention 4 | 2024 son, da das Kind lernt, mit Lauten Kontakt aufzunehmen. Dadurch können Wünsche und Bedürfnisse erfüllt werden, Gedanken und Gefühle werden ausgedrückt. Dafür benötigt es eine Vielzahl an Wörtern. Die Funktionsfähigkeit der Artikulationsorgane ermöglicht es, dass die Aussprache eines Kindes verständlich ist- - denn das Sprechen selbst ist eine motorische Aktivität. Die Regulation der Atemtätigkeit ist erforderlich, um ganze Sätze zu sprechen, Laute korrekt zu bilden und die Stimme variabel zu gestalten (Hellrung 2019, 68 ff ). Die Schwerpunkte in der psychomotorischen Förderung (Zimmer 2019, 184 ff) ■ Elementare Wahrnehmungserfahrungen-- Basissinne (taktile, kinästhetische, vestibuläre Wahrnehmung) ■ Spiel- und Bewegungssituationen anbieten (Kind bekommt die Chance, Selbstwirksamkeit zu erleben und individuelle Bewältigungsstrategien zu entwickeln) ■ Spielangebote- - soziale Interaktionen der Kinder unterstützen Warum wird eine Sprache gelernt? Eine Sprache wird gelernt, um miteinander in Kommunikation zu treten, sich verständigen zu können, Botschaften zu übermitteln und vieles mehr. Dazu benötigt man ein gemeinsames Kommunikationssystem. Spielhandlungen sind immer auch komplexe Sprachlernsituationen. Es geht dabei nicht primär um die grammatikalische Richtigkeit und die Vielfalt der Wörter, sondern um die Verständigung miteinander. Wenn Kinder gemeinsame Spiele mit anderen planen, sind pragmatische Kompetenzen notwendig-- jene werden jedoch auch in den Spielsituationen selbst geübt. Sehr gut dafür geeignet sind Spiele, die zum Beispiel die Absprache von Regeln oder das Verteilen von Rollen erfordern, wie Lauf- und Fangspiele. Die Sprachlernsituationen kommen zu Stande, weil situative oder auch bewusst inszenierte Bewegungsangebote Anlässe für Kinder zum Sprechen und zum Erweitern und Differenzieren ihres Sprachvermögens sind. Für Bewegungswie auch für Sprachhandlungen liefert eine Spielidee den Anlass. Umgekehrt können Sprachhandlungen zu Bewegungsanlässen werden- - zum Beispiel durch die Beschreibung einer Situation, die durch Gestik begleitet wird. Der Schwerpunkt der Psychomotorik liegt auf der Bewegung- - jedoch wissen wir, dass das Spielen in der Psychomotorik eng mit der Sprachentwicklung der Kinder verbunden ist. Über die Bewegung drückt man Sprache aus, eine Einheit wird gebildet. Allgemeine Prinzipien der Unterrichtsgestaltung im Sinne einer psychomotorischen Förderung (Zimmer 2019, 197) ■ Die Berücksichtigung möglichst vieler Sinne bei der Vermittlung der Lerninhalte ■ Vielfältige, sensorische Erfahrungen in Form von Arbeits- und Spielmaterialien: Buchstaben, die erfasst/ begriffen werden können (z. B. aus Holz oder aus Samt) ■ Mit geschlossenen Augen Zahlen oder Buchstaben ertasten lassen, um auch die modalitätsspezifische Wahrnehmung zu unterstützen. Hier geht es folglich um die Isolation einzelner Sinnesbereiche. ■ Einen Laut hören und den dazugehörigen Buchstaben heraussuchen, von jemandem eine Zahl auf den Rücken geschrieben bekommen und die Zahl laut aussprechen. Hier wird die bewusste Verbindung mehrerer Sinnesorgane angesprochen. Psychomotorik als grundlegendes, fächerübergreifendes Arbeitsprinzip Erfassbar und damit nachvollziehbar als fächerübergreifendes Lernprinzip rückt die körperlichsinnliche Aneignung in den Vordergrund einer handlungsorientierten Unterrichtsmethode (Zimmer 2019, 198 f.). Sprachentwicklung kann über Bewegung gefördert werden. In den Bereichen des Wortschatzes, [ 200 ] 4 | 2024 Auf den Punkt gebracht der Lautbildung, der Prosodie und im kommunikativen Gebrauch ist die Bewegung bzw. die Aktivität ein unterstützendes Medium. Mit nachfolgendem Beispiel wird verdeutlicht, wie psychomotorische Förderung einerseits lustvolles, spannendes Spiel beinhaltet, gleichzeitig aber auch intensive Wahrnehmungsprozesse ermöglicht, die im schulischen Anfangsunterricht das Schreiben- und Lesensowie Rechenlernen unterstützen. Ferngesteuertes Flugzeug (Zimmer 2012, 161) Material: keines Was wird gefördert? Auditive Wahrnehmung, Kinästhetische Wahrnehmung, Körpersprache, Koordination, Prosodie, Wortschatz Die Kinder bewegen sich mit ausgebreiteten Armen durch den Raum und machen Flugzeuggeräusche- - sie spielen daher »Flugzeug«. Die Flugzeuge werden allerdings ferngesteuert. Zunächst durch die Stimme der Spielleitung, die ein langgezogenes »Aaaaaaaa« in verschiedenen Höhen produziert- - das simuliert die Motorengeräusche. Sind die Töne hoch, fliegen die Flugzeuge hoch in der Luft (aufrecht durch den Raum laufen); sind die Stimmgeräusche tief, fliegt das Flugzeug tief (gebückt durch den Raum laufen). Anschließend kann die Rolle der »Fernbedienung« an ein Kind übergeben werden. Didaktischer Kommentar: Zunächst sollte die Spielleitung die Rolle der »Fernsteuerung / Fernbedienung« übernehmen, um den Kindern die Vielfalt der stimmlichen Begleitung zu verdeutlichen. Geübt wird dadurch die Modulationsfähigkeit der Stimme. Sie kann laut oder leise, zart oder kräftig sein, hohe oder tiefe Töne produzieren und hat damit eine jeweils andere Ausdrucksqualität. Die Modulation des stimmlichen Ausdrucks korrespondiert mit dem Bewegungsausdruck. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass Bewegung der Motor des Spracherwerbs ist, die Sprachentwicklung braucht Bewegung. Literatur Flehmig, I. (1996): Normale Sprachentwicklung des Säuglings und ihre Abweichungen. Früherkennung und Frühbehandlung. Thieme, Stuttgart Hellrung, U. (2019): Sprachentwicklung und Sprachförderung in der Kita. Beobachten- - verstehen- - handeln. Herder, Freiburg im Breisgau Wilkening, F., Krist, H. (1995): Entwicklung der Wahrnehmung und Psychomotorik. In: Oerter, R., Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. 3. vollständig überarbeitete Auflage Beltz, Psychologie Verlags Union, Weinheim, 487-508 Zimmer, R. (2019): Handbuch Psychomotorik. 14. Gesamtauflage Herder, Freiburg im Breisgau Zimmer, R. (2012): Handbuch Sprachförderung durch Bewegung. 5. Auflage Herder, Freiburg im Breisgau Kontakt Nina Kaufmann-Kern Psychomotorikerin, Sprachtrainerin für Deutsch, Sonderschulpädagogin, Kinderbetreuerin, Tiergestützte Pädagogik, Dipl. Seniorentrainerin, Universitätslektorin, seit 2021 als Psychomotorikerin-und Vortragende in Österreich tätig und seit 2024 als Sprachtrainerin für D als Fremdsprache tätig. psychomotorik.kern@gmail.com, www.ninakern.at
