eJournals motorik 47/1

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2024.art03d
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2024
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Forum Psychomotorik: Die Kunst der Berührung - ein Plädoyer

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2024
Patrick Collaud
Viele LehrerInnenkollegien, denen in der Schweiz auch die meisten PsychomotoriktherapeutInnen angehören, haben in den letzten Jahren Präventionskurse besucht, mit dem Ziel, das Bewusstsein für sexuellen Missbrauch gegenüber Kindern zu schärfen. Die diesen Schulungen folgenden Diskussionen unter KollegInnen kreisen dann leider oft um die einzige Frage, wie Berührungen im Schulalltag vermieden werden können. In einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der Nähe und Berührung zunehmend problematisiert werden, scheint – in der Verkleidung der Anwaltschaft für eine gute Sache – eine Welt mit immer weniger Berührung am Horizont auf. Der vorliegende Beitrag verteidigt die verbleibenden Möglichkeiten professioneller Berührung im Rahmen der Psychomotoriktherapie. Der existentielle Wert der Berührung für die menschliche Entwicklung und das Wohlbefinden wird hervorgehoben. Was die Prävention betrifft, so sollen Vermeidungsverhalten und rigide Regelwerke in den Hintergrund treten, zugunsten einer Berührungskunst, die im Dienst einer herrschaftsfreien Kommunikation und Beziehungsgestaltung steht.
7_047_2024_1_0004
Zusammenfassung / Abstract Viele LehrerInnenkollegien, denen in der Schweiz auch die meisten PsychomotoriktherapeutInnen angehören, haben in den letzten Jahren Präventionskurse besucht, mit dem Ziel, das Bewusstsein für sexuellen Missbrauch gegenüber Kindern zu schärfen. Die diesen Schulungen folgenden Diskussionen unter KollegInnen kreisen dann leider oft um die einzige Frage, wie Berührungen im Schulalltag vermieden werden können. In einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der Nähe und Berührung zunehmend problematisiert werden, scheint-- in der Verkleidung der Anwaltschaft für eine gute Sache-- eine Welt mit immer weniger Berührung am Horizont auf. Der vorliegende Beitrag verteidigt die verbleibenden Möglichkeiten professioneller Berührung im Rahmen der Psychomotoriktherapie. Der existentielle Wert der Berührung für die menschliche Entwicklung und das Wohlbefinden wird hervorgehoben. Was die Prävention betrifft, so sollen Vermeidungsverhalten und rigide Regelwerke in den Hintergrund treten, zugunsten einer Berührungskunst, die im Dienst einer herrschaftsfreien Kommunikation und Beziehungsgestaltung steht. Schlüsselbegriffe: Nähe, Berührung, Kommunikation, menschliche Entwicklung, Beziehung The art of touch-- a plea Many teacher colleagues, to which most psychomotor therapists in Switzerland belong, have attended prevention courses in recent years with the aim of raising awareness of sexual abuse towards children. Unfortunately, the discussions among colleagues that follow these trainings then often revolve around the single question of how to avoid touching in everyday school life. In a social atmosphere where proximity and touch are increasingly problematised, a world with less and less touch appears on the horizon-- in the guise of advocacy for a good cause. This article defends the remaining possibilities of professional touch in the context of psychomotor therapy. The existential value of touch for human development and well-being is emphasised. As far as prevention is concerned, avoidance behaviour and rigid sets of rules should take a back seat in favour of an art of touch that is in the service of communication and relationship building free of domination. Keywords: closeness, touch, communication, human development, relationship [ 12 ] 1 | 2024 motorik, 47. Jg., 12-16, DOI 10.2378 / mot2024.art03d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Die Kunst der Berührung-- ein Plädoyer Patrick Collaud Am Anfang steht das Wort Einige Nachforschungen zur Etymologie des Wortes »Berührung« in verschiedenen Sprachen sind lohnenswert, denn sie offenbaren die Bedeutungsvielfalt des Gegenstandes: In der deutschen Sprache steht »rühren« am Ursprung des heutigen Wortes Berührung. Rühren, eine flüssige Masse kreisend bewegen und deren Bestandteile vermischen oder vermengen, bis eine neue Substanz entsteht. Das Bild zweier Bestandteile klingt auch im jiddischen farbindn (= berühren) an. »Sich rühren«, heißt auch einfach »sich bewegen«, das Bewegungsmoment ist darin zentral. Auch im schweizerdeutschen Wort »alänge« ist dies so. Darin wird das In-Die- Länge-Gehen, das Ausstrecken zur Voraussetzung eines Kontakts. Man bleibt nicht bei sich, sondern geht aus sich selbst oder über sich selbst hinaus, um zu berühren. Es klingt darüber hinaus eine emotionale Seite an, man ist «berührt» von einer Sache, innerlich bewegt, aufgewühlt. Dann gibt es zuletzt auch »seine Ursache haben« oder »seinen Ursprung haben«. »Dies rührt daher« bedeutet: Es hat seine Ursache darin, weil es dadurch bewegt worden ist, der Anfangsmoment ist ein Bewegungsmoment. In den anderen mir bekannten Sprachen hat das Wort »berühren« einen lateinischen Ursprung: toccare. Onomatopoetisch (dem Bedeutungsklang folgend): Anklopfen. Wichtig scheint mir, dass auch hier aus Berührung Bewegung wird. Berühren ist auch anfragen oder eben-- toc toc toc-- anklopfen. Hier wird die dialogische Substanz der Berührung im Wort toucher / touch / toccare offensichtlich. Sogar wenn ich mich selbst berühre, bin ich gleichzeitig [ 13 ] Collaud • Die Kunst der Berührung-- ein Plädoyer 1 | 2024 EmpfindendeR und Empfundenes, Subjekt und Objekt. Es braucht für die Berührung diese Dualität. Die Berührungsmomente und die daraus entstehenden Bewegungsimpulse, dieses Hin und Her, aus all dem wird permanent ein Dialoggewebe gewoben, das uns trägt, uns Halt und Selbstvergewisserung gibt. Von der Psychoanalyse zur Contactimprovisation-- und zurück Der vom spanischen Psychiater Julian de Ajuriaguerra (1911-1993), der für die Entstehung der Psychomotorik in der Schweiz wesentliche Impulse gab, so genannte tonische Dialog, bezieht sich auf ebendiese kommunikationstheoretischen Phänomene. Auch Haut, Muskeln und Organe können kommunizieren, jenseits des kognitiven Austauschs und der Vermittlung von Denkinhalten. In der Contactimprovisation bekommt der schillernde Begriff des tonischen Dialogs eine konkrete Gestalt: Bei dieser zeitgenössischen Tanzform entsteht aus Momenten der Berührung und den daraus sich ergebenden ständigen Gewichtsverlagerungen sowie der Improvisationslust der beteiligten TänzerInnen ein fließender Körperdialog. Die Contactimprovisation ist im Wesentlichen ein Berührungstanz, der ohne die im Paartanz sonst üblichen Rollenmuster »Führen« und »Folgen« auskommt. Die Tanzenden lehnen sich gegenseitig an, sie tragen sich, rollen zusammen über den Boden, springen einander an oder verweilen in Stille. Es ist eine der Hauptleistungen der Contactimprovisation, dass sie die ursprüngliche, nonverbale Berührungs-Kommunikation aus der Lebensphase der frühen Kindheit in eine künstlerische Sprache übersetzt hat. In der Folge davon haben sich viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Sparten, dem künstlerischen Tanz, der bildenden Kunst, der Gesellschaftstheorie sowie den somatischen Praktiken und der Pädagogik, von ihr inspirieren lassen. Sie macht offenbar, dass Berührung ein Mittel des kommunikativen Einvernehmens jenseits des bloßen Informationsaustausches ist, sie dient dem Aufbau eines gemeinsamen Raumes, in dem erst Beziehung stattfinden kann. Der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott (1896-1973), der diese Begebenheiten unter dem Begriff des potenziellen Raums und der Übergangsphänomene subsummiert hat, fragt: »Es gibt also zwei Orte, den Ort innerhalb und den Ort ausserhalb des Menschen. Aber ist das alles? […] Ich halte es für sinnvoll, im menschlichen Leben einen dritten Bereich anzunehmen. […] Dieser dritte Lebensbereich ist nach meiner Auffassung durch ein schöpferisches Spannungsfeld gegeben« (Winnicott 1997, 121 ff ). Berührung als Kommunikation Doch was ist die Kunst der Berührung? Was kann sie und wo sind ihre Grenzen? Wann und warum wird sie aus dem Trivialen herausgehoben? Das ist meines Erachtens immer dort der Fall, wo es gelingt, sie für die Kommunikation einzusetzen. Dieses Gespräch ist- - anders als nun das deutsche Wort berühren (vermengen, verbinden) vermuten ließe-- auf ein »Dazwischen« als Medium der Kommunikation angewiesen. Die Kunst der Berührung liegt demnach darin, zu berühren, ohne diesen Zwischenraum- - den Winnicottschen potenziellen Raum-- zu zerstören. Winnicott (1997) selbst spricht oft davon, dass dieser Raum nicht in einer für die kindliche Entwicklung angemessenen Weise genutzt wird. Vielmehr ist es das Merkmal einer gelingenden Kommunikation, jenes Dazwischen primär zu etablieren. Die beiden Pole, welche das Dazwischen bilden, bleiben erhalten und gehen nicht darin auf, sie sind- - dialektisch ausgedrückt- - darin aufgehoben (im Sinne von aufbewahrt), gleichzeitig Abb. 1: Contactimprovisation: Verena Egger und der Autor während einer Studioaufführung im April 2022 (Foto: Michel Casanovas) [ 14 ] 1 | 2024 Forum Psychomotorik werden sie nicht aufgehoben (im Sinne von verschwinden). Es versteht sich von selbst, dass dies keine einfache Angelegenheit ist, dass dieses Dazwischen ein sensibles Gebilde ist, das leicht gestört werden kann. Es braucht dazu in erster Linie eine Art von Berührung, die machtfrei ist, die keine »Ausübung« von irgendwas bedeutet, ganz besonders nicht von Dominanz und nicht durch Machtwissen motiviert ist. Ein Dialog kann keine »Maßnahme« sein, sondern muss auf Wechselseitigkeit beruhen und von Anfang an so gemeint sein, denn man kann nicht in dessen Verlauf zur herrschaftsfreien Kommunikation wechseln. Dieses Dazwischen kann zerstört werden durch vermeintliches Besser-Wissen, so dass viel eher das Nicht-Wissen zum Garanten einer gelingenden Kommunikation wird als eine bestimmte ausgefeilte Technik. Das gemeinsame Warten-Können auf das neu Entstehende, das Spontane und Unerwartete willkommen zu heißen, wäre angemessen. Eine Haltung, die den Umstand der gegenseitigen Beeinflussung immer mitdenkt, miteinbezieht. Diese Beeinflussung geschieht über einen Raum dazwischen, der zwischen den beiden Berührungspolen liegt, also etwas Drittes, das weder ganz mir noch dem anderen Menschen gehört. In diesem Raum geht es um Begegnung und nicht um Vermischung und Eins-Sein. Dies grenzt die professionelle Berührung, wie ich sie verstehe, sowohl vom symbiotischen als auch vom mystischen Erleben ab. Ein Raum des Respekts und des Vertrauens In meinem therapeutischen Alltag finden Berührungsmomente sowohl im spontanen Austausch als auch in von mir vorgegebenen Strukturen statt. Ich beschreibe hier kurz ein Setting, das dem Kind die Möglichkeit gibt, gegen mich zu kämpfen: Auf einer ca. 4m² großen Schaumstoffmatte wählen die Kämpfenden ein Tier aus und es beginnt ein eigentlicher Verdrängungskampf: wer zuerst von der Matte verdrängt wird, hat verloren und eine neue Runde beginnt. In diesem strukturierten Setting können die Kinder gegen mich oder auch untereinander ihre Kräfte messen. Drei Punkte möchte ich herausstreichen, weil hier verschiedene Aspekte, die mir wichtig sind, sichtbar werden: 1. In diesen Kämpfen setze ich bewusst den ganzen Körper ein. Zwar kann Berührung immer noch über die Hände geschehen, aber es ist nicht zwingend, zumal die Hände meist zum Abstützen auf der Matte gebraucht werden (wir sind ja Tiere). Dies kann ein Gewinn sein im Sinne einer Vervielfältigung der Berührungs- und Wahrnehmungsqualitäten. Das Kind kann dadurch starke propriozeptive Impulse erhalten, aber nicht nur, denn es ergibt sich auf diese Weise eine größere Spannweite verschiedener Berührungsqualitäten: sanft, ruhig, langsam, schnell, wild, stark, abrupt, fließend, rund, eckig, oberflächlich, tief. 2. Die Aufhebung von aktiv und passiv: Die KampfpartnerInnen wechseln oft fließend zwischen aktiv (agierend, angriffig) und passiv (reagierend, verteidigend). Immer wieder gibt es Momente, in denen sich die beiden Qualitäten die Waage halten und sich gewissermaßen auflösen. Ähnlich wie in einem Tanz gibt es geheimnisvolle Momente, bei denen Wahrnehmung und Handlung, Tun und Nichts-Tun verschmelzen. 3. Ein besonderes Augenmerk muss selbstverständlich auf den wichtigen Themenkomplex der Intimität gerichtet werden. Nötigenfalls müssen wir Distanzierungen schaffen, Ausgänge oder Umwege finden. Dabei kann die Vorstellung helfen, dass Berührung nie nur eine Hin-Bewegung ist, sie kann genauso gut auch eine Bewegung »weg von« sein, ein Widerstand, ein Abstoßen, ein Fortkommen. Die erwachsene Person muss besorgt sein, einen Raum des Respekts und des Vertrauens zu schaffen, in dem beiden InteraktionspartnerInnen wohl ist. Es ist manchmal auch notwendig diesen Raum gegen Regelverletzungen des Kindes zu schützen, niemand soll sich weh tun, auch ich selbst möchte mich bei dem Spiel nicht verletzen. Indem ich Sorge um mich selbst trage, kann ich dem Kind auch ein Vorbild sein. Ein Dialog kann keine »Maßnahme« sein, sondern muss auf Wechselseitigkeit beruhen. [ 15 ] Collaud • Die Kunst der Berührung-- ein Plädoyer 1 | 2024 [ 15 ] Collaud • Die Kunst der Berührung-- ein Plädoyer 1 | 2024 TherapeutInnen sind gefordert War das beschriebene Setting- - so oder ähnlich- - noch Teil meiner praktischen Ausbildung Ende der 1990er Jahre, so kann es heute ein deutliches Stirnrunzeln verursachen, wenn ich bisweilen BerufskollegInnen davon erzähle. Und dies rechne ich nicht einmal dem Umstand zu, dass ich ein Mann bin. Eine langandauernde gesellschaftliche Tendenz- - bestärkt durch die Corona-Pandemie, nicht allein durch sie verursacht-- besteht darin, dass Nähe und Berührungen weniger toleriert werden. Berührungen gehören demnach in den privaten Raum und haben in professionellen Beziehungen nichts zu suchen. So jedenfalls der mehr oder minder offizielle Tenor an den Schweizer Schulen. Diese nach meinem Dafürhalten fatale Tendenz verkennt, dass wir seit jeher auch Fremde berühren, beim Handschlag zum Beispiel, bei öffentlichen Tanzanlässen oder im Sport, bei dem bisweilen gar ein ekstatisches Ausmaß erreicht wird. Verbundenheit, Freundschaftlichkeit und Ausgelassenheit sollen meines Erachtens nicht allein auf das Private verwiesen werden. Die Psychomotorik ist herausgefordert, den Vermeidungs-Strömungen eine differenzierte Sicht entgegenzusetzen, denn die aktuelle Stoßrichtung erscheint mehr und mehr in eine einsame, verarmte, keimfreie Welt zu zeigen, in der psychische Krankheiten immer zahlreicher, immer virulenter werden. PsychomotoriktherapeutInnen scheinen dazu prädestiniert, diesen schleichenden, nichtsdestotrotz dramatischen Wandel zu erahnen, rührt dieser doch an ihrem beruflichen Selbstverständnis. Aufgrund der entwicklungspsychologischen Evidenzen wird mit Recht darauf hingewiesen, dass Berührung keine vernachlässigbare Lappalie ist, sondern eine biologische und psychische Bedeutung besitzt, welche sie zu einer existentiellen Größe macht, die im Rahmen einer entwicklungsbegleitenden Therapie ihren Platz haben muss. Die in diesem verunsichernden Umfeld auftretenden unguten Gefühle, wo sich nicht wenige gestandene TherapeutInnen mit ihrer Arbeit in einen moralischen und juristischen Graubereich versetzt sehen, haben das Zeug dazu, unseren Berufsalltag regelrecht zu vergiften. Es scheint mir deshalb Zeit, Gegensteuer zu geben und einen der komplexen Thematik angemessenen Diskurs zu führen. Mittlerweile belegen zahlreiche Studien die segenbringende Wirkung von Berührung, sie messen den Entspannungsgrad der Muskeln via Serotonin-Ausschüttung, sie heben die stabilisierende Wirkung auf unser Immunsystem hervor, die Senkung des Blutdrucks, die Verringerung der Cortisolkonzentration etc. (Grunwald 2017). Wie immer fragwürdig dieses ständige Messen mir manchmal erscheint, sind solche Fakten doch eindrücklich. Aber was ich vielmehr noch sagen will: Berührung darf nicht tabuisiert werden, sondern muss ein unserem Erkenntnissinteresse und unserem Handeln zugänglicher Gegenstand bleiben. Kräfte der Kinder stärken Allerdings sollte ich auch erwähnen, dass um das Thema Berührung seit jeher viel Aufhebens gemacht wurde. Es gab und gibt die traditionellen Berührungsverbote, die sich oft auf die untersten gesellschaftlichen Schichten (die Dalits, die Unberührbaren in Indien) einerseits, sowie auf die Heiligen (noli me tangere, spricht Jesus zu Maria Magdalena) andererseits, erstrecken. Werden wir also dereinst alle zu Unberührbaren? Oder zu Heiligen? Es steht ein unrealistisches Menschenbild am Ursprung dieser Neigungen. Eines, das den Menschen überhöht oder eines, das ihn erniedrigt, für schmutzig erklärt und als Subjekt negiert. Ein Miteinandersprechen, ein Miteinanderberühren ist dann nicht mehr möglich, denn weder dem Heiligen noch dem Niedrigsten wird Veränderbarkeit zugesprochen. Es gehört zum Wesen des Gesprächs, dass wir auf jemanden einwirken und-- idealtypisch-- in demselben Maß auf uns zurückgewirkt wird. Der Gedanke der Reziprozität führt zur Einsicht, dass das Grundrezept gegen Übergriffe genau darin bestünde, die Kinder zu stärken und ihre abgrenzenden, abwehrenden und selbständigen Kräfte gegenüber Willkür zu fördern. Unsere Beziehungen erhalten etwas Oberflächliches, Formelles, wenn wir einfach das Vermeidungsverhalten ad absurdum zu führen, an dessen Ende oft Ekel [ 16 ] 1 | 2024 Forum Psychomotorik und ein Widerwille gegenüber der Berührung, gegen Nähe, gegen Beziehungen sogar stehen. Das Verdienst der Me-too- Diskussionen Einen erheblichen Fortschritt sehe ich in diesem Zusammenhang in der von der Me-too-Bewegung vorgegebenen Stoßrichtung, weil sie tabuisierte Machtkonstellationen in den Vordergrund stellt. Berührung ist nicht von vornherein etwas Gutes, sie muss den Aspekt der Wechselseitigkeit von Beginn weg in sich tragen, gerade auch dort, wo ein Machtgefälle initial gegeben ist. Ansonsten wird die Kommunikation zur reinen Ausübung, zur pädagogischen Anweisung, zum Befehl oder zur Strafe sogar. Oft ist ein Machtgefälle auch in einem therapeutischen Setting gegeben, in der Kindertherapie ist dies besonders der Fall. Berührungen erhalten dadurch eine besondere Brisanz. Der Therapeut bzw. die Therapeutin kann einzig dank einer der Kommunikation und einer der gegenseitigen Verantwortung verpflichteten Haltung diese Spannung im Dialog mit den KlientInnen ins Produktive wenden. Berührung soll auf keinen Fall aufgezwungen werden, auch wenn sie als therapeutisch sinnvoll erachtet werden sollte. Die Stärkung der KlientInnen besteht unter anderem darin, dass sie zur Berührung nein sagen können. Dieses Nein kann auch ein nonverbales sein. Dieses zu erkennen und zu respektieren ist eine absolute berufsethische Pflicht. Intuition und Spontanität Eine Ethik der Berührung berücksichtigt jedoch genauso ihren spontanen Charakter. Sie kann und soll nicht einen ausschließlichen Vertragscharakter erhalten. Der Mutter-Kind Dialog ist auf eine gehörige Portion Intuition und auf angeborenes Wissen angewiesen. Die Spontanität schließt Fehler und Inkongruenzen mit ein, diese sind ein fundamentales Merkmal der Kommunikation und idealerweise werden sie zu ihrem Motor. Es gilt das Winnicottsche »good enough« (die genügend gute Umwelt), welches ein Abschied von der Perfektion bedeutet. Unsere kommunikativen Beiträge müssen irgendwo andocken können, so gesehen brauchen sie das Raue eher als das Glatte. Der Berührungsdialog entwickelt sich auf unebenem Gelände. Kohärenz sollte sein Maßstab sein, nicht Vollkommenheit. Auch der therapeutische Alltag birgt Risiken von Fehleinschätzungen. Immer ist jedoch die dahinter liegende Haltung maßgebend: Sie entscheidet darüber, ob eine Berührung angenehm empfunden wird. Unangebrachte Haltungen können sein: 1. unbewusste Aggression, 2. die eigene Bedürftigkeit steht im Vordergrund, 3. zurechtweisende, befehlende Haltung und verwandt damit 4. die pädagogisch-therapeutische »wertvolle« Intervention. Die Berührung verliert ihren ausschließlichen Interventions-Charakter, wenn wir sie entmystifizieren und auch alltägliche, profane, spontane, kurze, unbedeutende und nicht-gelungene Berührungen mitdenken. Literatur Winnicott, D. (1997): Vom Spiel zur Kreativität. Klett- Cotta, Stuttgart Grunwald, M. (2017): Homo Hapticus-- Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. Droemer, München Der Autor Patrick Collaud Psychomotoriktherapeut (EDK) in CH, Urtenen-Schönbühl. Zudem Tätigkeit als Tanzpädagoge für Contactimprovisation und Begründer einer auf der Contactimprovisation aufbauenden dialogischen Körperarbeit. Anschrift Patrick Collaud Lorrainestrasse 59 CH-3014 Bern p.collaud@bluewin.ch http: / / www.patrickcollaud.ch/