motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2024.art04d
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2024
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Fachbeitrag: Auf der Suche nach Evidenz in der psychomotorischen Praxis - quantitative Beobachtungsstrategien von Entspannungsverfahren
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2024
Ulf Henrik Göhle
Jan C. Schuller
Auf dem Hintergrund der Diskussion um evidenzbasierte Praxis wird am Beispiel von Beobachtungen von Entspannungsverfahren aufgezeigt, wie erst re-kontextualisierte Daten Interpretationen erlauben, welche Bedeutung die Veränderung eines physiologischen Parameters für das Individuum hat. Dazu zeigen Messungen der Herzfrequenzvariabilität (HRV) vor und nach Gruppenstunden mit Schlaffhorst-Andersen Atemübungen, dem Ideokinese-Verfahren erlebter Anatomie sowie Verlaufsmessungen von Einzelstunden in Feldenkrais/Rolfing exemplarisch auf, wie das Zusammenspiel aus subjektiven Beobachtungen von TherapeutInnen und routinemäßig erhobenen quantitativen Parametern praxisrelevante Evidenz generieren kann.
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Zusammenfassung Auf dem Hintergrund der Diskussion um evidenzbasierte Praxis wird am Beispiel von Beobachtungen von Entspannungsverfahren aufgezeigt, wie erst re-kontextualisierte Daten Interpretationen erlauben, welche Bedeutung die Veränderung eines physiologischen Parameters für das Individuum hat. Dazu zeigen Messungen der Herzfrequenzvariabilität (HRV) vor und nach Gruppenstunden mit Schlaffhorst-Andersen Atemübungen, dem Ideokinese-Verfahren erlebter Anatomie sowie Verlaufsmessungen von Einzelstunden in Feldenkrais / Rolfing exemplarisch auf, wie das Zusammenspiel aus subjektiven Beobachtungen von TherapeutInnen und routinemäßig erhobenen quantitativen Parametern praxisrelevante Evidenz generieren kann. Schlüsselbegriffe: Entspannungsverfahren, Herzfrequenzvariabilität, Schlaffhorst-Andersen, Ideokinese, Feldenkrais, Rolfing, quantitative Gesundheitsparameter In quest of evidence in psychomotor practice-- strategies of quantitative observation in relaxation procedures Against the background of the discussion on evidence-based practice, it is demonstrated using the example of observations of relaxation methods how only re-contextualized data allows for interpretations of what the change in a physiological parameter means for the individual. For this purpose, measurements of heart rate variability (HRV) before and after group sessions with Schlaffhorst-Andersen breathing exercises, the ideokinesis method of experienced anatomy, as well as continuous measurements from individual sessions in Feldenkrais / Rolfing exemplify how the interplay between subjective observations by therapists and routinely collected quantitative parameters can generate practice-relevant evidence. Keywords: relaxation methods, heart rate variability, Schlaffhorst- Andersen, Ideokinesis, Feldenkrais, Rolfing, quantitative health parameters [ 17 ] motorik, 47. Jg., 17-25, DOI 10.2378 / mot2024.art04d © Ernst Reinhardt Verlag 1 | 2024 [ FACHBEITRAG ] Auf der Suche nach Evidenz in der psychomotorischen Praxis-- quantitative Beobachtungsstrategien von Entspannungsverfahren Ulf Henrik Göhle, Jan C. Schuller Hinführung: Diskussion um evidenzbasierte Praxis Verfahren, die auf den theoretischen Hintergrund der Psychomotorik bzw. Motologie rekurrieren, sprich bei denen das Zusammenspiel aus Psyche, Bewegung und sozialem Kontext in hoch komplexe therapeutische Praxissituationen mündet, werden womöglich durch Methoden der Kontrolle und Standardisierung genau der Authentizität und dem performativen Momentum beraubt, auf deren emergentes Zusammenspiel vermutlich Wirkfaktoren überhaupt erst entstehen. Hierfür besprechen wir weiter unten theoretische Hintergründe. Die auf dem Weltkongress für Psychomotorik in Verona (2023) von Vortragenden wiederholte Forderung, Standards der medizinischen oder pharmakologischen Forschung, bzw. deren »gold-Standard« der »Randomized Controlled Trials« (RCT) auf die Psychomotorik- und Motologie-basierten Verfahren anzuwenden, erscheint gleich aus zweierlei Hinsicht fragwürdig. Dieses, u. a. für die Wirksamkeit von Medikamenten unbestritten wichtige Forschungsdesign lässt sich wohl kaum in der Lebenswelt der psychomotorischen Praxis für diese selbst folgenlos anwenden, es würde sehr wahrscheinlich psychomotorische Verfahren bis zur Unkennt- [ 18 ] 1 | 2024 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis lichkeit verändern; sprich, es werden dann artifizielle Situationen untersucht und nicht eine authentische psychomotorische Praxis. Ferner wird die Hinwendung zur Einzigartigkeit des Menschen durch das RCT-Design annulliert. Selbstverständlich lassen sich Interventionsstudien vorstellen, die behutsam die Authentizität der Praktizierenden berücksichtigen, jedoch erscheint damit der zweite Schritt vor dem ersten getan. Für die Motologie und Psychomotorik erscheint es aus unserer Sicht lohnend, zunächst methodisch anhand von Beobachtungsstudien in ihrer etablierten Praxis nach Mustern zu suchen und erst dann daraus prüfbare Hypothesen abzuleiten. Dieser Ansatz, die bestehende Praxis wissenschaftlich genauer zu beobachten, würde in eine zunehmend breitere Induktionsbasis münden, die dann der Entwicklung von Wirkmodellen dienen kann. Welche wiederum in behutsamen Designs untersucht werden könnten, wie das in ressourcenstarken Fächern wie der Psychologie bereits erfolgreich praktiziert wurde. Diese Position wird im Folgenden zunächst theoretisch untermauert und dann anhand erster empirischer Machbarkeitsstudien veranschaulicht, wie quantitative Messungen der Herzfrequenzvariabilität als Teil von Beobachtungsstrategien von verschiedenen Entspannungsverfahren eingesetzt werden können. Die Messung der Herzfrequenzvariabilität erscheint als geeignete Methode, um physiologische Reaktionen auf Übungssequenzen verschiedener Verfahren zu vergleichen (u. a. Malik 1996), zumal die Verfügbarkeit, einfache Umsetzung und Validität der Messinstrumente bereits gut untersucht ist (u. a. Umair et al. 2021). Es geht hier um eine konzeptionelle Position, die einen Schritt auf dem Weg zu einer Evidenz in der Praxis beschreitet. Dabei konzentrieren wir uns hier auf den quantitativen Aspekt der Beobachtungen, dessen Möglichkeiten und Limitationen. Theoretisches Grundproblem: Supervenienz Wie bereits erwähnt, erscheint eine psychomotorische Praxis von enormer Vielfalt und Komplexität. Daher der von uns bewusst gewählte Fokus auf Entspannungsverfahren bzw. -situationen, da hier ein klar gesetztes Ziel vorliegt und Abläufe wiederholbar bzw. teil-standardisierbar sind. Trotzdem bleibt ein Grundproblem, das wir uns vor Augen führen müssen: Supervenienz, sprich den Umstand, dass höhere Zustände (Bewusstsein, aber wohl auch Bewusstseinszustände wie eben Entspannung) mehrfach realisierbar sind. Der hier verwendete Supervenienz-Begriff soll im folgenden Zitat verdeutlicht werden: »Der Begriff der Supervenienz enthält […] zwei begrifflich heterogene Elemente: einmal den Begriff der Kovariation, dass also eine Änderung in B immer von Änderungen in A begleitet ist (aber nicht notwendigerweise umgekehrt), und zum anderen den der Determination, dass nämlich die B-Phänomene von A-Phänomenen fixiert werden« (Hoyningen-Huene 2009, 180). Für unser Anliegen folgt daraus: das Erreichen von Entspannung (»B«, als höherer Zustand) muss eine Änderung in der Physiologie bewirken (»A«, bei unseren Beobachtungen die Herzratenvariabilität), aber: eine Änderung der Herzratenvariabilität (»A«) muss nicht notwendig mit Entspannung (»B«) einhergehen, es muss aber eine Reihe von typischen »A«-Phänomenen existieren (z. B. niedriger Puls), die Entspannung fixieren. Der Unterschied zwischen »notwendigen« und »hinreichenden« Bedingungen ist hier in diesem Zusammenhang auch wichtig: Es ist notwendig, einen im Vergleich zu normalen Aktivitäten ruhigeren Puls (respektive hohe Herzratenvariabilität) zu bekommen, um sich zu entspannen, aber nicht hinreichend, es könnte auch ein Anzeichen von Essstörungen wie Bulimia Nervosa sein (u. a. Heiss et al. 2021). Mit diesen kurzen Ausführungen ist bereits das erkenntnistheoretische Grundproblem skizziert, wenn es darum geht, quantitative Korrelate von Leiblichkeit zu untersuchen. Zuerst sollte die Suche nach quantitativen Mustern in etablierter Praxis erfolgen, bevor Hypothesen abgeleitet werden. [ 19 ] Göhle • Auf der Suche nach Evidenz in der psychomotorischen Praxis 1 | 2024 [ 19 ] Göhle, Schuller • Auf der Suche nach Evidenz in der psychomotorischen Praxis 1 | 2024 Drei Beobachtungsstrategien: Entspannungsverfahren unter verschiedenen quantitativen Lupen Entspannungsverfahren stellen einen wichtigen Bestandteil des Standardrepertoires in der Psychomotorik-Praxis dar (u. a. Fischer 2019, 33). Sie sind insbesondere deshalb von Bedeutung, weil sie im klinischen Alltag benötigt werden, um Menschen in »hyper-arousal«-Zuständen, also in Alarmzuständen, zu beruhigen. Auf diese Weise können diese Personen anschließend Zustände erreichen, in denen sie Mentalisierungen erfolgreich durchführen können (Eyni 2020). Jedoch sind auch diese Verfahren nicht ohne Risiken, da »hypo-arousal«-Zustände Mentalisierungsprozesse ebenfalls behindern können. Aus diesen Gründen erscheint es sinnvoll, verschiedene Entspannungsverfahren genauer in ihrer physiologischen Wirkung zu beobachten. Die erste Strategie sind klassische Prä-Post- Messungen von Unterrichtstunden zweier Entspannungsverfahren. Hierbei werden jeweils dreiminütige Kurzzeit HRV-Messungen vor und nach den Übungen unternommen und verglichen. Die zweite Beobachtungsstrategie sind zeitlich ausgedehntere HRV-Verlaufsmessungen von Einzelstunden, in der Regel von ca. 30 Minuten Länge, in denen eine standardisierte Abfolge von Mobilisation angelehnt an die Feldenkrais-Methode, sowie an der Rolfing-Methode orientierte Faszien-Dehnungen vorgenommen wurden. Die letzte und dritte Beobachtungsstrategie entsteht durch 24-Stunden-Messungen, in denen die Versuchspersonen Protokolle über ihre Aktivitäten führen, mit dem Ziel, Entspannungssituationen des Alltags mit den angeleiteten Übungssituationen zu vergleichen. Das Ziel dieser drei verschiedenen Messungssituationen ist die oben erwähnte Schaffung einer Induktionsbasis für die weitere Forschung. Bewegungsunterricht an einer Kunsthochschule Für unsere Machbarkeits-Studie zu Beobachtungsstrategien wurden Stunden aus dem regulären Unterrichtsgeschehen im Fach »Bewegung« im Bachelor- und Masterstudiengang Gesang an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main (HfMDK) beobachtet. Studierende des Bachelor- und Masterstudiengangs Gesang an der HfMDK lernen laut Studienprüfungsordnung verschiedene Atem- und Bewegungstechniken praktisch kennen. Ziel ist es, dass Studierende eigene, für sie besonders wirksame Übungsroutinen entwickeln, welche sie in ihrer künstlerischen Praxis und Persönlichkeitsentwicklung unterstützen. Die Messungen fanden somit im Rahmen des normalen Unterrichts unter Zuhilfenahme von Sensoren des Messystems von Firstbeat (Pulsgurte und Bodyguard-2-Sensoren) statt. Es gab drei verschiedene Erhebungsarten: Prä-Post- Messung (2x3 Minuten), Verlaufsmessung (30 Min.-1 Stunde) und 24h-Messung (24 Stunden). Für die hier vorgestellten Prae-Post-Messungen wurden 24 dreiminütige Messungen an drei ProbandInnen durchgeführt (Tab. 1). Die Daten wurden von Firstbeat im.xls-Format exportiert und mit R (RStudio Version 1.4.1103) weiterverarbeitet. Für jede Messung wurden Root Mean Square of Successive Differences (RMSSD), Standard Deviation of the Normal to Normal Intervall (SDNN), sowie Mittelwert und Spannbreite der Interbeat Intervalls (IBIs) ermittelt. Die Prä- und Post-Messungen jeder Übung wurden als überlappende Histogramme visualisiert (Abb. 1 und 2). Die Verlaufsmessungen erfolgten während der Einzelstunden und dauerten jeweils bis zu maximal einer Stunde. Die 24h-Messung wurde durch einen Plot der Länge aufeinanderfolgender IBIs gegen die Uhrzeit visualisiert. Dies ermöglichte den Abgleich mit den notierten Tagesaktivitäten (Abb. 4). Sämtliche Auswertungen sind deskriptiv. Im Folgenden werden die drei Unterrichtssituationen, in denen Entspannungsverfahren vermittelt wurden, kurz skizziert. Dabei handelt es sich bei den ersten beiden Situationen um den Vergleich von Übungen der Schlaffhorst-Andersen Methode und der Ideokinese-Methode mit denselben Versuchspersonen. Es war zu erwarten, dass die erste Methode einen starken Einfluss auf die HRV hat, da es sich um eine Atemschule handelt (Gädeke 2015) und somit die respiratorische Sinusarrhythmie der Herzrate [ 20 ] 1 | 2024 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis (d. h. eine Beschleunigung des Pulses beim Einatmen und Verlangsamung beim Ausatmen) bewusst provoziert. Hingegen schreibt das in der Psychomotorik weniger bekannte Verfahren der Ideokinese (Göhle 2010) keinerlei Atmen-Muster vor oder arbeitet mit Körperbewegungen, sondern nur mit Vorstellungsbildern, die sich auf unsere reellen Körperstrukturen beziehen. Bei beiden Verfahren wurde eine Prae-Post-Messung vorgenommen. Übungen der Schlaffhorst-Andersen Methode Das Verfahren der Schlaffhorst-Andersen Methode ist in der Stimmtherapie sowie in der Gesangspädagogik weit verbreitet. Die Methode arbeitet mit einem dreiteiligen Atem-Muster: 1. einatmen, 2. direkt ausatmen und dann 3. Atempause. Dieser Atem-Rhythmus wird unter anderem mit verschiedene Körperbewegungen synchronisiert. Die Übungen aus der beobachteten Unterrichtstunde waren der »Frosch« und der »Storch«. Beim »Frosch« liegen die Versuchspersonen auf dem Rücken und ziehen abwechselnd ein Bein mit dem Einatmen an und strecken es mit dem Ausatmen langsam wieder aus. Bei der Atempause liegen sie regungslos lang auf dem Boden. Die zweite Übung war der »Storch«. Hierbei stehen die TeilnehmerInnen und heben beim Einatmen ein Bein an und lassen es sogleich mit dem Ausatmen sinken. Wichtig bei beiden Übungen ist, dass keine Pause oder Halten der Atmung zwischen Ein- und Ausatmung und somit auch zwischen dem Anheben bzw. Anziehen des einen Beins geschieht. Nach dem Ausatmen muss in der Atempause auf den »natürlichen« Impuls bzw. Reiz zum erneuten Einatmen gewartet werden. Die Histogramme (Abb. 1) zeigen die Veränderung der Streuungswerte der Interbeat- Intervalle (IBIs) vor und nach den Übungen. Es war zu erwarten, dass die beobachtete Atemschule der Schlaffhorst-Andersen Methode zu solchen Ergebnissen führt, da allein kontrollierter Atem bereits einen starken Einfluss auf die Herzratenvariabilität hat. So wurde die mit modernen Methoden auffällige respiratorische Sinusarrhythmie bereits im 18. Jahrhundert beschrieben (Hales 1733). Übungen der Ideokinese-Methode Hingegen arbeitet die Ideokinese-Methode ohne jedwede Vorgabe des Atmens. Bei dieser wenig verbreiteten Imaginations-Methode werden zunächst knöcherne Körperstrukturen anhand eines Skelett-Modells erläutert. Danach werden Vorstellungsbilder entworfen, die genau Abb 1: Histogramme der IBIs von VP3 (links) und VP5 (rechts) vom 16. Februar 2022, jeweils vor (gelb) und nach (blau) den Übungen der Schlaffhorst-Andersen Methode. Die senkrechten gestrichelten Linien zeigen den jeweiligen Mittelwert der IBIs. Bilder kommen neu [ 21 ] Göhle • Auf der Suche nach Evidenz in der psychomotorischen Praxis 1 | 2024 [ 21 ] Göhle, Schuller • Auf der Suche nach Evidenz in der psychomotorischen Praxis 1 | 2024 diese Körperstrukturen mit einer Vorstellung einer Bewegung entlang dieser Strukturen verbinden, wie z. B. einer Flüssigkeit, die an der Wirbelsäule entlangläuft oder das Weichwerden von Knochen. In den verschiedenen Unterrichtsstunden widmeten sich die Versuchspersonen jeweils der knöchernen Struktur der Wirbelsäule (WB), des Trochanter Major (TM) und des Schlüsselbeins (SB). Die dreiminütige HRV-Messung wurde vor den Erklärungen und Vorstellungsübungen im Liegen durchgeführt. Nach der Vorstellungseinheit wurde die Messung im Liegen wiederholt. Die zwei aufgeführten Fallbeispiele der gleichen Versuchspersonen (Abb. 2) wie bei der Schlaffhorst-Andersen Methode weisen erneut die charakteristische Verschiebung der Herzratenvariabilität auf. Fast schon wie ein individueller Abdruck bewahren sie dabei ihre jeweilige breitere bzw. spitzere Grundform. Wir haben es also hier mit zwei völlig unterschiedlichen Entspannungsverfahren zu tun, die, so zeigen unsere quantitativen Beobachtungen, ähnliche physiologische Veränderungen bei den zwei Fallbeispielen erzeugen. Diese Prä- und Post-Messungen wurden noch auf weitere Übungssituationen angewandt (Tab. 1). Es ist auffällig, dass wir hier mit verschiedenen Methoden ähnliche Effekte sehen, wir aber keine Aussagen darüber machen können, was diese Veränderung für die jeweilige Versuchsperson bedeutet. Damit veranschaulichen wir die oben bereits formulierte theoretische Grundproblematik und es bedarf folglich weiterer Beobachtungsstrategien, um mittels quantitativer Daten einen Mehrwert, wie das Identifizieren individuell idealer Zustände für Mentalisierungsprozesse, für die psychomotorische Praxis zu generieren. Verlaufsmessungen aus Einzelstunden Um die oben erwähnte ideale Mitte zwischen Über- und Untererregung zu beobachten, bedarf es einer aufwändigeren Beobachtungsstrategie mit umfangreicheren Messungen, die wir in kontinuierlichen Messungen von Übungsstunden erprobt haben. Diese boten sich in Einzelstunden an, die auch Teil des regulären Curriculums im Gesangsstudium sind und in denen die Versuchsperson passiv die Wirkung von non-verbalen Mobilisations-Techniken aus der Feldenkrais- und Rolfing-Methode auf ihre Haltung, Bewegung und Stimme studieren konnte. Die Versuchsperson lag dabei auf dem Rücken auf einer gepolsterten Therapieliege, drehte sich im Verlauf der Session einmal auf den Bauch und dann wieder zurück auf den Rücken. Der Ablauf war teilstandardisiert und beinhaltete immer die auf der Feldenkrais-Methode basierende Mobilisation der Halswirbelsäule mit minimalen passiven Kopfbewegungen, des Iliopsoas durch passive Beinkreise, Mobilisation der Rippen mit flachen Händen von dorsal in Bauchlage. Daraufhin wurden in Rückenlage Verspannungen des Tractus Iliotibial-Bandes, des Musculus Abb. 2: Histogramme derselben zwei Studierenden wie in Abb. 1, VP3 und VP5, am 04. Mai 2022 jeweils vor (gelb) und nach (blau) Übungen der Ideokinese- Methode. [ 22 ] 1 | 2024 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis Tab. 1: Zusammenfassungen der Prä- und Postmessungen. RMSSD, Standardabweichung der Differenz aufeinander folgender IBIs. SDNN: Standardabweichung der IBIs. HR (Mittel, Min, Max): Mittel, Minimum und Maximum der IBIs. In den meisten Fällen steigen RMSSD und SDNN an, während die Pulsrate absinkt (jeweils 9 von 12 Fällen). Die Ausnahmefälle sind in der Tabelle grau unterlegt. ms: Millisekunden; »BPM« = »Beats per minute« (Herzschläge pro Minute) Übung Datum VP Pre / Post RMSSD (ms) SDNN (ms) Mittlere Herzrate (BPM) Minimale Herzrate (BPM) Maximale Herzrate (BPM) Schlaffhorst- Andersen 26/ 01/ 2022 VP3 pre 46.3 88.8 67.5 58 76 VP3 post 64.1 113.9 63.6 55 74 Feldenkrais 16/ 02/ 2022 VP3 pre 63.7 99.8 66.2 56 74 VP3 post 59.7 103.1 64.1 55 76 Ideokinese 13/ 04/ 2022 VP3 pre 45.0 87.1 72.9 63 84 VP3 Post 74.9 109.6 65.0 56 72 Ideokinese (TM+) 27/ 04/ 2022 VP3 Pre 56.4 93.5 69.0 58 87 VP3 Post 57.8 100.0 65.6 55 76 Ideokinese 04/ 05/ 2022 VP3 Pre 55.6 99.2 65.9 57 79 VP3 Post 70.5 106.7 60.2 53 69 Schlaffhorst- Andersen 26/ 01/ 2022 VP4 Pre 23.3 29.8 77.6 74 84 VP4 Post 77.5 73.8 68.9 63 78 Ideokinese 13/ 04/ 2022 VP4 Pre 66.3 86.8 64.1 56 70 VP4 Post 65.3 66.1 60.2 54 68 Ideokinese 27/ 04/ 2022 VP4 Pre 24.9 29.8 80.7 76 85 VP4 Post 46.9 60.7 74.8 63 82 Feldenkrais 16/ 02/ 2022 VP5 Pre 25.4 35.0 76.6 68 82 VP5 Post 53.8 73.3 56.7 52 67 Ideokinese 13/ 04/ 2022 VP5 Pre 67.1 85.4 62.9 55 70 VP5 Post 67.5 76.4 60.7 57 67 Ideokinese 27/ 04/ 2022 VP5 Pre 51.1 101.7 71.1 60 83 VP5 Post 45.1 84.4 70.9 62 83 Ideokinese 04/ 05/ 2022 VP5 Pre 27.7 45.2 79.1 70 84 VP5 Post 33.8 49.0 73.9 66 83 masseter und des Temporalis-Muskel mit Techniken ähnlich zur Rolfing-Methode behandelt. Die HRV dieser Einzelstunden lässt sich dann anhand dieser Verläufe analysieren (Abb. 3). Der Streuungswert RMSSD liegt zu Beginn bei 10,7ms und hat sich im Laufe der Stunde ungefähr verneunfacht. Die Daten zeigen einen typisch wellenartigen Verlauf und enden auf einem deutlich höheren Niveau, nachdem sie jeweils ein Maximum durchlaufen haben. Dieser von uns bei allen Fällen beobachtete Verlauf, ergänzt durch qualitative Berichte, erscheint vielversprechend bei der Suche nach einem individuellen bzw. für die jeweiligen Ziele optimalen Maß an Entspannung. Eine weitere sinnvolle methodische Ergänzung zu den Verlaufsmessungen sind Videoaufnahmen, in denen die einzelnen Abschnitte zeitlich markiert werden und so die individuelle physiologische Reaktion der Übungen sichtbar werden. [ 23 ] Göhle • Auf der Suche nach Evidenz in der psychomotorischen Praxis 1 | 2024 [ 23 ] Göhle, Schuller • Auf der Suche nach Evidenz in der psychomotorischen Praxis 1 | 2024 Dritte Strategie: 24 Stunden HRV-Messungen Um die Ergebnisse der Kurzzeit- und Verlaufsmessungen einordnen zu können, wurden auch 24-stündige HRV-Messungen durchgeführt. Zur Korrelation dieser Messwerte mit Tagesaktivitäten führten die ProbandInnen ein Tagebuch. Diese 24h-Daten liefern Vergleichszeiträume, in denen im Alltag Entspannung stattfindet bzw. dadurch können Ruhe- und Schlafzeiten mit den Daten aus den Unterrichtseinheiten in Entspannung verglichen werden. Die 24h-Aufnahme zeigt die Variation der IBIs im Tageslauf und in Zusammenhang mit verschiedenen Aktivitäten. Augenfällig sind kurze IBIs während des Trainings (09.00 Uhr) und lange IBIs im Schlaf, mit deutlich wellenförmigem Verlauf. Während des Tages kommt es in den Entspannungsphasen zu längeren IBIs (bzw. langsamerem Pulsschlag). Insbesondere während der Ideokinese-Übung (10.00-11.00 Uhr) ist eine Verlangsamung der Herzrate augenfällig. Über den gesamten Verlauf der Messung lässt sich erkennen, dass eine erhöhte Pulsrate stets mit einer Verringerung der absoluten Variationsbreite der IBIs einhergeht (z. B. beim Vergleich des Trainings um 09.00 Uhr mit dem Schlaf (01.00-07.00 Uhr). Diskussion Die von uns berichteten Fallbeispiele illustrieren verschiedene Strategien der Messung von HR- Daten, die sich in den gegebenen (Unterrichts-) Settings anbieten, ohne diese in ihrer Authentizität zu verändern. Die Prä-Post-Messungen vor und nach den meisten Übungen zeigen, dass wichtige Parameter auf eine erhöhte HRV nach den Übungen hinweisen. Da unsere Beobachtungsstudie keine Kontrollgruppe vorsah, bietet sich der Vergleich mit den 24h-Aufnahmen an. Bei diesen zeigt sich, dass die HRV auch während normaler Ruhephasen während des Tages und im Schlaf erhöht ist. Ein Anstieg der HRV während der Übungen könnte demnach auch durch den eintretenden allgemeinen Entspannungszustand der Versuchsperson verursacht sein und weniger durch einen spezifischen Effekt der Übungen. Aus der 24h-Aufnahme (Abb. 4) ergibt sich ein guter Vergleich einer Übung (hier Ideokinese) mit anderen Tagesabschnitten, in denen das mittlere IBI anstieg und sich somit die HRV erhöhte. So gleicht die zeitliche Struktur der HR während der Ideokinese denen während der Schlafphase, wobei die IBIs im Schlaf um etwa 200ms länger waren. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man als Vergleich die Zeit Zuhause (ab 23.00 Uhr) mit der Ideokinese (10.00-11.00 Uhr) heranzieht. Die beobachteten Unterschiede in der Verteilung der IBIs vor und nach den Übungen waren Abb. 3: Dieselbe Versuchsperson (VP5) während zweier gleicher, teilstandardisierter Einzelstunden im Wochenabstand, erstellt mit der Software KubiosHRVPremium (Version 3.5.0) [ 24 ] 1 | 2024 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis klein und die Abwesenheit von Kontrollen erlauben es nicht, auf spezifische Effekte (z. B. klinische Relevanz) der Übungen zu schließen. Fazit und Ausblick Ziel unserer Machbarkeitsstudie war es, zu zeigen, wie HRV-Daten auf unkomplizierte Weise die Beobachtung von Übungsverläufen bereichern können, indem sie Hinweise auf Spannungs- und Entspannungsvorgänge bzw. deren physiologische Korrelate liefern können. Insbesondere die oben angesprochenen theoretischen Probleme der mehrfachen Realisierbarkeit von höheren (komplexen) Zuständen werden durch die Daten veranschaulicht. Die Erfahrungen der Messungen zeigen, wie solche Messverfahren in Unterrichtstunden integriert werden können, ohne deren Ablauf zu stören und gleichzeitig reichhaltige Datensätze über die physiologischen Parameter bei der Anwendung verschiedener Übungstechniken zu generieren. Die teilnehmenden Personen zeigten ein großes Interesse an den HRV-Werten, da sie durchweg die Erkenntnisse über ihre körperlichen Reaktionen als Bereicherung ihrer Lernerfahrung empfunden haben. Die hohe zeitliche Auflösung der HRV-Daten verlangt jedoch eine akribische Ergänzung mit qualitativen Daten, die den jeweiligen Kontext angemessen abbilden. Bei Verlaufsmessungen würden sich hierfür zeitlich synchronisierte Videoaufnahmen anbieten. Aufgrund der Weiterentwicklung der Technik können Messungen künftig genauer analysiert und als Vergleich herangezogen werden, da modernere Sensoren parallel zu den HRV-Daten auch dreidimensionale Bewegungsdaten erheben. Das Fazit unserer Machbarkeitsstudie ist eine Bestätigung der Notwendigkeit der Hinwendung zum Einzelfall auch auf der Ebene der quantitativen Daten. Dieser Beitrag durchlief das Peer-Review. Literatur Eyni, S. (2020): The effectiveness of mentalizationbased therapy on improving object relations of people with borderline personality disorder. Journal of Research in Psychopathology, 1(1), 16-23, https: / / doi.org/ 10.22098/ jrp.2020.1028 Fischer, K. (2019): Einführung in die Psychomotorik. 4. Aufl. UTB, München, https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838548029 Gädeke, D. (2017): Das Konzept Schlaffhorst-Andersen. In: Spahn, C. (Hrsg.): Körperorientierte Ansätze für Musiker. Methoden zur Leistungs- und Gesundheitsförderung. Hogrefe Verlag, Bern, 103-122 Göhle, U. H. (2010): Ideokinese: Mit Imagination Körperwissen aktivieren. In: Späker, T., Jessel, H. (Hrsg.): Brücken bauen in der Psychomotorik. Abb. 4: Versuchsperson 3 während einer 24-Stunden HRV-Messung (zeitlicher Verlauf der IBI-Längen). [ 25 ] Göhle • Auf der Suche nach Evidenz in der psychomotorischen Praxis 1 | 2024 [ 25 ] Göhle, Schuller • Auf der Suche nach Evidenz in der psychomotorischen Praxis 1 | 2024 Band- 8, Verlag Aktionskreis Psychomotorik, Lemgo, 71-185 Hales, S. (1733): Statistical essays: Containing haemostaticks, or, an account of some hydraulick and hydrostatical experiments made on the blood and blood-vessels of animals. In: Innys, W., Manby, R., Woodward, T. (Hrsg.), Biodiversity Heritage Library London, London, https: / / www.biodiversitylibrary. org/ item/ 188045#page/ 10/ mode/ 1up, 01.12.2022 Heiss, S., Vaschillo, V., Vaschillo, E. G., Timko, C. A., Hormes, J. M. (2021): Heart rate variability as a biobehavioral marker of diverse psychopathologies: A review and argument for an “ideal range”. 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Ulf Henrik Göhle studierte in London, Frankfurt am Main und Marburg die Fächer Musik, Sportwissenschaft, Instrumental und Gesangspädagogik und Motologie und lehrt das Fach »Bewegung« in der Abteilung Gesang und Musiktheater der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Dr. sc. nat. Jan C. Schuller studierte in Tübingen und Bremen Biologie und Statistik an der ETH Zürich, Promotion über Schlafforschung an der ETHZ, ist tätig in internationalen klinischen Studien der Krebsforschung und Medikamentenentwicklung sowie Gründer von »True Signal« in Brüssel und als Gitarrist, Komponist und Maler tätig. Anschrift Prof. Dr. Henrik Göhle Prodekan FB3 / Professur für Bewegung Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main Eschersheimer Landstraße 29-39 60322 Frankfurt am Main Mail: henrik.goehle@hfmdk-frankfurt.de Z E R T I F I K A T S P R O G R A M M I N L A B A N / B A R T E N I E F F B E W E G U N G S S T U D I E N Leitung: Antja Kennedy Telefon: +49 30 52282446 info@eurolab-programs.com www.eurolab-programs.com Letzte Bewerbungsfrist: 24. März Deut s chsprachiges Wochenendformat in Berlin 2024 - 2026
