eJournals motorik 47/1

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2024.art06d
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2024
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Auf den Punkt gebracht: Wissen kompakt: Die ersten Schritte - (k)ein Problem

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2024
Heinz Krombholz
Wenn das Kind die Welt betritt, kann es sich noch nicht fortbewegen und nicht gehen, aber es hat den Drang, dies möglichst bald zu ändern.
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[ 37 ] motorik, 47. Jg., 37-40, DOI 10.2378 / mot2024.art06d © Ernst Reinhardt Verlag 1 | 2024 [ AUF DEN PUNKT GEBRACHT ] Wissen kompakt: Die ersten Schritte-- (k)ein Problem Einige Überlegungen zum aufrechten Gang Heinz Krombholz Menschliche Neugeborene kommen- - im Vergleich zu den meisten Säugetieren- - sehr unreif oder unfertig zur Welt. Auch Termingeborene sind eher Frühgeburten und in besonderem Maße auf Fürsorge angewiesen. Ein Baby ist aber keineswegs bewegungsunfähig und es besitzt bereits Fähigkeiten, die sein Überleben ermöglichen: Es kann atmen, Nahrung aufnehmen, unverdauliche Nahrungsreste ausscheiden und seine Temperatur regulieren. Bereits unmittelbar nach der Geburt hat das Kind ein ausgeprägtes Bedürfnis, sich die Welt, in die es geboren wird, vertraut zu machen, Zusammenhänge zwischen eigenem Verhalten und Umweltreaktionen zu entdecken und die Umwelt zu beeinflussen. Hierbei sind die bereits erstaunlich weit entwickelten Wahrnehmungsleistungen (Sehen, Hören, Riechen und Fühlen) und die allmähliche Entwicklung der motorischen Fertigkeiten von entscheidender Bedeutung. Neugeborene sind nicht in der Lage, den Kopf zu halten oder zu heben, Gegenstände gezielt zu Ergreifen oder sich selbständig aus der Bauch- oder Rückenlage umzudrehen. Im ersten Lebensjahr verbessern sich die motorischen Fähigkeiten zunehmend und ab etwa einem Jahr kommt ein entscheidender Schritt in der Entwicklung: das Kind kann aufrecht, auf zwei Beinen gehen, zwar zunächst noch unsicher, aber bald klappt dies immer besser. Dieser Schritt ist in seiner Bedeutung vergleichbar mit dem Auftreten der ersten Wörter; allerdings ist die Verwendung der ersten Wörter nicht so offensichtlich und der Erwerb der Sprache ist im Vergleich zu den ersten Schritten ein sehr langwieriger Prozess. Aber auch die Entwicklung der Bewegungsmöglichkeiten ist mit dem aufrechten Gang keineswegs abgeschlossen. Nicht nur für die ontologische Entwicklung, sondern auch für die phylogenetische Entwicklung sind der aufrechte Gang und die Fähigkeit, Sprache zu verwenden, ein entscheidender Schritt- - beide Fähigkeiten gelten als Schlüsselereignisse für die menschliche Evolution. Für die Entwicklung der Hominiden zum aufrechten Gang und zur Entstehung der Sprache werden verschiedene Hypothesen diskutiert, die Gründe bleiben aber weiter unklar. Es gilt als gesichert, dass seit mehr als 3 Millionen Jahren Vorläufer des Homo sapiens, der Australopithecus afarensis, aufrecht gingen und damit die Hände für vielerlei Aktivitäten frei wurden. Dagegen gilt der Ursprung der menschlichen Sprache als nicht datierbar. Für das Kind bedeutet das Gehen auf zwei Beinen einen entscheidenden Fortschritt und Wenn das Kind die Welt betritt, kann es sich noch nicht fortbewegen und nicht gehen, aber es hat den Drang, dies möglichst bald zu ändern. [ 38 ] 1 | 2024 Auf den Punkt gebracht die ersten Schritte sind ein bemerkenswerter Vorgang für Eltern und das Kind selbst- - und auch für die Wissenschaft. In allen Entwicklungskalendern gibt es Angaben, wann Kinder diese Fähigkeit beherrschen. Auch in der Literatur und der darstellenden Kunst wird das Phänomen beachtet: »ich war dabei, wie er zum ersten Mal zu laufen anfing, dem Fenster, dem Licht, der Sonne entgegen, mit einem plötzlichen Elan, wie in einer jähen Erleuchtung; es war eher eine zwingende Idee als ein physiologischer Akt. Gott selbst hatte ihm die Idee geschenkt, daß der Mensch aufrecht gehen könne. Und siehe da: mein Bub ging aufrecht.« (Roth 1938, o. S.). Abbildung 1 zeigt ein Beispiel aus der darstellenden Kunst. Einen Gegenstand festhalten und loslassen zu können, zu krabbeln, sich aufzurichten und zu gehen, bedeuten für das Kind wichtige Fort- «Schritte«, die seine Möglichkeiten, sich die Welt anzueignen, sie zu »begreifen« entscheidend erweitern. Sobald das Kind in der Lage ist, sich selbständig fortzubewegen, steigert sich seine Unabhängigkeit, erweitert sich sein erreichbarer Lebensraum und es kann Erfahrungen sammeln, die für seine weitere Entwicklung grundlegend sind. Bei dieser »Eroberung« der Umwelt ist das Kind zunächst in hohem Maße auf die Mithilfe und Unterstützung anderer Personen, in erster Linie natürlich seiner Eltern, angewiesen. Das Bedürfnis oder der Wunsch des Kindes, interessante Objekte oder Orte aufzusuchen oder unangenehmen Umgebungen zu entfliehen, macht es erforderlich, seinen Körper zu bewegen. Dies kann zunächst durch Robben- - ohne Hilfe der Beine- - oder durch Krabbeln meist auf Händen und Füßen erfolgen. Auch vorwärtszurollen oder im Sitzen zu rutschen kann beobachtet werden. Bald gelingt dem Kind, sich- - mit Festhalten- - aufzurichten und sich mit Festhalten auf den Beinen vorwärts zu bewegen und schließlich frei zu gehen. Wobei das aufrechte Gehen als Fortbewegung für das Kind am Anfang keinesfalls einfach ist, bietet es jedoch den Vorteil, einen besseren Überblick und die Hände frei zu haben. Die motorische Entwicklung des Kindes beginnt bereits vor der Geburt, ab dem 5. Schwangerschaftsmonat können Bewegungen des Fötus von der Mutter wahrgenommen werden und sie werden im weiteren Verlauf der Schwangerschaft zunehmend intensiver. Bei Neugeborenen sind verschiedene Reflexe vorhanden, von denen einige für das Überleben des Neugeborenen unerlässlich sind, z. B. Saugreflex, Inspirationsreflex und Schluckreflex. Der spektakulärste, der bei der Geburt vorhandenen Reflexe, ist der Darwin-Reflex, der es einigen Neugeborenen ermöglicht, sich mit beiden Händen z. B. an einem waagerechten Seil festzuklammern. Für die Entwicklung des Kindes zu einem selbständigen Individuum gelten folgende motorische Leistungen als entscheidend: ■ die zunehmende Körperkontrolle (z. B. Halten des Kopfes, Aufrichten) ■ die zunehmende Geschicklichkeit beim Gebrauch der Hand (Greifen) ■ die Entwicklung der lokomotorischen Fähigkeiten (Krabbeln, Gehen) Grundlage aller Fortschritte im Säuglingsalter sind körperliche Reifungsprozesse. Um Bewegungen ausführen zu können, sind verschiedene Voraussetzungen notwendig: die Muskeln müssen kräftig genug sein, sie müssen sinnvoll Abb. 1: Ein Engel lehrt das Jesuskind gehen (um 1480-1490, Bayrisches Nationalmuseum, Foto: Heinz Krombholz) [ 39 ] Krombholz • Wissen kompakt: Die ersten Schritte-- (k)ein Problem 1 | 2024 [ 39 ] Krombholz • Wissen kompakt: Die ersten Schritte-- (k)ein Problem 1 | 2024 gesteuert werden und zusammenwirken (Koordination), beim Gehen ist zusätzlich der Gleichgewichtssinn gefordert. Besondere Bedeutung kommt zudem den neuronalen Prozessen zu, da bereits »einfachste« menschliche Bewegungen eine große Anzahl von genau abgestimmten Muskelaktivitäten erfordern, die durch komplexe neuronale Prozesse gesteuert werden. Der aufrechte Stand (die sogenannte Stütz- oder Statomotorik) und der Gang des Menschen sind »ein Wunder der Regulation« (Birbaumer / Schmidt 1990, 296). Die verschiedenen »motorischen Zentren«, die für die Ausführung und die Kontrolle von Haltung und Bewegung verantwortlich sind, erstrecken sich über die verschiedensten Abschnitte des Zentralnervensystems von der Hirnrinde bis zum Rückenmark und umfassen Großhirn, Kleinhirn, Stammganglien und das limbische System. Hierbei kann zwischen willkürlicher Steuerung durch übergeordnete Zentren und automatischer Regelung durch untergeordnete Mechanismen unterschieden werden. Zur Kontrolle der Bewegung werden Informationen und Rückmeldungen aus verschiedenen Sinneskanälen benötigt, entsprechend besteht eine enge anatomische Verbindung zwischen sensorischen und motorischen Systemen. In den ersten beiden Lebensjahren entwickeln sich- - nach Abschluss der notwendigen Reifung des Nerven- und Muskelsystems- - die elementaren motorischen Fertigkeiten: diese umfassen Sitzen, Krabbeln, Stehen und Gehen, aber auch das Greifen (siehe auch IFP 2013). Bedeutsame Vorläufer für den Aufrechten Gang sind- - meist in dieser Reihenfolge- - Umdrehen, frei Sitzen, Robben, Krabbeln, sich Aufrichten, erste seitliche Schritte mit Festhalten und frei Stehen. Zum Alter, in dem diese Entwicklungsschritte bewältigt werden, liegen umfangreiche Erhebungen vor (u. a. Züricher Longitudinalstudie von Largo / Jenni 2004; Motor Development Study von WHO Multicentre Growth Reference Study Group / de Onis 2006b; Motorische Meilensteine von Roth / Krombholz 2017). Beim Bewältigen dieser motorischen Meilensteine gibt es große individuelle Unterschiede und die lokomotorische Entwicklung bei gesunden Kindern kann vielfältig verlaufen (Largo 2007). Altersangaben für das Auftreten dieser Bewegungsformen (die so genannten »motorischen Meilensteine«) sind daher nicht unproblematisch. Allerdings ist die Reihenfolge, in der die elementaren Grundfertigkeiten normalerweise auftreten, für die meisten Kinder gleich, lediglich die Geschwindigkeit, in der die einzelnen Entwicklungsschritte stattfinden, variiert erheblich und es können auch einzelne Fertigkeiten übersprungen werden (z. B. Krabbeln einige Kinder nicht). Das Durchschnittsalter, in dem die wesentlichen motorischen Meilensteine erreicht werden, findet sich in Tabelle 1. Die ersten selbständigen freien Schritte bewältigen die meisten Kinder kurz nach Vollendung des ersten Lebensjahres. motorische Fertigkeit M PR 3 % PR 97 % auf Bauch drehen 4.7 2.0 7.2 auf Rücken drehen 5.1 1.9 8.5 selbständig Aufsetzen 8.5 6.0 11.9 Robben 7.2 4.7 10 Krabbeln 8.5 5.9 12.4 Aufstehen mit Hilfe 8.8 6.3 12.8 freies Stehen mit Hilfe 11.6 7.5 17.3 seitliches Gehen mit Hilfe 10.2 7.1 15.0 Aufrichten und Stehen 12.6 8.7 19.1 frei Gehen 12.9 9.9 18.5 Tab. 1: Das mittlere Alter in Monaten, in dem wichtige Entwicklungsschritte auftreten und die Prozentränge 3 und 97 (nach Roth / Krombholz 2017) [ 40 ] 1 | 2024 Auf den Punkt gebracht Fazit Die beeindruckenden Fortschritte des Bewegungsrepertoires der Neugeborenen im ersten Lebensjahr beruhen wesentlich auf der Entwicklung körperlicher Merkmale und gelten als überwiegend genetisch gesteuert, auch wenn Umweltfaktoren nicht völlig ausgeschlossen werden können. Umwelteinflüsse und Fördermaßnahmen haben offensichtlich keinen wesentlichen Einfluss auf diesen frühen Entwicklungsprozess und gesunde Kinder brauchen keine Anregung durch Erwachsene, um die grundlegenden grobmotorischen Aktivitäten zu erwerben (Krombholz 2002; Malina 2004). Selbst eine starke Einschränkung der Bewegungsmöglichkeiten des Säuglings hat kaum Auswirkungen auf das Alter, in dem die ersten Schritte bewältigt werden (Dennis / Dennis 1940) und es finden sich kaum Unterschiede in der frühen motorischen Entwicklung von Kindern, die in unterschiedlichen Regionen, in denen Lebensbedingungen, Erziehungseinstellungen und materielle und kulturelle Traditionen erheblich differieren (WHO Multicentre Growth Reference Study Group / de Onis 2006a). Allerdings wirken sich starke Einschränkungen (Vernachlässigung) negativ aus (Dennis 1960). Literatur Birbaumer, N., Schmidt, R. F. (1990): Biologische Psychologie. Springer, Berlin Dennis, W. (1960): Causes of retardation among institutional children: Iran. Journal of Genetic Psychology, 96, 47-59, https: / / doi.org/ 10.1080/ 0022132 5.1960.10534274 Dennis, W., Dennis, M. G. (1940): The effect of cradling practice on the age of walking in Hopi children. Journal of Genetic Psychology, 56, 77-86 Krombholz, H. (2002): Körperliche und motorische Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter. On- Line-Familienhandbuch. In: http: / / www.familienhandbuch.de/ kindheitsforschung/ fruhe-kindheit/ korperliche-und-motorische-entwicklung-im-sauglings-und-kleinkindalter Largo, R. (2007): Babyjahre. Die frühkindliche Entwicklung aus biologischer Sicht. Piper, München Largo, R., Jenni, O. G. (2005): 50 Jahre Forschung in den Züricher Longitudinalstudien: Was haben wir daraus gelernt? In: Arbeitsstelle Frühförderung Bayern (Hrsg.): Tagungsband »Forschung für die Praxis- - Wie funktioniert (kindliche) Entwicklung? «, München, 47-56 Malina, R. M. (2004): Motor development during infancy and early childhood: Overview and suggested directions for research. International Journal of Sport and Health Science, 2, 50-66 Roth, J (1938): Kapuzinergruft. Verlag De Gemeenschap, Bilthoven Roth, A., Krombholz, H. (2016): Meilensteine der motorischen Entwicklung. Panelstudie zur motorischen Entwicklung von Kindern in den ersten zwei Lebensjahren. In: Staatsinstitut für Frühpädagogik München (IFP) (Hrsg.): IFP-Projektbericht 28 / 2016. Handlungsfeld: Bildungsmonitoring und Bildungsberichterstattung. In: http: / / www.ifp.bayern.de/ imperia/ md/ content/ stmas/ ifp/ projektbericht_ meilensteine_nr_28.pdf Staatsinstitut für Frühpädagogik München (IFP), Zacharrias, A., Ibelherr, M. (2013): Mein Entwicklungskalender. Baierbrunn, Wort & Bild-Verlag. In: http: / / www.ifp.bayern.de/ imperia/ md/ content/ stmas/ ifp/ entwicklungskalnder_meilensteine. pdf WHO Multicentre Growth Reference Study Group, de Onis, M. (2006a): Assessment of sex differences and heterogeneity in motor milestone attainment among populations in the WHO Multicentre Growth Reference Study. Acta Paediatrica, Suppl., 450, 66-75, https: / / doi.org/ 10.1111/ j.1651-2227.2006. tb02378.x WHO Multicentre Growth Reference Study Group, de Onis, M. (2006b): WHO Motor DevelopmentalStudy: Windows of achievement for six gross motor development milestones. Acta Paediatrica, Suppl., 450, 86-95, https: / / doi.org/ 10.1111/ j.1651-2227.2006. tb02379.x Der Autor Dr. Heinz Krombholz Dipl. Psychologe, war jahrelang als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP) in München mit den Forschungsschwerpunkten motorische Entwicklung, sprachliche Entwicklung und Lateralität tätig. Heinz.Krombholz@ifp.bayern.de