eJournals motorik 47/1

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2024.art08d
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2024
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Impulse für die Praxis:»MOVING SENIORS«

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2024
Elisabeth Kraus
Die Idee zum psychomotorischen Bewegungsangebot »Moving Seniors« entstand während der intensiven Auseinandersetzung mit dem Alter und dem Altern im Rahmen der Erstellung einer Masterthesis. Mit dem Angebot sollen vor allem jene älteren Menschen angesprochen werden, die
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[ 44 ] 1 | 2024 Impulse für die Praxis [ Impulse für dIe praxIs ] »MOVING SENIORS« ein psychomotorisches Bewegungsangebot für seniorinnen und senioren elisabeth Kraus Die Idee zum psychomotorischen Bewegungsangebot »Moving Seniors« entstand während der intensiven Auseinandersetzung mit dem Alter und dem Altern im Rahmen der Erstellung einer Masterthesis. Mit dem Angebot sollen vor allem jene älteren Menschen angesprochen werden, die ■ bislang kein Interesse an sportlicher Betätigung hatten, ■ sich aufgrund von Einschränkungen von »traditionellen« Sportangeboten nicht (mehr) angesprochen fühlen, ■ aber den Wert der Bewegung für die Gesundheit erkennen und ihre körperliche und psychische Gesundheit damit fördern wollen. Rund um das Sturzpräventionsprogramm »Trittsicher & aktiv« der österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK 2021) wurde ein psychomotorisches Programm entwickelt, welches nicht nur die motorischen Kompetenzen fördert, sondern alle vier Dimensionen des menschlichen Seins berücksichtigt (Voglsinger 2004). »Moving Seniors« ist kein Sportangebot im herkömmlichen Sinne, sondern bietet abwechslungsreiche, ganzheitliche und gruppenorientierte Bewegungserfahrungen. ■ Durch gezielte Übungen werden die Körperwahrnehmung und die motorische Geschicklichkeit (z. B. Gleichgewicht und Koordination) verbessert, wodurch sich das Risiko von gefährlichen Stürzen erheblich reduziert. ■ Integrierte Bewegungsspiele regen das Denken und die Merkleistung an, womit einem kognitiven Abbau (Demenzerscheinungen) entgegengewirkt wird. ■ Das Bewegen in der Gruppe fördert die Kommunikationsfähigkeit, soziale Beziehungen und vor allem das persönliche Wohlfühlen. ■ Anstelle von sportlichen Leistungsanforderungen steht die Freude an der Bewegung selbst. ■ Individuelle Wünsche, Gegebenheiten und Einschränkungen fließen Abb. 1: im Hindernisparcours nur schwach sichtbare Seile überwinden Abb. 2: ein Parcours, wo es, wie im Alltag, auch mal rutschig sein kann [ 45 ] Impulse für die Praxis 1 | 2024 stets in die Stundengestaltung ein, weshalb »Moving Seniors« für jeden geeignet ist. Wie sieht »Moving Seniors« in der Praxis aus? Jeder Einheit ist ein »Schwerpunktmaterial« wie z. B. Bälle, Tücher, Stäbe, Luftballons, Softfrisbeescheiben, Heulrohre, Kegel, Flaschen, Schwämme, Zeitungspapier, Küchenrolle etc. zugeordnet. Zusätzlich werden Therabänder, verschiedene Balancegeräte oder die Möglichkeiten, die der Turnsaal bietet, eingesetzt. Zu jedem Schwerpunktmaterial gibt es mittlerweile eine umfangreiche Ideensammlung von »leicht bis doch schon ganz schön wild« und, der Zusammensetzung der Gruppe entsprechend, werden daraus passende Übungen und Spiele ausgewählt. So manche Idee wurde bereits von den TeilnehmerInnen eingebracht bzw. weiterentwickelt. Die ca. 15 TeilnehmerInnen sind zwischen 62 und 85 Jahre alt. Die aktuelle Gruppe umfasst 3 Männer und ca. 12 Frauen. Altersbedingt kommt es immer wieder zu mehrwöchigen Ausfällen durch Krankheit oder Schmerzzuständen, die TeilnehmerInnen wissen aber, dass der Wiedereinstieg völlig unproblematisch ist und kommen völlig gelassen zurück, wenn es ihnen wieder besser geht. Ablauf einer 90-minütigen »Moving Seniors«-Einheit ■ Persönliche Begrüßung der TeilnehmerInnen und kurzes Begrüßungsspiel im Kreis zum Ankommen in der Gruppe-- oft mit kleinen Denkaufgaben gekoppelt. ■ Wahrnehmung und Sensibilisierung des Körpers, besonders der Füße z. B. mit Feldenkraisübungen, kinesiologischen Übungen oder einfach mit dem, bei den TeilnehmerInnen besonders beliebten, Igelball. ■ Ca. 3-4-minütiges Powerwalken zu Musik als Ausdauertraining. ■ Differenzierte Bewegungsaufgaben mit dem Schwerpunktmaterial z. B. Hindernisse bewältigen, PartnerInnen finden, Material tauschen, spontanes Stopp & Go etc. ■ Gymnastikteil mit dem Schwerpunktmaterial zur Ganzkörperkräftigung. ■ Kreative Bewegungsaufgaben und Spiele passend zum Schwerpunktmaterial und möglichst mit kognitiven und sozialen Anforderungen gekoppelt. ■ Für aktive Pausen steht ein Korb mit Massagematerial bzw. sensorischem Material permanent zur Verfügung. ■ Kurze Entspannungssequenz und Abschlussrunde im Kreis, wo die TeilnehmerInnen reflektieren können, wie es ihnen in der Einheit ergangen ist, wie sie sich gefühlt haben etc. Hier fließen auch die Beobachtungen und Hintergrundinformationen der Übungsleiterin ein, und die TeilnehmerInnen sind sehr oft überrascht, was sie alles noch oder wieder geschafft haben. ■ Aus den Aussagen der Reflexionsrunde, sowie den Beobachtungen aus der Stunde ergeben sich die Inhalte für die nachfolgende Einheit. Feedback der TeilnehmerInnen und Beobachtungen Dem Feedback vieler TeilnehmerInnen ist zu entnehmen, dass bei der ersten Teilnahme viel Unsicherheit oder Skepsis vorhanden war. Die meisten SeniorInnen stellten sich die Frage, ob sie es wirklich schaffen würden, mit über 80 Jahren nochmals ein Bewegungsangebot zu beginnen oder durchzuhalten, aber auch jüngere, bislang weniger sportinteressierte TeilnehmerInnen waren skeptisch, ob es tatsächlich ein gesundheitsförderndes Bewegungsangebot gibt, das auch noch Spaß macht. In kurzer Zeit ist eine sehr nette und begeisterte Gruppe entstanden und es ist immer wieder unglaublich, welche Leistungen und Entwicklungen sichtbar werden. Einige Beispiele: ■ TeilnehmerInnen, die sich gerade noch schwer zum Sockenanziehen bücken konnten, klauben im Spiel flink kleine Teile vom Boden auf, Abb. 3: Die bunten Softfrisbeescheiben verleiten zu schwungvollen Bewegungen. [ 46 ] 1 | 2024 Impulse für die Praxis ■ am Anfang unsicher gehende Personen rennen mit dem Luftballon nur so durch den Saal, ■ eine 85jährige, eigentlich von Schwindel geplagte Frau, dreht Pirouetten durch den Raum, weil sie sich vom Chiffontuch und der Musik »Die Moldau« so inspiriert fühlt, ■ fast alle TeilnehmerInnen trauen sich, sich- - einige sogar mit Anlauf! ! ! -- in die rollende Weichbodenmatte zu stürzen. Je »unkonventioneller«, desto besser Sehr oft höre ich von meinen TeilnehmerInnen, dass sie sich schon in jüngeren Jahren von »einseitigen« Sportangeboten wenig angesprochen fühlten. Zur Aussage »immer die gleichen schweißtreibenden Übungen, …« kam mit den Jahren dann noch »ich schaff einfach keine ganze Stunde (Rückengymnastik, …) mehr« dazu. Jede »Moving Seniors«-Einheit bietet verschiedenste und ganzheitliche Bewegungsangebote und Impulse. Die TeilnehmerInnen entscheiden selbst, wo und in welchem Umfang sie teilnehmen möchten. So gibt es z. B. eine 85jährige Dame, die sich beim Gymnastikteil eher schnell zurückzieht oder leichtere Alternativübungen macht, die aber beim anschließenden »bewegten Gedächtnisspiel« wieder voll dabei ist. Die anfänglichen Bedenken, dass die spielerische Form bei den SeniorInnen nicht ankommen könnte, zerstreuten sich rasch. Die TeilnehmerInnen lassen sich voll und ganz auf Spiele und spielerische Übungen ein und es ist immer wieder zu beobachten, dass »unkonventionelle« Angebote und Impulse besonders reizvoll und begeisternd sind und eine unglaubliche Ausdauer und Freude sichtbar wird. Einige Praxisbeispiele: ■ für »Reifenboccia« die Reifen durch den Saal werfen, ■ mit den Stäben auch mal wie Kinder »kämpfen«, Abb. 4: keine Angst vor Stürzen: sich mit vollem Elan auf eine rollende Weichbodenmatte stürzen Abb. 5: der Angst vor Stürzen begegnen und sich bewusst auf eine rollende Weichbodenmatte stürzen, um damit Flaschenkegel umzuwerfen Abb. 6: Sturztraining mal anders Abb. 7: gemeinsam etwas bewegen Abb. 8: »Wie früher im Teamseminar« wird versucht, einen gordischen Knoten zu lösen [ 47 ] Krombholz • Wissen kompakt: Die ersten Schritte-- (k)ein Problem 1 | 2024 [ 47 ] Impulse für die Praxis 1 | 2024 ■ wie (früher) im Managementseminar einen gordischen Knoten lösen, ■ um die Wette ein »bewegtes« Riesenmemory oder Riesenkartenspiel spielen ■ Kegeln mit einer rollenden Weichbodenmatte als Sturztraining In der spielerischen Umsetzung bewegen sich die TeilnehmerInnen viel freier, unbedarfter und weitreichender, was ihnen dann wieder mehr Selbstbewusstsein für den Alltag gibt. Die kognitive und soziale Dimension (Voglsinger, 2004) In jeder Einheit gibt es auch Übungen zur Förderung von Konzentration, Merkfähigkeit und Reaktion- - jeweils mit Bewegung verbunden. Das »bewegte Kartenspiel mit den Riesenjollykarten« oder Bewegungsgeschichten, die eine hohe Aufmerksamkeit und schnelle Reaktion erfordern, sorgen u. a. für Spannung und Spaß. Auch die soziale Dimension (Voglsinger 2004) wird regelmäßig im Rahmen der Einheiten angesprochen. Gewiss gibt es auch bei klassischen Bewegungsangeboten z. B. SeniorInnengymnastik zahlreiche soziale Interaktionen und emotionale Bindungen, besonders wenn die Gruppe schon länger besteht. Der bewusste Einsatz dieser Dimension zeigt aber eine unglaubliche Wirkung und beeindruckend ist vor allem die Geschwindigkeit, in der sich die sozialen Beziehungen vollziehen. In der Bewegungsgruppe Ansehen, aber auch Verständnis zu erfahren, eigene Stärken einbringen zu können, Schwächen nicht verbergen zu müssen, sich gegenseitig zu unterstützen, sich auch wieder mal messen zu können oder die Freude zu spüren, wenn man nach krankheits- oder schmerzbedingtem Fernbleiben wieder in die Einheit kommt …-- es ist teilweise berührend, wie die »Moving Seniors« sich entwickeln und miteinander umgehen. Die ÜbungsleiterInnen sind ebenfalls jede Woche mit Begeisterung bei der Sache und hoffen, dass sich das Bewegungsangebot »Moving Seniors« schon bald als eine Art Marke etabliert. Bewegung ist Leben und es ist nie zu spät, damit zu beginnen- - mit dem psychomotorischen Angebot »Moving Seniors« macht es auch noch Riesenspaß! Literatur Österreichische Gesundheitskasse (2021): Fibel und Videos »Trittsicher-& aktiv-- Stürze gezielt vermeiden«. ÖGH, Wien Voglsinger, J. (2004): Bewegungsräume als Lernräume. Grundlagen, Praxis und Perspektiven der »Bewegten Klasse« und der psychomotorischen Förderung. In: Kuntz, S., Voglsinger, J. (Hrsg.): Humor, Phantasie und Raum in Pädagogik und Therapie. Verlag modernes Lernen, Dortmund, 73-96 Abb. 9: Paarübung mit Bierdeckel Kontakt Elisabeth Kraus Elementarpädagogin, Motogeragogin, Psychomotorikerin elisabeth.kraus74@gmail.com www.movingseniors.at Abb. 10: jeder in seinem Tempo und bei Bedarf auch mit Unterstützung DOI 10.2378/ mot2024.art08d