motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2024.art10d
41
2024
472
Forum Psychomotorik: Blick aus der Praxis: Psychomotorik und ICF - zwei alte Bekannte, neu betrachtet
41
2024
Nicole Seebach-Dietze
Durch die Einführung der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) wird die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen in den Blick genommen, mit dem Ziel, ein selbstbestimmteres Leben zu ermöglichen. Der Beitrag zeigt zum einen, dass die Psychomotorik eine geeignete Methode ist, um Teilhabeziele zu unterstützen. Zum anderen bilden Teilhabeziele geeignete psychomotorische Förderziele.
7_047_2024_2_0003
Zusammenfassung / Abstract Durch die Einführung der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) wird die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen in den Blick genommen, mit dem Ziel, ein selbstbestimmteres Leben zu ermöglichen. Der Beitrag zeigt zum einen, dass die Psychomotorik eine geeignete Methode ist, um Teilhabeziele zu unterstützen. Zum anderen bilden Teilhabeziele geeignete psychomotorische Förderziele. Schlüsselbegriffe: ICF, Psychomotorik, Förderziele, Teilhabe A view from the practice: Psychomotricity and ICF: two old acquaintances, looked at anew With the introduction of the ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) the focus is on the social participation of people with impairments, with the aim of enabling a more self-determined life. The article shows on the one hand, that psychomotricity is a suitable method to support formulated participation goals. On the other hand, participation goals form suitable psychomotor support goals. Keywords: ICF, psychomotricity, funding goals, participation [ 60 ] 2 | 2024 motorik, 47. Jg., 60-65, DOI 10.2378 / mot2024.art10d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Blick aus der Praxis: Psychomotorik und ICF-- zwei alte Bekannte, neu betrachtet Nicole Seebach-Dietze Die Einführung der ICF (WHO 2017) und die gesetzlich vorgeschriebene Notwendigkeit, Förder- und Hilfepläne ICF-basiert zu verfassen, kam genauso überraschend, wie alljährlich das Weihnachtsfest: jeder kennt es, jeder weiß, dass es stressig werden kann, jeder nimmt sich vor, alles rechtzeitig vorzubereiten und fast jeder tappt in die Falle und wird vom 24. Dezember überrascht. In diesem Artikel wird aus Sicht der psychomotorischen Praxis aufgezeigt, dass die ICF mehr ist als das notwendige, gesetzlich vorgeschriebene Übel und bürokratischer Aufwand. Deutlich gemacht wird, dass das zu Grunde liegende Modell, die Haltung und Handlungsgrundlage psychomotorischen Fachkräften bereits vertraut sind. Deshalb sollte es in der Psychomotorik keine Herausforderung darstellen, mit dem ICF-Konstrukt zu arbeiten und psychomotorische Förderideen konzeptionell zu vertreten. Das Modell der ICF wird an dieser Stelle als bekannt vorausgesetzt (siehe auch Dawal/ Kuhlenkamp in diesem Heft). Im Mittelpunkt des Beitrags stehen die Chancen und Möglichkeiten in der Psychomotorik, ICF-basiert zu arbeiten, Förderziele ICF-basiert zu finden und gegenüber Kostenträgern zu vertreten. Gleichzeitig soll aufgezeigt werden, dass psychomotorische Konzepte vor den gültigen kognitiven Lerntheorien standhalten und damit eine neurophysiologische Grundlage für Förderung im Sinne der ICF bieten können. Was ist ein ICF-basiertes Förderziel oder eine Alltagkompetenz als Teilhabeziel? In der ICF geht es um die Teilhabemöglichkeiten eines Menschen im gesellschaftlichen Alltag. Genauer um die Frage, wie wir sicherstellen können, dass Menschen mit Beeinträchtigungen an [ 61 ] Seebach-Dietze • Psychomotorik und ICF 2 | 2024 Bereichen des alltäglichen Lebens teilnehmen können, die ihnen wichtig sind, wie sie den gesellschaftlichen Herausforderungen begegnen können, die das Leben von ihnen verlangt. Bezogen auf kindliche Entwicklung könnte die Frage lauten: Wie kann es gelingen, das Kind mit einer Beeinträchtigung bestmöglich auf ein selbstständiges, selbstbestimmtes Leben vorzubereiten? Die ICF orientiert sich dabei nicht ausschließlich an Normen, sondern erlaubt eine individuelle Betrachtung von Entwicklung, mit Besonderheiten und Abweichungen, die gesellschaftlich anerkannt und integriert gehören. Jeder Mensch ist demzufolge zunächst mit all seinen Besonderheiten genauso gut und richtig, wie er oder sie aktuell ist. Gemeinsam werden daher im Team Probleme identifiziert und Möglichkeiten gefunden, die Probleme zu minimieren, um ein gemeinsames Leben zu ermöglichen (Seebach- Dietze 2023, 62 ff ). Dabei ist es nicht alleinige Aufgabe des Menschen mit Beeinträchtigungen, sich an den gesellschaftlichen Grundlagen zu orientieren, da die angeborene oder erworbene gesundheitliche Beeinträchtigung nicht mehr als einzige Ursache für Teilhabeschwierigkeiten betrachtet wird. Es werden ebenso die Umweltfaktoren in den Blick genommen, die eine Teilhabe erschweren, verhindern oder auch positiv beeinflussen können. Diese Faktoren sind gleichwertig gegenüber den eigentlichen Schwierigkeiten, die eine Behinderung oder Beeinträchtigung mit sich bringt. Wenn diese Faktoren im Förderplan identifiziert und beschrieben werden, kann die Verringerung oder Beseitigung der limitierenden Umweltbedingungen zur Grundlage für eine finanzierte Maßnahme werden (SGB IX 2016). Ein ICF-basiertes Förderziel nimmt daher die Aktivitäten in den Blick, die Menschen in einer ähnlichen Altersstufe und unter ähnlichen Lebensbedingungen normalerweise tun oder tun möchten. Diese können Aktivitäten sein, die recht individuell sind, wie Hobbys oder die Freizeitgestaltung, aber auch Tätigkeiten, die gesellschaftlich und kulturell gefordert und somit obligatorisch sind, wie der Schulbesuch. All diese Aspekte werden von Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen selbst bzw. von deren Erziehungsberechtigten und möglichst allen an der Förderung beteiligten Personen wahrgenommen und eingeschätzt. Gemeinsam werden Förderziele festgelegt und Maßnahmen bestimmt, die zur Erreichung der Ziele sinnvoll sein können. In regelmäßigen Abständen werden diese Ziele evaluiert und Maßnahmen ggf. angepasst. Das Besondere an der ICF-Orientierung ist, dass nicht mehr nur die Fachpersonen, also die maßnahmenausführenden Personen über die nächsten, zu erreichenden Ziele bestimmen und die passenden Maßnahmen aussuchen. Im Rahmen der ICF wurde festgelegt, dass der Mensch mit einer Beeinträchtigung selbst gehört, die Wünsche berücksichtigt und wenn möglich priorisiert werden müssen. Dies ist in der Arbeit mit Kindern relativ zu sehen. Erstens entscheiden die Erziehungsberechtigten, welche Ziele verfolgt werden sollen, was für Fachkräfte durchaus eine Herausforderung darstellen kann. Zweitens gibt es die beschriebenen obligatorischen Entwicklungsziele, wie zum Beispiel die Schulpflicht. Hier gibt es kaum Entscheidungsfreiheit und ein Mitspracherecht liegt eher im Bereich von Schulform oder -ort. Drittens existieren bisher nur wenig Instrumente, die Wünsche oder Ziele bei nichtsprechenden oder sehr jungen Kindern abfragen und evaluieren können. Dennoch gilt auch hier das Kohärenzprinzip (Cott 2014 ; Abb. 1): Je mehr ich verstehe, warum ich etwas tue oder tun muss, je sinnhafter ich das Ganze finde und je handhabbarer es für mich ist, desto eher kann ich es akzeptieren und positiv Abb. 1: Kohärenz (eigene Darstellung in Anlehnung an Antonovsky in Cott 2014) [ 62 ] 2 | 2024 Forum Psychomotorik für meine Entwicklung nutzen. Durch die klientenzentrierte Sicht ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass Ziele akzeptiert, Maßnahmen mit größerer Motivation angegangen werden können und Erfolge sich tatsächlich in der Alltagsperformance wiederfinden. Aus diesem Grund sollte es selbstverständlich sein, dass Ziele und Maßnahmen für Eltern und Kinder nachvollziehbar und aktivierend sind und damit jedes Mal aufs Neue passgenau formuliert werden müssen. An dieser Stelle lohnt ein Blick auf ein Praxisbeispiel, dass zeigt, wie eine psychomotorische Situation ein Teilhabeziel unterstützen kann: Hanna ist 4; 7 Jahre alt und besucht eine integrative Kindertagesstätte. Hanna spricht nicht und es fällt ihr schwer, sich im Alltag der Kita zurecht zu finden. Sämtliche Übergänge von einer Situation in eine andere stellen eine Herausforderung dar. Dies äußert sich darin, dass Hanna schreit, sich zu Boden wirft, manchmal wild um sich schlägt und nicht zur Rückkehr ins Gruppengeschehen motiviert werden kann. Hanna zeigt kein Interesse an anderen Kindern. Von sich aus läuft sie gern in der Gruppe herum, bewegt sich summend und beobachtet insichgekehrt die Welt. Interessiert sie ein Gegenstand, mit dem sich gerade ein anderes Kind beschäftigt, nimmt sie sich diesen-- notfalls mit Gewalt. So kommt es regelmäßig zu stressigen Situationen, da die anderen Kinder sich wehren oder ängstlich und weinend zu den Erwachsenen laufen. Seit kurzem hat Hanna die Diagnose »Austimus-Spektrum-Störung«. Die gemeinsam im Förderteam formulierten Teilhabeziele für die nächsten sechs Monate lauten: »Hanna bleibt in 3 von 5 Übergangssituationen gelassen.« und »Hanna gestaltet Situationen mit einem anderen Kind in 3 von 5 Fällen angemessen«. Im »Runde-Tisch-Gespräch« wird nach Lösungen gesucht, wie die Teilhabeziele erreicht werden können. Die Physiotherapeutin, die in der Kita Psychomotorikgruppen anbietet, schlägt vor, mit Hanna zu arbeiten. Zunächst wird sie sie im Einzelsetting betreuen und für Hanna angenehme Bewegungssituationen gestalten, die Übergänge beinhalten, welche Hannas aktueller Lebenswelt im Miniatursetting entsprechen. Dort wird sie verschiedene Methoden ausprobieren, mit denen Hanna die Situation erleichtert wird. Diese werden dann in den Gruppenalltag transportiert und dort etabliert. Weiterhin wird das Angebot nach und nach um mehrere Kinder erweitert und die Kontaktsituationen sensibel begleitet. Auch hier werden gut funktionierende Situationen erfasst, ausgebaut und langfristig im Alltag erprobt. Lerntheoretische Basis für eine ICForientierte Arbeit Mit der ICF wird die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen Mensch und Umweltfaktoren im Hinblick auf Teilhabemöglichkeiten oder -barrieren betont. Dieser Aspekt ist in der Psychomotorik verankert, denn die Analyse und Gestaltung der Kind-Umwelt-Interaktion steht in der entwicklungsorientierten psychomotorischen Förderung von jeher im Mittelpunkt. So gehen die der psychomotorischen Förderung zu Grunde liegenden gängigen Entwicklungs- und Lerntheorien davon aus, dass jeder Mensch in Auseinandersetzung mit seiner materiellen und sozialen Umwelt eigene Erfahrungen macht, auf deren Grundlagen sich das Gehirn individuell entwickelt (Abb. 2). Abb. 2: individuelle Entwicklung (eigene Darstellung) [ 63 ] Seebach-Dietze • Psychomotorik und ICF 2 | 2024 [ 63 ] Seebach-Dietze • Psychomotorik und ICF 2 | 2024 Vereinfacht zusammengefasst, besteht das Leben aus einer unendlichen Anzahl von Problemen, die es zu lösen gilt. Jedes gelöste Problem füllt unsere ureigene Bibliothek von Erfahrungen, auf die wir bei jedem neu auftauchenden Problem zurückgreifen können. Wissenschaftlich ausgedrückt bilden sich neue Synapsen, neue Netzwerke, Verbindungen werden dicker und damit schneller- - wir lernen (Edelman / Gally 2013). Entwicklungsprozesse verlaufen lebenslang höchst individuell und wir erlauben uns, ein großes Maß an Variabilität anzuerkennen (Michaelis et al. 2017). Entwicklung geschieht immer adaptiv an jeweilige Umweltbedingungen und im sozialen Kontext. Einfach gesagt: jede Aktion benötigt eine Reaktion und (fast) jede Reaktion löst eine neue (Re)Aktion aus. Wissenschaftlich ausgedrückt sind Reize jene Umwelteinflüsse, die bei einem Individuum eine Reaktion stimulieren. Welche Reaktion im Lebewesen ausgelöst wird, hängt von den Prozessen ab, die im Inneren geschehen: was wurde gelernt, was ist biochemisch unabdingbar? Dies kann die reflektorische Antwort auf einen Reiz sein, wie sie passiert, wenn der Arzt mit dem Hämmerchen auf die Kniestreckersehne schlägt. Es können aber auch Antworten auf Stimuli sein, die auf den ersten Blick nicht vorhersehbar sind (Bandura 1994, Kiesel/ Koch 2012) wie die oben bei Hanna beschriebene Reaktion auf Übergänge. Eine lernfördernde Umwelt regt an, gibt Mög- Tab. 1: Verhalten lern- und entwicklungstheoretisch erklärt Hanna … Versuch einer Erklärung Teilhabeziel Psychomotorische Maßnahmen Übergänge von einer Situation in eine andere stellen eine große Herausforderung dar. Jeder Mensch macht eigene Erfahrungen, auf dessen Grundlage sich das Gehirn individuell entwickelt. Hanna hat gelernt, sich so zu verhalten, weil es momentan für ihr System einen Sinn macht. Sie hat keine Verhaltensalternativen ausprobiert und gelernt. Es ist momentan ihre Lösung für das Problem. Ihre »Erfahrungsbibliothek« ist noch nicht gut gefüllt. Hanna bleibt in 3 von 5 Übergangssituationen gelassen. Bewegungssituationen, die Übergänge beinhalten. Erprobung von Strategien, die Situationen erleichtern. Interessiert sie ein Gegenstand, mit dem sich gerade ein anderes Kind beschäftigt, so nimmt sie sich diesen, notfalls mit Gewalt. Reize sind jene Umwelteinflüsse, die bei einem Individuum eine Reaktion auslösen. Welche Reaktion im Lebewesen ausgelöst wird, hängt von den Prozessen ab, die im Inneren geschehen: was wurde gelernt, was ist biochemisch unabdingbar? Ein begehrter Gegenstand bedeutet für Hanna den Stimulus, sich diesen zu nehmen. Sie hat noch kein Verständnis dafür, welche sozialen Prozesse dabei ablaufen. Möglicherweise wird sie dieses Verständnis nie erlangen, aber sie kann Verhaltensalternativen erlernen. Wenn diese Verhaltensalternativen gleichzeitig bedeuten, dass es weniger Stress gibt und die Situationen ruhiger und entspannter ablaufen, entspricht dies einer günstigen Lernumgebung. Hanna gestaltet Situationen mit einem anderen Kind in 3 von 5 Fällen angemessen. Gestaltete Kontaktsituationen mit anderen Kindern. [ 64 ] 2 | 2024 Forum Psychomotorik lichkeiten zum Ausprobieren und Probleme lösen. Fehler sind in Ordnung und können nachweislich dazu beitragen, es noch einmal etwas anders zu probieren. Dies entspricht den motorischen Lernphasen im Sinne von »trial and error« (Trabant/ Wagner 2020). Wenn wir das oben beschriebene Praxisbeispiel diesbezüglich genauer in den Blick nehmen, können wir versuchen, das beobachtete Verhalten zu erklären (exemplarisch Tab. 1). Handlungskompetenz im Alltag-- wie kann die Psychomotorik unterstützen? Teilhabe bedeutet, aktiv im Alltag dabei zu sein. Aktiv zu sein bedeutet handlungskompetent zu sein: »Ich weiß, welche Handlungen an welcher Stelle notwendig sind, welche mir zur Verfügung stehen und bestenfalls, welche Konsequenzen diese mit sich bringen, also Sinn machen«. All diese Dinge werden in den psychomotorischen Ansätzen in den Fokus gesetzt und können Teilhabeziele unterstützen. Die psychomotorische Arbeit lebt davon, Probleme zur Verfügung zu stellen, die vom Kind selbstständig oder mit wohldosierter Hilfe bewältigt werden können, um seine Erfahrungen und das Verhaltensrepertoire zu erweitern. Die Fördersituationen ähneln dabei der Lebenswelt der Kinder: sie finden in der Regel in Gruppen statt, was der natürlichen Umwelt eines Kindes entspricht. Es wird häufig mit Alltagsmaterialien hantiert, was einen Übertrag in den Alltag erleichtert und Fantasie anregt, weil Umdeutungen stattfinden (z. B. die Toilettenpapierrolle als Fernglas nutzen). Die Spielthemen stammen meist aus dem Alltag der Kinder und sind somit immer bedeutsam. Rückmeldungen finden auf vielfältige Art und Weise statt, was reflektorische Prozesse in Gang setzt und einer lernfördernden Umwelt entspricht. Die geschützte Atmosphäre lädt zum Ausprobieren ein und minimiert die Gefahr des Scheiterns, welchem Kinder mit Entwicklungsschwierigkeiten häufig ausgesetzt sind. Somit können Verhaltensalternativen ausprobiert und in den Lebensalltag integriert werden. Zur Verdeutlichung folgt ein weiteres Praxisbeispiel, das zeigt, wie eine psychomotorische Intervention Teilhabeziele unterstützen kann: Max ist 5; 0 Jahre alt und besucht eine Kindertagesstätte als Regeleinrichtung. Max ist körperlich und motorisch altersadäquat entwickelt. Er bewegt sich gern, ist manchmal noch etwas ungeschickt und wirkt in seinen Bewegungsausführungen oft etwas grob. Im Gruppenalltag wurde der Umgang mit Max immer schwieriger, da er sich nicht an Regeln hält und einen sehr hohen Bewegungsdrang zeigt. Weder im Stuhlkreis noch beim Essen kann er sitzenbleiben. Werden Aktionen angesagt, wie zum Beispiel, dass jetzt Zeit zum Aufräumen ist, da die Gruppe rausgehen möchte, lacht Max und läuft weg. Er versteckt sich und wird handgreiflich gegenüber den Erzieherinnen, wenn diese ihn holen wollen. In diesen Situationen kommt es vor, dass Max andere Kinder heftig körperlich attackiert, wenn ihm diese im Weg sind. Das Gruppengeschehen ist sehr belastet, die Erzieherinnen überlegen, die Anwesenheitszeit für Max zu verkürzen oder ihn sogar vom Kindergartenbesuch auszuschließen. Damit wäre die Teilhabe an der vorschulischen Bildung gefährdet. Die Eingliederungshilfe ist involviert. In einer gemeinsamen Gruppenbesprechung wird überlegt, wie Max geholfen werden kann. Eine Erzieherin, die auch psychomotorische Fachkraft ist, überlegt mit Max zu arbeiten. Angedacht ist ein Kleingruppensetting, zunächst mit nur zwei weiteren Kindern. Hier werden anregende und für Max motivierende Bewegungssituationen angeboten, die eine klare Struktur bieten. Die Themen der Stunden werden mit den Kindern gemeinsam besprochen und ihre Ideen berücksichtigt. Es gibt einen gemeinsamen, ritualisierten Anfang und Schluss, es wird gemeinsam auf und wieder abgebaut. Mit den Kindern werden Verhaltensregeln erarbeitet und auf einem Poster dargestellt, welches in jeder Stunde aufs Neue besprochen wird und stets für alle sichtbar aufgehängt ist. Bei Regelüberschreitung gibt es bespro- [ 65 ] Seebach-Dietze • Psychomotorik und ICF 2 | 2024 [ 65 ] Seebach-Dietze • Psychomotorik und ICF 2 | 2024 chene Konsequenzen, wie zum Beispiel eine kurze Auszeit auf einem bereitgestellten Stuhl. Die Dauer der Auszeit kann über eine spezielle Uhr (Time-Timer) vom Kind selbst beobachtet werden. Nach der Bewegungseinheit reflektieren alle gemeinsam über gelungene Situationen. Das Teilhabeziel für Max lautet: »Max hält sich in der Bewegungssituation mindestens dreimal aktiv an die besprochenen Regeln. Bei Überschreitung einer Regel hält er die besprochene Konsequenz aus und kommt anschließend wieder ins Spielgeschehen.« Für die psychomotorische Förderung bewilligt die Eingliederungshilfe eine Unterstützung für zunächst sechs Monate. Über das positive Lernsetting hat Max die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, die weniger stress- und ärgerbehaftet sind. Er kann positive Rückmeldungen von anderen Kindern und / oder der psychomotorischen Fachkraft bekommen. All diese Dinge erfährt Max in seinem Alltag kaum. Die psychomotorische Fachkraft begleitet anfangs intensiv, bleibt während der Auszeiten eng bei ihm, stets in einer angenehmen Atmosphäre. Wenn die Auszeit um ist, kann Max aufs Neue starten, ohne dass ihm seine Fehltritte noch vorgehalten werden. Langfristig hat Max die Chance, die positiven Erfahrungen in den Alltag zu übernehmen und seine »Erfahrungsbibliothek« zu erweitern, so dass ihm andere Reaktionen auf stressige Anforderungen zur Verfügung stehen als schlagen und wegrennen. Auch dieses Beispiel zeigt, wie eine psychomotorische Maßnahme ein teilhabebasiertes Förderziel aktiv unterstützen kann. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das psychomotorische Modell, wie es heute zur Anwendung kommt, sehr gut dazu geeignet sein kann, im Sinne der ICF Teilhabeziele in den Blick zu nehmen und diese aktiv zu unterstützen. Auch wenn die ICF-basierte Formulierung der Teilhabeziele zunächst gewöhnungsbedürftig sein dürfte, kann in der psychomotorischen Förderung sinnvoll ICF-basiert gearbeitet werden. Dies sollte für uns, die wir es gewohnt sind prozessorientiert zu arbeiten, keine echte Hürde darstellen. Literatur Bandura, A. (1994): Lernen am Modell. Klett-Cotta, Stuttgart Kiesel, A., Koch, I. (2012): Beobachtungslernen-- Lernen am Modell. In: Lernen. VS Verlag für Sozialwissenschaften, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531- 93455-6_7 Cott, A. (2014): Das Modell der Salutogenese von Aaron Antonovsky. Stellenwert und Nutzung für die Prävention und Rehabilitation, GRIN Verlag, München Edelman, G. M., Gally, J. (2013): Reentry: a key mechanism for integration of brain function. Frontiers in Integrative Neuroscience 7 (63), https: / / doi. org/ 10.3389/ fnint.2013.00063 World Health Organization (WHO) (2017): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen-- ICF-CY. 2. Aufl. Hogrefe, Göttingen Michaelis, R., Niemann, G. W., Berger, R., Wolff, M. (2017): Entwicklungsneurologie und Neuropädiatrie: Grundlagen, diagnostische Strategien, Entwicklungstherapien und Entwicklungsförderungen. 5. Ed. Thieme, Stuttgart Seebach-Dietze, N. (2023): ICF in der Psychomotorik. Förderziele ICF-basiert finden und formulieren. verlag modernes lernen, Dortmund Trabandt, S. Wagner, H.-J. (2020): Pädagogisches Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit. Barbara Budrich, Opladen, Berlin, Toronto, https: / / doi.org/ 10.36198/ 9783838553580 SGB IX (2016): Sozialgesetzbuch Neuntes Buch- - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. In: https: / / www.gesetze-im-internet. de/ sgb_9_2018/ , 19.11.2023 Die Autorin Nicole Seebach-Dietze Physiotherapeutin, MSc Physiotherapie, Dozentin für Physiotherapie, Psychomotorikerin, Entwicklungsbegleiterin und Lehrqualifikation Psychomotorik dakp, langjährige physiotherapeutische und psychomotorische Arbeit mit Kindern in einem SPZ und einer integrativen Kindertagesstätte Anschrift Nicole Seebach-Dietze Birkenstraße 4 67368 Westheim nicole.seebach@gmail.com
