eJournals motorik 47/2

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2024.art11d
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2024
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Forum Psychomotorik: Die ICF im Kontext der Psychomotorik - eine mehrperspektivische Betrachtung

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2024
Britta Dawal
Stefanie Kuhlenkamp
Der Beitrag gibt einen Überblick über die Grundidee und das Konzept der ICF. Im Mittelpunkt der ICF steht ein bio-psycho-soziales und teilhabeorientiertes Behinderungsverständnis. In diesem Sinne gilt Teilhabe unter anderem als Ziel von Förderprozessen. Hieraus lassen sich für die psychomotorische Praxis Impulse für die Diagnostik, Bedarfsermittlung und Förderung ableiten, die anhand eines Fallbeispiels illustriert werden.
7_047_2024_2_0004
Zusammenfassung / Abstract Der Beitrag gibt einen Überblick über die Grundidee und das Konzept der ICF. Im Mittelpunkt der ICF steht ein bio-psycho-soziales und teilhabeorientiertes Behinderungsverständnis. In diesem Sinne gilt Teilhabe unter anderem als Ziel von Förderprozessen. Hieraus lassen sich für die psychomotorische Praxis Impulse für die Diagnostik, Bedarfsermittlung und Förderung ableiten, die anhand eines Fallbeispiels illustriert werden. Schlüsselbegriffe: ICF, Teilhabeorientierung, Partizipation, individuelle Förderplanung, Diagnostik, Psychomotorik The ICF in the context of psychomotricity-- a multi-perspective view The article gives an overview of the basic idea and the concept of the ICF. The ICF focuses on a bio-psycho-social and participation-oriented understanding of disability. In this sense, participation among other things is the goal of supporting processes. From this, impulses for diagnosis, assessment and support can be derived for psychomotor practice, which are illustrated by means of a case study. Keywords: ICF, participation orientation, participation, individual education plan, diagnostics, psychomotricity [ 66 ] 2 | 2024 motorik, 47. Jg., 66-74, DOI 10.2378 / mot2024.art11d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Die ICF im Kontext der Psychomotorik-- eine mehrperspektivische Betrachtung Britta Dawal, Stefanie Kuhlenkamp Die Einführung der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (engl. International Classification of Functioning, Disabilities and Health) (ICF) durch die WHO im Jahr 2001 (deutschsprachig 2005), hat zu einem Paradigmenwechsel von einem medizinisch-fürsorglichen hin zu einem bio-psycho-sozialen und teilhabeorientierten Behinderungsverständnis geführt. Ihre Einführung wirkt sich daher besonders stark in Handlungsfeldern der Behindertenbzw. Eingliederungshilfe aus. In der psychomotorischen Praxis zeigt sich dies vor allem dort, wo Psychomotorik im Kontext der Eingliederungshilfe z. B. in der Frühförderung verortet ist. Hier fordern die Kostenträger eine ICF-orientierte Diagnostik, Berichterstellung und Hilfeplanung. Gleiches gilt für die Beantragung von Eingliederungshilfen in Kindertageseinrichtungen- - auch hier wird ein ICF-basierter Teilhabe- und Förderplan im Zuge der Leistungsbeantragung erwartet. Die ICF ist aber prinzipiell auf alle Menschen, also nicht nur auf Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, anwendbar und liefert wichtige Impulse für die psychomotorische Praxis. Ziel dieses Artikels ist es daher, aus verschiedenen ausgewählten Perspektiven die Relevanz der ICF und des biopsycho-sozialen Verständnisses für psychomotorische Arbeitsweisen und Tätigkeitsfelder zu beleuchten sowie Impulse für die eigene psychomotorische Praxis zu geben. Grundidee und Konzeption der ICF Die ICF kann in die Familie der internationalen gesundheitsrelevanten Klassifikationen in den Bereich der Referenz-Klassifikationen ergänzend zu der ICD (Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) und der ICHI (die in Entwicklung befindliche Internationale Klassifikation der Gesundheitsinterventionen) eingeordnet werden (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2023). Sie ist als Mehrzweckklassifikation für verschiedene Disziplinen und Anwendungsbereiche ent- [ 67 ] Dawal, Kuhlenkamp • Die ICF im Kontext der Psychomotorik 2 | 2024 wickelt worden (WHO 2005, 11). Der ICF gingen ein mehrjähriger Entwicklungsprozess und eine Vorläuferversion in zwei Fassungen voraus (ausführlich Biewer 2017, 65; Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2022). Aktuell liegt die ICF noch in einer Version für Erwachsene und für Kinder (ICF-CY) vor, diese sollen jedoch zusammengeführt werden. Die Komponenten der ICF dienen als Organisationsrahmen zur Erhebung, Strukturierung und Analyse (vor allem bezüglich der wechselseitigen Auswirkung) von Informationen über einen Menschen, um die Situationen in Bezug auf die Funktionsfähigkeit (funktionale Gesundheit, s. u.) oder die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit (Behinderung) zu beschreiben (WHO 2005, 13). Referenzpunkt für die Einschätzung der Lebenssituation ist immer eine Person ohne Gesundheitsproblem oder Behinderung der entsprechenden Kultur oder Gesellschaft. Diese Ergänzung ist vor allem für den Bereich der Partizipation [Teilhabe] wichtig, da dieser häufig durch kulturell oder sozialisationsgeprägte Interessen und Bedürfnisse bestimmt wird. Der ICF liegt das Konzept der funktionalen Gesundheit zu Grunde, das den gesamten Lebenshintergrund einer Person einbezieht. Eine Person gilt daher im Sinne der ICF als funktional gesund, wenn 1. »ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) und Körperstrukturen allgemein anerkannten Normen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen), 2. sie nach Art und Umfang das tut oder tun kann, wie es von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem (ICD) erwartet wird (Konzept der Aktivitäten), 3. sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Art und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Schädigungen der Körperfunktionen / -strukturen und Aktivitätseinschränkungen erwartet wird (Konzept der Teilhabe)« (Schuntermann 2002). Dabei sind persönliche Ressourcen und die der Umwelt zu berücksichtigen. Mehrperspektivischer Zugang zu Funktionsfähigkeit und Behinderung: die bio-psycho-soziale Sichtweise Die ICF steht auch für einen Paradigmenwechsel bei rehabilitativen Prozessen (WHO 2005): von der ausgrenzenden Fürsorge hin zu einer möglichst uneingeschränkten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (Rohrmann 2005). Aus der therapeutischen / versorgungswissenschaftlichen Perspektive geht es dabei darum, Partizipation als Endpunkt, d. h. Ziel einer Versorgung bzw. Förderung und Therapie zu begreifen (Urschitz et al. 2016). Es geht weniger um die Feststellung und Klärung bzw. Korrektur (»Normalisierung«) auf Ebene der Ursachen / Ätiologie bzw. Entstehung / Pathogenese als vielmehr um die vorhandenen oder beeinträchtigten Aktivitätsmöglichkeiten bzw. die soziale Teilhabe oder deren Beeinträchtigung (Abb. 1). Das entspricht auch dem Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), welche auf der ICF basiert und Behinderung als Teilhabeeinschränkung darstellt. Folglich wird Behinderung auch im SGB IX § 2 Abs. 1 nicht mehr als Eigenschaft und Defizit einer Person betrachtet, sondern als gesundheitliche Beeinträchtigung im Zusammenspiel mit Kontextfaktoren sowie den Interessen und Wünschen des betroffenen Menschen. Behinderung wird hier als mehrdimensionales Phänomen verstanden, welches weniger die Person als vielmehr die Situation, in der sich eine Person befindet, beschreibt. Behinderung ist folglich situationsabhängig (Hollenweger 2015). Das Vorhandensein einer Krankheit oder einer Schädigung bzw. Funktionsbeeinträchtigung an sich stellt demzufolge keine Behinderung dar. Behinderungen entstehen erst in negativer Wechselwirkung mit anderen Komponenten-- personbezogenen und umweltbezogenen Faktoren-- die sich als gesamter Kontext auf die Aktivität und Partizipation [Teilhabe] einer Person auswirken und somit in einer Teilhabeeinschränkung münden könnten. Auf der Basis der dargestellten Grundlagen, wird im Folgenden aus verschiedenen Perspektiven die Relevanz der ICF und des bio-psychosozialen Gesundheitsverständnisses für die psychomotorische Arbeit skizziert. [ 68 ] 2 | 2024 Forum Psychomotorik Erfassen der kindlichen und familiären Lebenssituation anhand der Komponenten der ICF Ausgangsproblem der ICF ist immer eine Gesundheitsstörung oder eine Krankheit (Gesundheitsproblem). Ein Gesundheitsproblem, verstanden als eine Einschränkung in den Aspekten des Lebens und der individuellen Lebensführung, wird dabei durch die oben beschriebenen Komponenten beeinflusst, die in Wechselwirkung zueinanderstehen (Abb. 1). Die Informationen, die mit der ICF systematisiert werden sollen, lassen sich in zwei große Teile gliedern: ■ Teil 1: Funktionsfähigkeit und Behinderung mit den Komponenten Körperfunktionen und Körperstrukturen sowie Aktivität und Partizipation [Teilhabe]. ■ Teil 2: Kontextfaktoren mit den Komponenten Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren Die einzelnen Komponenten werden wie folgt definiert: ■ Körperfunktionen (»die physiologischen Funktionen von Körpersystemen einschließlich psychologische Funktionen« (WHO 2005, 17)) ■ Körperstrukturen (»anatomische Teile des Körpers, wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile« (WHO 2005, 17)) ■ Aktivität (»eine Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung (Aktion) durch einen Menschen« (WHO 2005, 19)) ■ Partizipation [Teilhabe] (»das Einbezogensein in eine Lebenssituation« (WHO 2005, 19)) ■ Personbezogene Faktoren (»speziell Hintergrund des Lebens und der Lebensführung eines Menschen und umfassen Gegebenheiten des Menschen, die nicht Teil des Gesundheitsproblems oder -zustands sind. Diese Faktoren können Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, andere Gesundheitsprobleme, Fitness, Lebensstil, Gewohnheiten, Erziehung, Bewältigungsstile, sozialer Hintergrund, Bildung und Ausbildung, Beruf sowie vergangene und gegenwärtige Erfahrungen (vergangene oder gegenwärtige Ereignisse), allgemeine Verhaltensmuster und Charakter, individuelles psychisches Leistungsvermögen und andere Merkmale umfassen« (WHO 2005, 22)) ■ Umweltfaktoren (»die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen leben und ihr Leben gestalten. Diese Faktoren liegen außerhalb des Individuums« (WHO 2005, 21)) Dabei kann jede Komponente mit positiven oder negativen Begriffen erfasst werden, um alle Aspekte, die sich auf den Gesundheitszustand auswirken können, zu erfassen. Die Komponenten lassen sich zudem in Domänen, bestehend aus verschiedenen Konstrukten, eintei- Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit) personbezogene Faktoren Umweltfaktoren Aktivitäten Körperfunktionen und -strukturen Partizipation [Teilhabe] Abb. 1: Wechselwirkungsmodell der ICF (WHO 2005, 21) [ 69 ] Dawal • Die ICF im Kontext der Psychomotorik 2 | 2024 [ 69 ] Dawal, Kuhlenkamp • Die ICF im Kontext der Psychomotorik 2 | 2024 len. Eine Möglichkeit der ICF besteht also darin, alle Aspekte um den Gesundheitszustand zu erfassen und zu kodieren (Hollenweger / Kraus de Camargo 2019, 42). Einen Überblick über die ICF und ihre Struktur bietet Tabelle 1. Kodierung Die ICF soll eine gemeinsame, international verständliche Sprache ermöglichen. Um dieses Ziel zu erreichen, besteht die ICF aus mehr als 1.700 alphanumerischen Codes. Diese ermöglichen ein einheitliches Bewertungs- und Beurteilungssystem, das verschiedene Klassifikationsebenen umfasst. Aufbau und Kritik am praktischen Nutzen des Kodiersystems werden hier nicht weiter vertieft, jedoch im nachfolgenden Beispiel exemplarisch integriert. Fallbeispiel Kind mit FASD in der psychomotorischen Förderung Als veranschaulichendes und stark vereinfachtes Beispiel für die Erläuterung und die Wechselwirkung der verschiedenen Komponenten kann Tab. 1: Überblick über die ICF (Hollenweger / Kraus de Camargo 2019, 43) Teil 1: Funktionsfähigkeit und Behinderung Teil 2: Kontextfaktoren Komponenten Körperfunktionen und Strukturen Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe] Umweltfaktoren personbezogene Faktoren Domänen Körperfunktionen, Körperstrukturen Lebensbereiche (Ausgaben, Handlungen) äußere Einflüsse auf Funktionsfähigkeit und Behinderung innere Einflüsse auf Funktionsfähigkeit und Behinderung Konstrukte Veränderung in Körperfunktionen (physiologisch), Veränderung in Körperstrukturen (anatomisch) Leistungsfähigkeit (Durchführung von Aufgaben in einer standardisierten Umwelt), Leistung (Durchführung von Aufgaben in der gegenwärtigen, tatsächlichen Umwelt) fördernde oder beeinträchtigende Einflüsse von Merkmalen der materiellen, sozialen und einstellungsbezogenen Welt Einflüsse von Merkmalen der Person Positiver Aspekt funktionale und strukturelle Integrität Aktivitäten Partizipation [Teilhabe] positiv wirkende Faktoren nicht anwendbar Funktionsfähigkeit Negativer Aspekt Schädigung Beeinträchtigung der Aktivität, Beeinträchtigung der Partizipation [Teilhabe] negativ wirkende Faktoren (Barrieren, Hindernisse) nicht anwendbar Behinderung [ 70 ] 2 | 2024 Forum Psychomotorik eine Sequenz aus einer psychomotorischen Förderung eines Kindes mit einer Fetalen-Alkohol- Spektrumstörung (FASD) dienen. Die psychomotorische Fachkraft beobachtet, dass dieses Kind die Routine des Jacke Ausziehens und Weghängens in der Umkleidesituation vor der psychomotorischen Förderung trotz mehrfacher Übung und Wiederholung nicht behalten und selbstständig erledigen kann. Wie ist dieses Verhalten einzuordnen und zu bewerten? Welche Unterstützung benötigt das Kind? Die strukturierte Sammlung der gesundheitsbezogenen Informationen kann zur Klärung dieser Fragen beitragen. Um die ICF-Kodierung zu veranschaulichen, werden nachstehend beispielhaft Kodierungen (überwiegend auf zweiter Klassifikationsebene) in Klammern angegeben. Die Kodierung erfolgt in diesem Fallbeispiel sehr grob. Die Einschätzung müsste in der Praxis weiter ausdifferenziert werden, z. B. hinsichtlich des Ausmaßes. Im Hinblick auf die Komponente Körperstruktur liegt bei Kindern mit FASD eine Schädigung des Gehirns vor (s110 Struktur des Gehirns). Diese schränkt die Körperfunktionen im Bereich der mentalen Funktionen, wie z. B. die Orientierung (b114), das Organisieren und Planen betreffender Funktionen (b1641) oder das Selbstvertrauen (b1266) ein. Ein Kind mit FASD hat also eine strukturelle Schädigung, die bestimmte kognitive Funktionen beeinflusst. Dies ist eine wichtige Information für das Verständnis des Verhaltens und des Lernprozesses des Kindes. Das Kind kann, aufgrund der geschädigten Struktur des Gehirns, die geforderte Routine des Jacke Ausziehens und Weghängens (b1641) nicht behalten und erlernen. Hier liegt also keine »Unlust« beim Kind vor (das wäre die Ebene der Aktivität und Partizipation [Teilhabe], d2501 Reaktion auf Anforderungen). Daher kann das Kind die Aktivität »die tägliche Routine abschließen (d2302)« nicht ausführen. Es benötigt daher z. B. dauerhaft eine visuelle Unterstützung der Routine durch Piktogramme und häufig auch die Begleitung und Strukturierung durch eine weitere Person. Im Kontext der Umweltfaktoren kann in diesem Beispiel im Bereich »individuelle Einstellung von Autoritätspersonen (e430)« die psychomotorische Fachkraft betrachtet werden. Erwartet die Fachkraft von dem Kind, dass es »alt genug sei, sich ohne Hilfe die Jacke und Schuhe auskleiden zu können, da dies ja schließlich mehrmals geübt wurde und die Abläufe klar sein müssten«, so würde das Kind in seiner gewünschten Partizipation [Teilhabe] »sich umziehen zu können, um am psychomotorischen Angebot teilnehmen zu können« eingeschränkt und »behindert«. Dem Kind würden dann dauerhaft notwendige Unterstützungsprozesse (visuell oder personell) nicht gewährt. Ein positives Beispiel im Bereich der Umweltfaktoren könnte sein, dass es in der Nähe des Wohnsitzes der Familie einen Psychomotorikverein gibt, der psychomotorische Förderung für alle Kinder anbietet und sich auf die Bedürfnisse des Kindes mit FASD einstellt (e555 Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze von Vereinigungen und Organisationen). Dadurch würde dem Kind und seiner Familie die Partizipation [Teilhabe] an einem Bewegungsangebot in der Freizeit (d920 Erholung und Freizeit) ermöglicht. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass erst durch die Wechselwirkung z. B. mit fördernden oder hemmenden Umweltfaktoren eine Teilhabeeinschränkung und damit eine »Behinderung« entsteht. Wechselwirkungen können auf der Umweltebene durch materielle, soziale und einstellungsbezogene Faktoren (z. B. Einstellung der psychomotorischen Fachkräfte) bestehen. Wechselwirkungen können aber auch mit den personbezogenen Eigenschaften, wie dem Charakter oder den Interessen des Kindes, zusammenhängen. Relevanz der ICF für die psychomotorische Praxis Die ICF wirkt sich aktuell vor allem auf die psychomotorische Praxis aus, die im Rahmen der Eingliederungshilfe (SGB IX) sowie der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) finanziert wird. So ICF-basiertes Fallbeispiel eines Kindes mit FASD in der psychomotorischen Förderung [ 71 ] Dawal • Die ICF im Kontext der Psychomotorik 2 | 2024 [ 71 ] Dawal, Kuhlenkamp • Die ICF im Kontext der Psychomotorik 2 | 2024 wird im SGB IX vorgegeben, dass sich die Instrumente der Bedarfsermittlung an der ICF zu orientieren haben (§ 118). In NRW wurde das Antragswesen u. a. für Eingliederungshilfeleistung ICF-basiert umgestellt und Formulare entsprechend angepasst. Wichtig ist, dass hiermit ein Perspektivwechsel einhergeht- - die Kinder und ihre Bezugspersonen sind mit einzubeziehen. Ihre Perspektive ist in der Betrachtung der Komponenten der ICF wesentlich, aber gerade auch auf der Ebene Ziele der Teilhabeplanung (s. u.) ist die Beteiligung und Entscheidungsfindung zu berücksichtigen! Diagnostik und Förderplanung ICF-orientiert gestalten Für diagnostische Prozesse im psychomotorischen Kontext bietet die ICF ein mehrdimensionales Gerüst und eine Systematisierungsmöglichkeit. Diagnostik wird hier als Beschreibung und Analyse der Lebenssituation des Kindes verstanden, als notwendige Ausgangslage für die Förderung / pädagogische Alltagsgestaltung, um das Kind und seine Lebenssituation durch und durch zu erfassen und zu verstehen, ohne damit eine reduzierte diagnostische Zuschreibung / Etikettierung auf Ebene medizinischer Klassifikationssysteme (ICD / DSM) zu meinen. Von einer ICF-basierten Beschreibung des Gesundheitszustandes lässt sich also nicht auf eine ICD-10 / 11-Diagnose schließen (Bernasconi 2022, 734). Wie bereits in der oben genannten Beschreibung der Komponenten erläutert, müssen Informationen aus allen vier Komponenten erhoben werden und dabei die Wechselwirkung dieser Komponenten für eine Förderplanung berücksichtigt werden. Es bietet sich an, in diagnostischen Dokumentationsprozessen mit dem genauen Wortlaut der ICF zu arbeiten, um einerseits eine disziplinen- und institutionenübergreifende Verständigung zu ermöglichen (s. u.) und andererseits Erkenntnisse zur Situation des Kindes und seiner familiären Lebensbedingung gut aufeinander beziehen zu können. Dabei scheint in der gegenwärtigen Praxis nicht unbedingt eine alphanumerische Kodierung und damit verbundene Bewertung notwendig, jedoch eine inhaltlich korrekte Zuordnung von Erkenntnissen in die Komponenten und Domänen zielführend. Lebensbereiche im Kontext Bedarfsermittlungsinstrumente, Förder- und Behandlungsplanung Die Komponente der Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe] ist der Kern und eine Besonderheit der ICF: Sie bezieht sich auf insgesamt neun Lebensbereiche (life domains), die auch im SGB IX aufgegriffen werden. Diese Komponente ist für die psychomotorische Förderung sehr relevant und wird auch meist durch die psychomotorischen Fachkräfte erhoben und eingeschätzt. Körperfunktionen und -strukturen werden hingegen häufig von medizinisch-therapeutischen Fachdisziplinen eingeschätzt. Den neun Lebensbereichen (WHO 2005) sind jeweils Fragen angefügt, die für ein besseres Begreifen und Erfassen dienlich sein können (siehe Tab. 2). Teilhabe als Ziel/ Outcome von Förderprozessen Aus der therapeutischen / versorgungswissenschaftlichen Perspektive geht es darum, Partizipation als Endpunkt, d. h. als Ziel einer Versorgung bzw. Förderung und Therapie zu begreifen (Urschitz et al. 2016). Partizipation hat für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, z. B. auf der Ebene der Kompetenzerfahrung (u. a. skills), im sozialen Erfahrungsbereich (u. a. Beziehungserfahrung) und in sozial-emotionalen Entwicklungsbereichen (u. a. Selbstwirksamkeit, Selbstkonzept) (Powrie et al. 2015) eine große Bedeutung. Aktuelle Studien fokussieren den noch spärlichen Wissensstand in Bezug auf den Zusammenhang von Partizipation und psychischer Gesundheit (Hwang et al. 2020). Im deutschen Sprachraum existieren auch nur wenige Die neun Lebensbereiche sind von hoher Relevanz. [ 72 ] 2 | 2024 Forum Psychomotorik Messinstrumente zur Evaluation von Partizipation (Gebhard et al. 2019; Krieger et al. 2020). Praktisch übertragen auf das obige Fallbeispiel bedeutet dies: es geht nicht um eine Behandlung von einer Störung »Das Organisieren und Planen betreffender Funktionen (b1641)« (Korrektur »Normalisierung« auf Ebene der Körperfunktionen und Strukturen), sondern um das Ausgeschlossen sein von einer Gruppenaktivität (vorhandene oder beeinträchtigte Aktivitätsmöglichkeiten bzw. die soziale Teilhabe oder deren Beeinträchtigung), weil sich das Kind nicht rechtzeitig selbständig umziehen kann. Diese Beeinträchtigung der Teilhabe kann über Veränderungen der Kontextfaktoren (s. o. Piktogramme) beeinflusst werden. Zahlreiche Publikationen thematisieren die Möglichkeit des Bestimmens und Formulierens von (smarten) Förderzielen (u. a. Pretis 2020; Seidel / Schneider 2020), siehe Beitrag Völlm in diesem Heft). Haltung der Fachkräfte-- Zusammenarbeit mit Kind und Eltern Über Partizipation als Outcome hinaus, wird in der Philosophie der ICF die Beteiligung an Entscheidungen als äußerst relevant erachtet. So wird von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR 2016, 11) als elementares Handlungsprinzip gefordert, »den betroffenen Menschen als aktiven, gleichberechtigten und für sich Eigenverantwortung tragenden Tab. 2: Erläuterung der neun Lebensbereiche Lebensbereich in der Komponente Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe] Zentrale Fragen 1. Lernen und Wissensanwendung Wie gelingt es dem Kind, sich Wissen anzueignen? Wie erkundet es seine Umwelt? Wie und worauf kann es sich gut konzentrieren? 2. Allgemeine Aufgaben und Anforderungen Wie reagiert das Kind auf Aufgabenstellungen? Mit welchem Ergebnis erledigt es eine Aufgabe? Was hat die Erledigung der Aufgabe beeinflusst? Kann das Kind alltäglichen Anforderungen nachkommen? 3. Kommunikation Versteht das Kind gesprochene und / oder nonverbale Sprache? Wie macht sich das Kind selbst verständlich? Wie drückt es Anliegen, Wünsche, Bedürfnisse aus? Wird das Kind von anderen verstanden? 4. Mobilität Kann das Kind verschiedene Körperpositionen einnehmen? Wie bewegt es sich fort? Benötigt es zur Fortbewegung Hilfsmittel? Wie ist die Ausdauer und Belastbarkeit? 5. Selbstversorgung Kann sich das Kind selbstständig an- und auskleiden? Kann es selbstständig essen und trinken? Kann das Kind für seine eigene Gesundheit sorgen, z. B. sagen, dass es müde ist? 6. Häusliches Leben Kann das Kind anderen Haushaltsmitgliedern helfen z. B. bei der Fortbewegung oder Kommunikation? Kann es die Aufmerksamkeit auf das Wohlergehen anderer Haushaltsmitglieder lenken? 7. Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen Welche Beziehungen geht das Kind ein? Wie tritt es in Kontakt mit anderen Kindern? 8. Bedeutende Lebensbereiche Besucht das Kind eine Kita? Erhält es Frühförderung? 9. Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben Welche Hobbys hat das Kind? Ist das Kind Mitglied in einem Verein? Ist es Mitglied einer Religionsgemeinschaft? [ 73 ] Dawal • Die ICF im Kontext der Psychomotorik 2 | 2024 [ 73 ] Dawal, Kuhlenkamp • Die ICF im Kontext der Psychomotorik 2 | 2024 Partner an[zu]sehen«. In der ICF wird im Bereich der ethischen Leitlinien beschrieben, dass die ICF immer so eingesetzt werden sollte, dass unter Mitwirken der betroffenen Person ihre Wahl- und Steuerungsmöglichkeiten bzgl. ihres Lebens erhöht werden. Hiermit geht ein Perspektivwechsel einher, der in Abbildung 2 skizziert wird. Dieser Perspektivwechsel ist gekennzeichnet von einer Strategieveränderung, weg von einer kurativen, ursachenorientierten hin zu einer bio-psycho-sozialen Strategie, in der die Kontextfaktoren optimiert werden sollen. Die Rolle der Fachkräfte ist dabei weniger dominierend als vielmehr mehr begleitend / beratend. Hierdurch wird ein hohes Maß von Teilhabe an Entscheidungsprozessen der Familie und dem Kind zugesprochen- - weg von einer Situation, in der Förderziele für das Kind / die Familie festgelegt wurden, hin zu einer Haltung, das Kind und die Familie darin zu unterstützen, ihre Ziele selbst zu benennen, aktiv und eigenverantwortlich entscheidend zu handeln. D. h. es geht weg von einem defizitorientierten Top-Down-Ansatz hin zu einem familienorientierten Arbeiten. Dabei geht es klar darum, die Präferenzen des Kindes, seine Wünsche und Ziele in den Vordergrund der Förderung zu stellen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit gestalten-- gemeinsame Sprache finden und nutzen Die ICF soll als gemeinsame und verständliche Sprache für Fachkräfte und Betroffene dienen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass verschiedene Professionen in den Sozial- und Gesundheitsbereichen miteinander und vor allem für die gleiche Familie / das gleiche Kind arbeiten. Sie werden »damit zu einem Team um diese Person herum« (Snyman et al. 2020, 83). Diese interdisziplinäre und institutionsübergreifende Zusammenarbeit bedarf einer gemeinsamen Sprache und Haltung, dem Kommunizieren über die teilweise verschiedenen Aufträge (Bildung, Erziehungsberatung, psychomotorische Förderung), die aber dennoch die gleiche Familie und das gleiche Kind betreffen, die über die ICF erreicht werden kann (Snyman et al. 2020, 83). Fazit Bei einigen Ausführungen in diesem Fachbeitrag werden Sie sich vielleicht gedacht haben: Aha- - ist das denn alles so neu? Machen wir das nicht seit vielen Jahren in unserer Praxis so? Z. B. eine systemische Perspektive einnehmen, das Kind in seinen lebensweltlichen Bezügen zu versuchen zu verstehen. Ja, das stimmt! Eine Orientierung an der ICF muss nicht zwingend eine Neuerung sein. Jedoch tritt mit dieser eine Verbindlichkeit und eine gemeinsame, disziplinenübergreifende Haltung zu Tage, die es vereinfachen soll, gemeinsam mit den Kindern und ihren Familien Förder- und Unterstützungsmaßnahmen zu finden, die für diese bedeutsam sind, in ihrer Lebenswelt relevant und von verschiedenen Systemen und Institutionen um das Kind und seine Familie herum gemeinsam fokussiert werden. Durch die gemeinsame Sprache aller am Förderprozess beteiligten Fachkräfte erhöht sich zum einen die Anschlussfähigkeit der in der psychomotorischen Förderung gewonnenen Erkenntnisse an die Erkenntnisse anderer Strategie heilend/ ursachenorientiert Fachkraft dominierend/ verantwortlich Familie passiv/ ausdauernd optimierend/ bio-psycho-sozial Beratung/ Begleitung aktiv/ verantwortlich Abb. 2: Perspektivwechsel Haltung der Fachperson gegenüber Familie / Kind (in Anlehnung an Snyman et al. 2020, 89) [ 74 ] 2 | 2024 Forum Psychomotorik Disziplinen. Zum anderen können die Erkenntnisse anderer Disziplinen von der psychomotorischen Fachkraft systematisch eingeordnet werden, sodass sich ein umfassendes Bild vom Kind, seiner Lebenssituation und seinen Teilhabebedürfnissen ergibt. Literatur Bernasconi, T. (2022): ICF-orientierte Förderplanung. In: Gebhardt, M., Scheer, D., Schurig, M. (Hrsg.): Handbuch der sonderpädagogischen Diagnostik. Grundlagen und Konzepte der Statusdiagnostik, Prozessdiagnostik und Förderplanung. Version 1.0. Universität Regensburg, 733-747, https: / / doi. org/ 10.5283/ epub.53149 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) (2023): Klassifikationsfamilie der WHO. In: www.bfarm.de/ DE/ Kodiersysteme/ Klassifikationen/ ICD/ ICD-10-WHO/ Historie/ klassifikationsfamilie.html, 01.01.2024 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (2022): Entstehung der englischsprachigen ICF der WHO. In: www.dimdi.de/ dynamic/ de/ klassifikationen/ icf/ historie, 01.01.2024 Gebhard, B., Fink, A., DeBock, F., Spreer, M. (2019): Messinstrumente zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Frühförderung interdisziplinär 38 (4), 218-222, https: / / doi.org/ 10.2378/ fi2019.art28d Hollenweger, J., Kraus de Camargo, O. A. (Hrsg.) (2019): ICF-CY. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. 2. 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