motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2024.art15d
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Insight - Erfahrungen aus der Praxis: Die ICF in der motopädischen Praxis
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Nora Jaffan
Der Startschuss, mich als Motopädin selbstständig zu machen, fiel früh. Zunächst mobil, seit 2009 auch in eigenen Praxis-Räumlichkeiten, fördere, begleite und berate ich Kinder und Jugendliche und deren Familien. Die Vorstellungsgründe sind sehr vielfältig, die Fragestellungen unterschiedlich. Von Anfang an war mir das interdisziplinäre Arbeiten enorm wichtig. Gemeinsam mit den Menschen, die an der Entwicklung des Kindes bzw. des/der Jugendlichen beteiligt sind, konnten Förder- und Therapieinhalte besser abgestimmt und Förder- und Entwicklungsziele effektiver erreicht werden.
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[ 88 ] 2 | 2024 Insight-- Erfahrungen aus der Praxis [ InsIght-- ErfahrungEn aus dEr PraxIs ] Die ICF in der motopädischen Praxis nora Jaffan Mein Setting Der Startschuss, mich als Motopädin selbstständig zu machen, fiel früh. Zunächst mobil, seit 2009 auch in eigenen Praxis-Räumlichkeiten, fördere, begleite und berate ich Kinder und Jugendliche und deren Familien. Die Vorstellungsgründe sind sehr vielfältig, die Fragestellungen unterschiedlich. Von Anfang an war mir das interdisziplinäre Arbeiten enorm wichtig. Gemeinsam mit den Menschen, die an der Entwicklung des Kindes bzw. des / der Jugendlichen beteiligt sind, konnten Förder- und Therapieinhalte besser abgestimmt und Förder- und Entwicklungsziele effektiver erreicht werden. 2019 habe ich die Entscheidung getroffen, mich räumlich zu vergrößern, ein Team zu engagieren und so mehr Kindern, Jugendlichen und deren Familien helfen zu können. Derzeit sind wir zehn Therapeutinnen, darunter acht Motopädinnen, eine Heilpädagogin und eine Diplompädagogin jeweils mit dem Schwerpunkt Psychomotorik. Seit 2021 sind wir anerkannte Frühförderstelle. Wöchentlich begrüßen wir über 120 Kinder und Jugendliche zur Förderung und Therapie. Die Arbeit mit der ICF-CY habe ich erstmals während meines Studiums »Interdisziplinäre Physiotherapie, Motologie und Ergotherapie« 2015 in Emden kennengelernt. Die ICF-CY erschien mir für die Arbeit nur bedingt hilfreich, weil ich die psychomotorischen, motopädischen und motologischen Fachbegriffe nicht finden konnte; mit Hilfe der ICF-CY konnte ich mich zunächst nicht ausdrücken. Nach und nach habe ich das Konzept und die Handhabung verstanden und mittlerweile bin ich so geübt, dass ich die ICF-CY als eine Bereicherung und Erleichterung für die Arbeit empfinde. Die Idee, nicht nur auf die Störungen und Krankheiten zu schauen, sondern auf die Möglichkeiten des Menschen (gesellschaftliche Teilhabe, Handlungskompetenz) mit einer Störung und Krankheit, gefiel mir sehr und entspricht auch dem psychomotorischen, motopädischen und motologischen Menschenbild. Des Weiteren ist die in der ICF-CY verwendete (Fach-)Sprache einheitlich und verständlicher. Durch meine jahrelange Arbeit in der Praxis hatte ich die Möglichkeit, viele Berichte anderer Institutionen und TherapeutInnen lesen zu können. Trotz meines Vorwissens musste ich immer wieder Begrifflichkeiten nachschauen und mir ein eigenes Bild der Fähigkeiten aufgrund der Störung und Krankheit ableiten. Seit der Verwendung der ICF-CY ist die Nutzung der Informationen anderer und die Weitergabe meiner Beobachtungen und Informationen meines Erachtens deutlich erleichtert. Mein Berufsalltag Unser Arbeitsalltag ist sehr bunt. Wir arbeiten mit Menschen unterschiedlicher Altersgruppen: Säuglinge, Kleinkinder, Schulkinder, Jugendliche und teilweise auch junge Erwachsene. Unsere Ansprache, der Materialeinsatz, die Raumwahl und die Bewegungs-, Spiel- und Förderideen sind den Interessen, den Stärken, den Bedürfnissen und dem Entwicklungsstand angepasst. Die Diagnosen unserer KlientInnen reichen von leichten Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Lernproblemen über Anpassungs-, Impulsregulations- oder Angststörungen bis hin zu tiefgreifenden Entwicklungsstörungen mit großen Teilhabeeinschränkungen. Die Nutzung der ICF-CY begleitet uns über den gesamten Verlauf. Erhalten wir im Vorhinein einen Bericht des kinderneurologischen oder sozialpädiatrischen Zentrums, findet sich die ICF-CY-Kodierung darin wieder. Nachdem wir einen Erstkontakt (Anamnesegespräch, Spiel- und Bewegungsbeobachtung) durchgeführt haben, formulieren wir einen ICF-CY-basierten Bericht. Bei Kindergartenkindern dient der Bericht als Grundlage für die Antragsstellung, in unserem Fall beim LVR. Ergebnisse von standardisierten Testverfahren sowie motoskopischen Entwicklungsscreenings, Förder- und Behandlungspläne, Verlaufsdokumentationen und Berichte werden ICF-CY- [ 89 ] Spreer • Aktuelles Stichwort: Partizipation / Teilhabe 2 | 2024 [ 89 ] Insight-- Erfahrungen aus der Praxis 2 | 2024 unterstützt formuliert. Dadurch, dass die ICF-CY an jeder Stelle des Förder- und Therapieverlaufs (Beobachtung, Beschreibung, Zielformulierung, Planung, Durchführung, Reflexion) eine Rolle spielt, sind alle Aussagen leicht vergleichbar. Auch zu Evaluationszwecken nutzen wir intern die Kodierung. Der Austausch mit anderen Fachgruppen ist barrierefreier: Trotz unterschiedlicher Ausbildung, unterschiedlichem Fachwissen, ist durch den Einsatz der ICF-CY der Dialog verständlicher. Mittlerweile sind die Kindertageseinrichtungen angehalten, ihre Förder- und Teilhabepläne mit Hilfe der ICF-CY zu schreiben, was die runden Tische (Absprachen zwischen Familienmitgliedern, pädagogischem und therapeutischem Fachpersonal) und Hilfeplangespräche positiv beeinflusst. Nicht zuletzt erleichtert der ICF- CY-Einsatz das elterliche Verständnis für die Ressourcen und Barrieren ihrer Kinder und Jugendlichen und die Compliance (Mitmachbereitschaft) der Kinder und Jugendlichen selbst. Mittlerweile werden wir auch von Trägern der Erwachsenenbildung angefragt, ob wir die ICF-CY den Mitarbeitenden näherbringen können; wir werden für Fortbildungen für ErzieherInnen und TherapeutInnen beauftragt. Mein theoriegeleiteter Zugang Das Wissen zu den Hintergründen und zum Einsatz der ICF-CY habe ich formell und autodidaktisch erworben. Durch die Hochschulseminare war ein Einstieg in das Thema gemacht. Um sicherer zu werden, habe ich eine Fortbildung bei einem auf Therapieberufe spezialisierten Fortbildungsinstitut gemacht. Im Laufe der Zeit erschien immer mehr Fachliteratur, die u. a. auch die Nutzung mit der ICF-CY vertiefend darstellte. Das bio-psycho-soziale Modell ist die Grundlage der ICF-CY. Menschen bewegen sich zwischen den Polen Krankheit und Gesundheit, Krankheit und Gesundheit sind demnach dynamische Prozesse. Auch wenn Menschen chronisch krank, beeinträchtigt oder behindert sind, können sie sich gesund fühlen und ggf. mit medizinischer und sozialer Hilfe das tun, was ihnen wichtig ist. Das bio-psycho-soziale Modell umfasst mehrere Faktoren, die auf die Gesundheit bzw. die Krankheit Einfluss haben. Dieser ganzheitliche und umfassende Blick auf Menschen ist der Psychomotorik, Motopädie und Motologie gemein. Die ICF-CY besteht aus zwei Teilen (Funktionsfähigkeit und Behinderung sowie Kontextfaktoren), die wiederum in jeweils zwei Komponenten unterteilt sind (Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation / Teilhabe, Umweltfaktoren, personenbezogene Faktoren). V.a. der Bereich der Aktivitäten und Partizipation / Teilhabe ist für die psychomotorische, motopädische und motologische Arbeit von Bedeutung. Funktionale und strukturelle Einschränkungen beeinflussen zwar die Teilhabe, können aber von PädagogInnen und TherapeutInnen nicht oder nur sekundär beeinflusst werden. Das Beschreiben der Ergebnisse der Anamnese (Leistung in der gegenwärtigen Umwelt) und der Ergebnisse der Entwicklungstests und -screenings (Leistungsfähigkeit unter Testbedingungen), das Formulieren von Zielen, die Planung der Förder- und Therapieinhalte, die Dokumentation des Förder- und Therapieverlaufs sowie die Reflexion und Evaluation gelingen mit der Komponente Aktivitäten und Partizipation / Teilhabe. Die ICF-CY und die Psychomotorik, Motopädie bzw. Motologie haben viele Gemeinsamkeiten. Beiden Konzepten liegt die Alltagsnähe zu Grunde. In der Förderung und Therapie werden Alltagssituationen nachgespielt, Alltagsmaterialien verwendet und / oder die Alltagsräume der Kinder aufgesucht (mobil zu Hause, auf dem Spielplatz oder im Wald, in der Institution etc.). Die Materialerfahrung, die Sozialerfahrung und die Körpererfahrung, die die Inhalte der Förderung und Therapie beschreiben, finden sich in der Kodierung in der Komponente Aktivitäten und Partizipation / Teilhabe wieder. Der Begriff Partizipation wird allerdings unterschiedlich verwendet: In der ICF-CY bedeutet Partizipation (mit-) machen, teilhaben können. In der Psychomotorik, Motopädie und Motologie bezieht sich die Partizipation auf mitgestalten, mitwirken, Meinung äußern, abstimmen, einbezogen werden, Verantwortung für Entscheidungen übernehmen und Einfluss nehmen. Meine Bedeutsamkeit/ meine Wirksamkeit Dass Psychomotorik, Motopädie und Motologie einen bedeutsamen und wirkungsvollen Zugang bei der Entwicklungsbegleitung und -förderung von Menschen, speziell in meinem Fall von Kindern und Jugendlichen darstellen, ist mehrfach erprobt und wissenschaftlich belegt worden. Der Einsatz der ICF-CY unterstützt die psychomotorische, motopädische und motologische Arbeit durch die Möglichkeiten der Beschreibung. Seitdem wir die ICF- CY verwenden, hat sich nicht nur unser Berichtswesen, sondern auch die Planung, Durchführung und Reflexion der Förder- und Stundeninhalte verbessert. Durch den gelenkten Blick auf die Ressourcen und Entwicklungspotenziale, die gemeinsame Zielformulierung und den Schwerpunkt auf die Aktivitäten und Partizipation / Teilhabe ist die Förderung und Therapie für die Kinder und [ 90 ] 2 | 2024 Insight-- Erfahrungen aus der Praxis Jugendlichen sowie deren Familien transparenter und nachvollziehbarer. ICF-CY und Psychomotorik, Motopädie und Motologie sind zwei ineinandergreifende Puzzleteile, die die Arbeit professionalisieren und die Qualität verbessern. Literatur Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) (o. J.): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. In: https: / / www.bfarm.de/ DE/ Kodiersysteme/ Klassifikationen/ ICF/ _node. html, 01.01.2024 DOI 10.2378/ mot2024.art15d Die Autorin Nora Jaffan staatl. anerkannte Erzieherin und Motopädin, B.A. Interdisziplinäre Physiotherapie, Motologie, Ergotherapie, M.Sc. »Interdisziplinäre Therapie in der Pädiatrie«, Inhaberin und Therapeutin im ImPuls Therapiezentrum für Entwicklungs- und Lernförderung und Praxis für Motopädie, Psychomotorik und Mototherapie in Düsseldorf, Lehrbeauftragte, Dozentin, Referentin In diesem Buch wird ein klinisch erprobtes, praxisorientiertes Konzept der Mototherapie vorgestellt. Auf den neurophysiologischen Grundlagen der Arbeiten von Jean Ayres sind in diesem Konzept verschiedene Methoden der sensomotorischen Förderung von Kindern eingebunden. Sensomotorische Förderung a w 10., durchgesehene Auflage 2024. 212 Seiten. 79 Abb. Mit 1 Poster. (978-3-497-03252-5) kt
