motorik
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2024.art16d
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Impulse für die Praxis: Partizipationsorientierte Bedarfserhebung, Planung und Zielformulierung bei einem Kind mit einer diagnostizierten Umschriebenen Entwicklungsstörung motorischer Funktionen
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Carina Völlm
Partizipationsorientierte Bedarfserhebung bezieht das Kind und dessen Familie mit ein und ist Grundlage für teilhabeorientierte Zielformulierungen. In diesem Beitrag wird anhand des Fallbeispiels Leander ein mögliches Vorgehen des Prozesses der Bedarfserhebung, Zielformulierung und Planung vorgestellt.
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[ 91 ] Impulse für die Praxis 2 | 2024 [ Impulse für dIe praxIs ] Partizipationsorientierte Bedarfserhebung, Planung und Zielformulierung bei einem Kind mit einer diagnostizierten Umschriebenen Entwicklungsstörung motorischer Funktionen Carina Völlm Partizipationsorientierte Bedarfserhebung bezieht das Kind und dessen Familie mit ein und ist Grundlage für teilhabeorientierte Zielformulierungen. In diesem Beitrag wird anhand des Fallbeispiels Leander ein mögliches Vorgehen des Prozesses der Bedarfserhebung, Zielformulierung und Planung vorgestellt. Leander besucht seit drei Monaten die Frühförderung. Hier bekommt er aktuell heilpädagogische Spieltherapie und Ergotherapie. Sein Kinderarzt hatte u. a. eine UEMF, eine umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen, festgestellt. Bisher ging es in der Frühförderung vor allem um Beziehungsaufbau und Einlassen auf Aufgaben. Nun, nach einigen Förder- und Behandlungseinheiten, ist Leander ohne Hemmungen in Interaktion mit den Fachkräften und erfreut sich an den Angeboten und Aufgaben. Es findet ein interdisziplinäres Zwischengespräch mit Leander, seinen Eltern, der Heilpädagogin, der Ergotherapeutin und dem Physiotherapeuten statt, der ggf. in die Förderung einsteigen wird. Dabei sollen der aktuelle Bedarf erhoben sowie die Zielformulierungen konkretisiert und die Planung angepasst werden. Strukturierung der Informationen nach den Komponenten der ICF Die Strukturierung in die Komponenten der ICF hilft den Fachkräften, alle Bereiche zu beachten sowie Wechselwirkungen zu erkennen. Sie fragen dabei vor allem nach Situationen im Alltag, wann Leander Teilhabe erlebt und in welchen Bereichen diese eingeschränkt ist. Die Komponenten der ICF bilden nach Rosenbaum (2013, 12) ein »Rahmenkonzept […], um die Details des aktuellen Gesundheitszustandes einer Person auf verschiedenen Ebenen zusammenzutragen.« Personbezogene Faktoren Leander ist ein 4; 5 Jahre alter Junge. Seine Eltern beschreiben ihn als zurückhaltend. Er mag Gesellschaftsspiele und liebt es, im Garten zu sein. Umweltfaktoren Leander ist das einzige Kind seiner Eltern. Beide Elternteile sind sehr um ihn besorgt und wollen ihn gerne fördern. Gleichzeitig fühlen sie sich unsicher, inwiefern sie ihn zu einer Aktivität, die Leander nicht machen möchte, drängen sollen. In Leanders Kita sind 60 Kinder in einem teiloffenen Konzept. Auch die pädagogischen Fachkräfte sind sich uneinig, wie sie mit seinen »Besonderheiten« umgehen sollen. Leander besitzt ein großes Dreirad und ein Laufrad. Körperstruktur und Körperfunktion Strukturell sind keine Auffälligkeiten vorhanden. Im Motoriktest BOT-2 und in den Beobachtungen vom Beginn der Frühförderung zeigte sich, dass Leander vor allem die grob- und feinmotorische Koordination schwerfällt. Auch die Balance ist deutlich unterhalb der Altersnorm. In gezielten Beobachtungen fiel auf, dass Leander mit der Körperwahrnehmung Schwierigkeiten hat. [ 92 ] 2 | 2024 Impulse für die Praxis Teilhabe und Aktivität anhand der neun Lebensbereiche der ICF Lernen und Wissensanwendung: Leander zählt bereits bis zehn und erkennt die Zahlen auf UNO-Karten und Würfeln. Er erkennt seinen geschriebenen Namen. Er mag es überhaupt nicht, barfuß zu sein. Auch mit seinen Händen exploriert er ungerne Materialien, die »dreckig« sind, wie Sand, Matsch oder Schaum. Daher ist er in der Kita selten mit den anderen Kindern im Sandkasten. Allgemeine Aufgaben und Anforderungen: Leander kennt die Routinen zu Hause und in der Kita sehr gut. Es fällt ihm schwer, diese umzusetzen, wenn es stressig ist. Leander verweigert es dann, sich z. B. selbst anzuziehen, eigenständig zu essen oder die Treppe aus dem Haus allein hinunterzugehen. Auf Anforderungen, die ihm schwer erscheinen, lässt er sich mittlerweile in der Frühförderung und zu Hause besser ein und traut sich Neues auszuprobieren. Auch die pädagogischen Fachkräfte der Kita berichteten den Eltern, dass dies vor allem im Turnraum besser geworden sei. Kommunikation: Leander versteht alles, was zu ihm gesagt wird. Zu Hause erzählt er frei und äußert auch seine Bedürfnisse. In stressigen Situationen gelingt ihm dies nicht. Anderen Kindern gegenüber äußert er nie, was er gerade möchte. Seiner Bezugserzieherin teilt er sich inzwischen mit. Mobilität: Leander kommt in seinem häuslichen Umfeld gut zurecht. Auf unebenen Wegen, wie im Wald, ist er sehr unsicher, stolpert häufig und geht daher sehr langsam. Leander fährt sicher mit seinem Dreirad. Laufradfahren fällt ihm noch schwer. Treppen überwindet er zu Hause und in der Kita eigenständig im Nachstellschritt mit Festhalten. Hüpfen gelingt ihm weder einnoch beidbeinig mehr als zweimal, weshalb er auch das Trampolinspringen in der Kita meidet. Leander beginnt seit Beginn der Ergotherapie mit Freude zu Malen. Auch in der Kita nutzt er nun die Malutensilien sehr gerne und beschäftigt sich vor allem mit den Wasserfarben. Der Umgang mit dem Stift wird immer sicherer, er beginnt bereits seinen Namen zu schreiben. Selbstversorgung: Anziehen ist für ihn immer eine große Herausforderung und dauert sehr lange. Vor allem Knöpfe und Reißverschlüsse bereiten ihm Schwierigkeiten. Gleichzeitig will er hier nicht immer um Hilfe fragen und ist dann frustriert, wenn es nicht eigenständig gelingt. Vor allem, wenn es in der Kita in den Garten geht, bereitet dies Leander Frust, da er immer der letzte ist und somit all seine Lieblingsgeräte schon belegt sind. Häusliches Leben: Leander hilft zu Hause gerne mit, zum Beispiel beim Abtrocknen. Interaktion und Beziehungen: Zu beiden Elternteilen hat Leander ein sehr inniges Verhältnis. Gegenüber anderen Erwachsenen, auch Verwandten, ist er äußerst zurückhaltend. Auch mit anderen Kindern ist er wenig im Kontakt. Er hat eine Freundin in der Kita, Nila. Bei ihr traut er sich manchmal sie zu fragen, ob sie mit ihm spielt. Sonst lässt er anderen Kindern gerne den Vortritt und will sie nicht stören, wenn sie-- wie meistens-- Bewegungsspiele machen. Besondere Lebensbereiche: Leander besucht seit eineinhalb Jahren seine wohnortnahe Kita. Er geht meistens gerne hin, außer wenn Wald- oder Sporttage sind. Beim Waldtag bleibt er manchmal mit den jüngeren Kindern in der Kita. Manchmal kommt er auch mit und läuft dann mit einer anderen Erzieherin ganz hinten an der Gruppe. Er kommt dann deutlich verspätet am Ziel an. Am Sporttag sitzt Leander am Rand und schaut zu. Eigentlich ist er am liebsten im Garten, wäre da nicht die Problematik des Umziehens. Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben: Bisher geht Leander keiner Gruppenaktivität außerhalb der Kita nach. Wünsche, Präferenzen und Zielformulierung Die Frühförderfachkräfte erheben die Wünsche und Präferenzen von Leander und seinen Eltern. Leander wünscht sich sehr, mehr mit anderen Kindern spielen zu können und beim Waldausflug nicht immer neben der Erzieherin laufen zu müssen. Am liebsten würde er neben Nila sein. Auch im Garten im Kindergarten will er nicht immer der Letzte sein. Seine Eltern sehen die Einschulung- - auch wenn sie noch weit entfernt scheint- - mit Sorge und wünschen sich einen guten Schulstart. Ihr Hauptanliegen ist jedoch, dass Leander glücklich ist. Gemeinsam werden daraus folgende Ziele formuliert: 1. Leander ist unter den ersten zehn Kindern im Garten im Kindergarten. 2. Leander verbringt einen Teil des Weges im Wald neben seiner Freundin Nila. 3. Leander sagt anderen Kindern, dass er mit diesen gerne UNO spielen möchte. Diese Ziele scheinen sehr klein und differenziert. Gleichzeitig sind sie Teil der übergeordneten Zielsetzungen: Eigenständiges Zurechtkommen auf sämtlichen Wegen und Untergründen; [ 93 ] Spreer • Aktuelles Stichwort: Partizipation / Teilhabe 2 | 2024 [ 93 ] Impulse für die Praxis 2 | 2024 die eigenen Bedürfnisse in verschiedenen sozialen Settings äußern; mit Frustration umgehen können. Pretis (2019, 45) ermutigt zu »alltagsnahen« Zielen und bekräftigt, dass dies nicht bedeutet, »dass sich hinter diesen nicht wissenschaftlich abstrakte Modellbildung und theoretischer Hintergrund verbirgt.« Für eine Überprüfung der Ziele benötigt es neben der Konkretisierung auch eine Terminierung. Mit allen beteiligten AkteurInnen wird überlegt und dokumentiert, bis wann die Ziele erreichbar sein könnten und evaluiert werden, z. B. »in drei Monaten«. Auch über die folgende Förderung wird gemeinsam beratschlagt und entschieden. Dabei wird nicht nur die Unterstützung durch die Frühförderung mitgedacht, sondern auch die Anpassung von Umweltfaktoren. Dies wird abschließend beispielhaft für das erste Ziel dargestellt. Die Umweltfaktoren haben nach Hollenweger und Kraus de Camargo (2017, 24) auf die Aktivitäten und die Teilhabe von Kindern noch mehr Einfluss als auf die von Erwachsenen, weshalb auf diesen im Handlungsplan oft der Fokus liegt. Möglicher Handlungsplan für Ziel 1 1. Beim nächsten Elterngespräch in der Kita wird die Ergotherapeutin mitkommen. Gemeinsam sprechen sie mit den Erzieherinnen, ob diese Leander einen ruhigeren Anziehplatz einrichten und ob sie Leander ein paar Minuten vor den anderen Kindern an die Garderobe lassen können. 2. Die Ergotherapeutin übt mit Leander Strategien für das Anziehen (nach der COOP Cognitive Orientation to daily Occupational Performance Methode). 3. Eine Psychomotorikgruppe startet in 4 Wochen in der Frühförderstelle mit dem Physiotherapeuten und der bereits bekannten Heilpädagogin. Auch hier wird das An- und Ausziehen vor und nach der Gruppenstunde Bestandteil sein und somit in kleiner Gruppenkonstellation geübt. 4. Die Eltern besorgen Kleidung, die leicht an- und ausgezogen werden kann. Literatur Hollenweger, J., Kraus de Camargo, O. (2017): ICF-CY, Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. 2. Aufl. hogrefe, Bern, https: / / doi.org/ 10.1024/ 85812- 000 Pretis, M. (2019): ICF-basiertes Arbeiten in der Frühförderung. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München Rosenbaum, P. L. (2020): Einführung. In: Kraus de Camargo, O., Simon, L., Ronen, G. M., Rosenbaum, P. L. (Hrsg.): Die ICF-CY in der Praxis. 2. Aufl. hogrefe, Bern, 9-13 DOI 10.2378/ mot2024.art16d Die Autorin Carina Völlm Ergotherapeutin B.A. und transdisziplinäre Frühförderin M.A., arbeitet aktuell in einer Beratungsstelle für den Bereich inklusive Kita. Sie ist Dozentin für teilhabeorientiertes Arbeiten mit der ICF in den Arbeitsfeldern Sozialpädiatrie und Frühförderung. Anschrift Carina Völlm Rembrandtstr. 4 70567 Stuttgart carina.voellm@gmx.de • Bedeutung von Spaziergängen in der frühen Kindheit • Gerätesicherung in der Psychomotorik • Psychomotorik als Methode in der Frühförderung • Scheitern lernen mit Jonglage • Psychomotorik im Schulkontext Vorschau auf die nächsten Hefte
