motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2024.art34d
101
2024
474
Fachbeitrag: Ein Professionsmodell erleichtert den Dialog in Spannungsfeldern der Psychomotorik
101
2024
Judith Sägesser Wyss
Martin Vetter
Professionalität zeigt sich nicht zuletzt daran, wie gut ein Fach aktuelle Diskussionen in einer Gesellschaft aufgreifen, fachspezifisch ausdeuten und in der Folge eigene Standpunkte zur Absicherung der notwendigen Leistung beitragen kann. Tatsächlich werden wichtige Standpunkte aus Diskussionen zur Professionalisierung, mit Blick auf das Fach Psychomotorik, vorwiegend aus anderen pädagogischen und sozialen Fachdisziplinen als der Psychomotorik erstellt, die andere Aufgaben im Kontext von Entwicklung, Bildung, Therapie und Gesundheit haben. Ein Mehrebenenmodell der Profession, welches hier skizziert wird, kann einer vertieften Auseinandersetzung mit der fachspezifischen Professionalisierung dienen.
7_047_2024_4_0006
Zusammenfassung / Abstract Professionalität zeigt sich nicht zuletzt daran, wie gut ein Fach aktuelle Diskussionen in einer Gesellschaft aufgreifen, fachspezifisch ausdeuten und in der Folge eigene Standpunkte zur Absicherung der notwendigen Leistung beitragen kann. Tatsächlich werden wichtige Standpunkte aus Diskussionen zur Professionalisierung, mit Blick auf das Fach Psychomotorik, vorwiegend aus anderen pädagogischen und sozialen Fachdisziplinen als der Psychomotorik erstellt, die andere Aufgaben im Kontext von Entwicklung, Bildung, Therapie und Gesundheit haben. Ein Mehrebenenmodell der Profession, welches hier skizziert wird, kann einer vertieften Auseinandersetzung mit der fachspezifischen Professionalisierung dienen. Schlüsselbegriffe: Professionalisierung Psychomotorik, Mehrebenenmodell, Spannungsfelder A professional model facilitates dialog in areas of tension in psychomotoricity Professionalism is not least reflected in how well a specialist can address current discussions in a society, interpret them in a subjectspecific way and subsequently contribute their own points of view to ensure the necessary performance. In fact, important points of view from discussions on professionalization, regarding the subject of psychomotricity, are mainly created from other pedagogical and social disciplines than psychomotricity, which have other tasks in the context of development, education, therapy and health. A multilevel model of the profession, which is outlined here, can serve as a basis for a more in-depth discussion of subject-specific professionalization. Keywords: professionalization of psychomotor activity, multi-level model, areas of tension [ 190 ] 4 | 2024 motorik, 47. Jg., 190-197, DOI 10.2378 / mot2024.art34d © Ernst Reinhardt Verlag [ Fachbeitrag ] Ein Professionsmodell erleichtert den Dialog in Spannungsfeldern der Psychomotorik Judith Sägesser Wyss, Martin Vetter Einleitung Psychomotorik und Motologie bilden ein junges, äußerst komplexes Fach, in welchem Paradigmen wie Bildung, Entwicklungsförderung, Gesundheitsförderung und Therapie im Zentrum stehen (Schache 2010; Seewald 1998b). In Deutschland wird seit den 1960er Jahren, beginnend mit Veröffentlichungen von Jonny Kiphard (Hünnekens / Kiphard, 1960) ein breiter, zunehmend wissenschaftlicher Fachdiskurs geführt, dessen Ausgangspunkt das Bestreben war, die erfolgreiche Praxis der Psychomotorik wissenschaftlich zu fundieren (Mattner 1993; Schache 2010; Seewald 1998a; Vetter 2009, 2021). In der Schweiz bildeten die wissenschaftlichen theoretischen Grundlagen des französischen Mediziners, Neuropsychiaters und Forschers Julian de Ajuriaguerra (z. B. Ajuriaguerra 1970) die Grundlage, auf welcher Suzanne Naville in Zusammenarbeit mit anderen Pionierinnen den Beruf der Psychomotoriktherapie entwickelte (Sägesser Wyss / Gasser-Haas 2021, 160). Bereits zu Beginn der Etablierung der Psychomotoriktherapie in Schule und Gesundheitswesen wurde ein intensiver Professionalisierungsprozess in Gang gesetzt (Wolfisberg 2005, 53 f ). Dieser Prozess beinhaltete, dass berufsspezifisches Wissen auf einer wissenschaftlichen theoretischen Grundlage erarbeitet und eine Ausbildung an einer Hochschule etabliert wurde. Zudem wurde früh ein Berufsverband gegründet, welcher für [ 191 ] Sägesser Wyss, Vetter • Dialog in Spannungsfeldern der Psychomotorik 4 | 2024 seine Mitglieder bis heute verbindliche ethische Grundsätze festlegt und die Profession in Bildung und Gesundheitswesen auf berufspolitischer Ebene vertritt. Heute ist die Psychomotoriktherapie ein Bestandteil des schweizerischen Volksschulangebots (EDK 2023). Nicht unähnlich erfolgten die ersten Schritte einer Professionalisierung in Deutschland durch die Gründung des Aktionskreises Psychomotorik 1976 in Hamm und die Einrichtung des Diplomstudiengangs Motologie im Jahre 1983 in Marburg (Fischer 2000, 27). Da der Begriff der Profession heute sehr heterogen verwendet wird (Terhart 2011, 203 ff ), kann auch die Psychomotoriktherapie in der Schweiz seit der Etablierung in Schule und Gesundheitswesen als ‚Profession‘ bezeichnet werden. Ebenso ist demnach diese Einordnung für Motopädie und Motologie zulässig. Trotz dieser Erfolge bleibt noch Arbeit: Es geht in Zukunft um die Ausbildung einer eigenen Grammatik des Faches, auf deren Grundlage professionelle Handlungsentscheidungen getroffen werden können (Vetter 2021). Im Folgenden wird daher ein Versuch unternommen, die Grundlagen, auf welchen sich die Profession Psychomotorik(-therapie) und Motologie auf gesellschaftlich-politischer, institutioneller und personaler Ebene weiterentwickeln und etablieren kann, in einem Mehrebenen-Modell aufzuzeigen. Um für einen begrenzten Beitrag handhabbaren Rahmen zum Thema Profession trotz überbordender Literaturlage abzustecken, folgen wir Terhart (2011, 202 ff ), welcher der Professionalisierung des Lehrberufs sowohl strukturtheoretische, kompetenztheoretische und (berufs-)biografische Ansätze zugrunde legt. Mehrebenen-Modell: Wie werden Menschen zu Professionellen eines Fachs? Mit dem vorgeschlagenen Mehrebenen-Modell (Abbildung 1) wird ein Versuch unternommen, die kurz beschriebenen, bedeutsamen theoretischen Ansätze zueinander in Verbindung zu setzen. Es definiert drei geschichtete Ebenen. Bildlich gesprochen handelt es sich bei der ersten Ebene um den großen gesellschaftlichen Teppich, auf welchem sich die zweite Ebene, hier exemplarisch das Bildungssystem, ausformt. Die dritte Ebene beschreibt konkret die individuelle Ebene der Person in Auseinandersetzung mit den Theorien des Fachs und seiner Bezugswissenschaften. Auf und zwischen den drei definierten Ebenen entstehen Spannungsfelder, welche als Bestandteil des Rahmens betrachtet werden müssen, in welchem sich die Profession bewegt und weiterentwickelt (strukturtheoretische Perspektive, z. B. Helsper 2002, 49 ff ). Diese Spannungsfelder wirken auf die Profession ein, sind aber an dieser Stelle nur begrenzt von ihr beeinflussbar. Auch die Kompetenzen, welche in der Ausbildung und während der beruflichen Laufbahn fachlich und persönlich erworben werden müssen, werden weitegehend auf diesen drei Ebenen definiert (kompetenztheoretischer Zugang, z. B. Cramer 2012, 35 ff ). Mit einer im vorgeschlagenen Modell hohen Gewichtung der berufsbiografischen Ebene wird ausgedrückt, wie zentral die Persönlichkeit angehender und aktiver Professioneller für Qualität der geleisteten Arbeit und für die Professionsentwicklung ist. Die Berufsverbände spielen in diesem komplexen Gefüge insofern eine wichtige Rolle, als dass sie ein Bindeglied zwischen Politik/ Gesellschaft und Profession sind und Qualität sowie das Einhalten ethischer Grundsätze durch die Professionellen (mit) definieren. Auf der Basis der drei Ebenen können Ausbildungs- und Studiengänge entwickelt und Professionelle aus- und weitergebildet werden. Die Abfolge ‚Institutionalisierte Ausbildung‘- - ‚Professionalität‘- - ‚Erzeugung von Wirkungen‘ auf der obersten Ebene des Modells lehnt sich an das kompetenzorientierte Professionsmodell von Cramer (2016, 262) an. In Curricula von Ausbildungen findet die Verbindung der drei dar- Die Persönlichkeit ist zentral für die Qualität der Professionsentwicklung. [ 192 ] 4 | 2024 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis unter liegenden Ebenen exemplarisch dergestalt ihren praktischen Niederschlag, dass zu Beginn, also beispielsweise im ersten Semester eines Studiums, in der Regel eine starke Betonung der Klärung der eigenen Person sowie ihrer Biografie in Verbindung zum Fach stattfindet. Erst später im Studium und in der eigenen Berufspraxis wird es für Professionelle allmählich möglich, sich fachspezifische Kompetenzen anzueignen und mit ihnen auf allen drei Ebenen eine Wirksamkeit zu erzeugen: »Professionalität, also Expertise und nicht nur den Status des Novizen, d. h. Souveränität im Umgang mit den Schemata, erwirbt man nur im Prozess, in einem lang andauernden Prozess der Konstruktion und Selbstkonstruktion des Berufs« (Tenorth 2006, 591). Im Folgenden werden die einzelnen Ebenen und Prozesse kurz beschrieben. Hypothetisch und exemplarisch wird für die erste Ebene beleuchtet, welchen Einfluss Rahmungen für die Auseinandersetzung mit Fachthemen für die Profession Psychomotorik haben könnten. 1. Ebene-- Gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen Auf der ersten Ebene findet somit die gesellschaftliche und politische Rahmung des Handelns in einer Gesellschaft statt (Kontinental- und Landesgeschichte: z. B. kollektive Traumata, Demokratieverständnis etc. / aktuelle gesellschaftspolitische Themen wie Inklusion, Migration, #MeToo etc.). Staat und Kommunen als politische Ordnungen können auf dieser ersten Ebene grundsätzlich als wichtigste Akteure in Bezug auf die Festlegung institutioneller und struktureller Rahmenbedingungen betrachtet werden (Kuhlee et al. 2015, 3). In föderalistischen Ländern wie der Schweiz und Deutschland gibt es zwar nationale Vorgaben und Regulierungen, trotzdem obliegt die Verantwortung im Bildungswesen letztlich den Kantonen bzw. Bundesländern und ist dezentralistisch geregelt (Svaton 2015, 140). Unabhängig davon etablieren sich Professionen in der Regel, indem sie Lösungen für Abb. 1: Mehrebenenmodell der Professionalisierung der Psychomotorik [ 193 ] [ 193 ] Sägesser Wyss, Vetter • Dialog in Spannungsfeldern der Psychomotorik 4 | 2024 Probleme in einer Gesellschaft anbieten, welche für einen Teil der Mitglieder ein Lebensrisiko (Luhmann 2018, 186), aus Sicht der Psychomotorik beispielsweise ein Entwicklungs-, Gesundheits- oder Bildungsrisiko, darstellen. Das Angebot einer Profession muss also grundsätzlich politisches Gehör finden. Themen auf der ersten Ebene, welche aus aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussionen oder aus transgenerational gespeisten Wert- und Moralvorstellungen resultieren können, sind nicht an sich Auftrag an die Profession Psychomotorik. Aus ihnen aber lässt sich erahnen, formuliert man auch nur einige von ihnen als Spannungsfelder aus, dass die Auseinandersetzung damit durchaus gewinnbringend ist. Sie zeigen möglicherweise tieferliegende Gründe für Schwierigkeiten beim Finden von fachlichen Positionen deutlicher auf. Denn diese, so wird dadurch noch einmal klarer, findet man nur im Kontext der Gesellschaft. Aber nicht nur an Professionelle der Psychomotorik, sondern beispielsweise auch an Lehrkräfte werden ausgehend von dieser ersten Ebene Anforderungen gestellt, welche aus strukturtheoretischer Sicht im Beruf selbst nicht einzulösen sind (Helsper 2004, 49 ff; Terhart 2011, 206). 2. Ebene-- Kontextbedingungen: Auf dem großen Teppich gestalten-- Rahmenbedingungen an ausbildenden Institutionen und am Arbeitsplatz Auf der zweiten Ebene werden die Rahmungen der ersten, gesellschaftlichen Ebene institutionell verhandelt (Ausgestaltung des Hochschulsystems auf der Basis der ersten Ebene, z. B. »Bologna«). Im Zentrum stehen einerseits ausbildende (Hoch-)Schulen (Gestaltung von Bildungs- und Studiengängen, Promotion, Forschung, Innovation für die Ausbildung zukünftiger Professioneller und für die zeitgemäße Weiterentwicklung der Profession). Andererseits sind für ausgebildete Professionelle auf dieser Ebene anstellende Bildungsinstitutionen (Schulen, Förderschulen etc.) bedeutsam. Ausbildungen Hochschulen als Bildungsinstitutionen haben den Auftrag, ein optimales Umfeld für die Professionalisierung Studierender und für deren Tab. 1: Beispielhafte Spannungsfelder im Professionsdiskurs Skizzierte Beispiele für Spannungsfelder im Professionsdiskurs aktuelle Themen der Psychomotorik parallele Fach- (oder Gesellschafts-)diskurse ›Berührung‹ als sine-qua-non der menschlichen Entwicklung von vor der Geburt bis zum Tod und dadurch zentrales Element der psychomotorischen Angebote (Anders / Weddemar 2001; Grunwald 2017) Grenzverletzungen durch ›Berührung‹, z. B. in pädagogischen und therapeutischen Kontexten (Stuhler et al. 2019) ›Berührung‹ als Produkt von Gesellschaft durch Körperformung, Körperdiskurse, Körperumwelt, Körperrepräsentationen und Leiberfahrung (in Anlehnung an Riedel 2012, 91 ff, mit Verweis auf Gugutzer 2006) Körperpraktiken als Produzenten von Gesellschaft durch Körperroutinen, Körperinszenierungen, Körpereigensinn (ebd.) ›Störungen‹ als Ausdruck von umfassend und systemisch zu betrachtenden Phänomenen, welche sich nicht auf die Person beschränken (Balgo 2004; Baumann 2009) ›Störungen‹ als Ausdruck schwieriger Persönlichkeiten (Hartke et al. 2008; Hartke / Vrban 2010) individuelle Entwicklungsbegleitung, welche Teilhabe an Schule und Gesellschaft ermöglicht, Umgang mit Vielfalt (Vetter 2021). Heterogenität als Belastung (Strasser 2021) Reduktion von Heterogenität (kritisch dazu Hinz 2016, 232 ff ) Therapie als Reparaturbetrieb (kritisch dazu Oevermann 1996 151 ff; Rödler 2016, 232 ff ) [ 194 ] 4 | 2024 Fachbeiträge aus Theorie und Praxis berufsbiografische Entwicklung, welche auch die Weiterbildung beinhaltet, zu bieten (Cramer 2012, 523). Ferner obliegt ihnen die wichtige Auswahl geeigneter Studierender und das Bereitstellen einer bestmöglichen Bildung in theoretischer und praktischer Dimension (ebd.). Gleichzeitig müssen von der Politik definierte Kompetenzen (z. B. Arbeitskreis deutscher Qualifikationsrahmen 2011; EDK 2023, Art. 6) Eingang in die Ausbildung finden. Daneben können weitere Kompetenzen, welche von den Verantwortlichen der Curricula als zentral erachtet werden, aufgenommen werden. Studierende sollen zudem für den Umgang mit bereits genannten Spannungsfeldern auf persönlicher und fachlicher Ebene befähigt und an eine professionelle Haltung herangeführt werden (Kuhlenkamp 2017, 115 ff; Vetter 2021, 35 ff ). In Bezug auf konkrete Themen wie beispielsweise dem aktuellen Thema ‚Berührung‘ (siehe Tab. 1), ist der bewusste Umgang mit diesem Thema auf der Ebene der gesamten Organisation, noch mehr aber auf der Ebene der Studiengänge wichtig. Hier braucht es klare Verpflichtungen und Regelungen, welche auch im Studiensetting Studierende und Dozierende gesetzlich und persönlich schützen, zur Reflexion auffordern und exemplarische Praxis dazu aufzeigen. Genau für die Ausbildung einer eigenen Grammatik, wie oben beschrieben, braucht es aber in psychomotorischen Ausbildungen auch leibreflexive Elemente, welche, in Anlehnung an Seewald (1992) oder Gugutzer (2002), das Thema zusätzlich fachspezifisch bearbeiten und ausdeuten. Arbeitgebende Arbeitgebende (z. B. Schulen oder andere Institutionen) haben mehr oder weniger Gestaltungsfreiraum für die Implementierung verschiedener Angebote auf der Mikroebene. Es ist für die Arbeit Professioneller der Psychomotorik enorm wichtig, dass in den Institutionen eine Regelung konkreter Themen wie beispielsweise das Thema ‚Berührung‘ für die eigene Institution und damit für die Arbeit mit der Klientel geklärt und bewusst geregelt wird. 3. Ebene-- (Berufs-)Biografische Perspektive und individuelle Voraussetzungen Auf der dritten Ebene, der Ebene der Persönlichkeitsentwicklung und Verankerung der Profession, findet sich die Person mit ihren Voraussetzungen, ihren Lebensumständen, ihren Möglichkeiten und Limitationen. Die Voraussetzungen Studierender beispielsweise in Bezug auf die physische und psychische Verfassung oder eigene Beeinträchtigungen und Behinderungen, sind sehr unterschiedlich. Die berufsbiografische Perspektive ist neben dem struktur- und kompetenztheoretischen Ansatz der Professionsforschung wichtig und hat das Potenzial, die beiden anderen Ansätze bis zu einem gewissen Grad zu verbinden (Terhart 2011, 208). Zentrales Element der berufsbiografischen Perspektive ist das Verbinden, Trennen und Reflektieren des Privat- und Berufslebens, da beide für die Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen im Hinblick auf Professionalität zentral sind (ebd.). Damit auf der Basis erworbener Kompetenzen der Umgang mit unterschiedlichen, in der Profession auf verschiedenen Ebenen angelegten Spannungsfeldern, gelingen kann, muss eine reflexive Haltung entwickelt werden (Vetter 2021, 34). Für zukünftige Professionelle der Psychomotorik sind Bezug und Reflexionsfähigkeit zum eigenen Körper und zur eigenen Bewegungsfähigkeit besonders bedeutsam (Naville 1983; Seewald 2007, 27 ff ). Ein bewusster und reflektierter Kontakt zu KlientInnen wird in dieser Profession zentral über Körper und Bewegung aufgebaut. Prozess: Institutionalisierte Ausbildung-- Professionalität-- Erzeugung von Wirkung (Cramer 2016, 262) Grundsätzlich wurden auf den vorangehenden Ebenen die verschiedenen Faktoren definiert, welche die Professionen Psychomotorik(-thera- Bezug und Reflexionsfähigkeit zum Körper und zur Bewegung sind für die reflexive Haltung besonders bedeutsam. [ 195 ] [ 195 ] Sägesser Wyss, Vetter • Dialog in Spannungsfeldern der Psychomotorik 4 | 2024 pie) und Motologie prägen. Der Prozess von der Ausbildung bis zur Professionalität und die damit verbundenen Entwicklungen prägen die Performanz Professioneller und gleichzeitig die Wirkung, welche erzielt werden kann. Die Wirkung wiederum ist auf allen drei beschriebenen Ebenen von hoher Bedeutung. Neben der Gesellschaft erwarten die Arbeitgebenden und Rezipierenden eine Wirkung der Psychomotoriktherapie und auch auf der (berufs-)biografischen Ebene ist das Erleben der Selbstwirksamkeit zentral. Sie erhöht beispielsweise die Motivation Professioneller sich fachspezifisch weiterzubilden und hat somit auch eine Rückwirkung auf die Professionalität. Ausblick: Wie entwickeln wir professionelle Haltungen weiter? Es ist ein nicht einlösbares Unterfangen und nicht Ziel, dieses so wichtige Thema in einem Beitrag umfassend zu beleuchten und am Ende abschließend abzuhandeln. Es braucht dafür an anderen Orten vertiefte Auseinandersetzungen. Wir möchten aber hier durch einen Ausblick noch einmal verdeutlichen, warum das vorgestellte Professionalisierungsmodell, welches der Weiterentwicklung bedarf, dafür bedeutsam sein kann: Der fachspezifische Diskurs rund um ‚Spannungsfelder der Profession‘, beispielsweise bezogen und in Auseinandersetzung mit aktuellen Handreichungen für Schulen in Bezug auf die Bedeutung von ‚Berührung‘ (Tab. 1), hat vertieft noch kaum stattgefunden (Thünemann- Albers 2020, 336 f ). Mit dem Mehrebenenmodell können wir veranschaulichen, wie die Entwicklung der Profession auf verschiedenen, gegenseitig aufeinander bezogenen Ebenen stattfinden und, so die Hoffnung, Spannungsfelder von Professionellen bewusster aufgegriffen und gestaltet werden könnten. Auf dieser Basis können, im Sinne einer fachlichen Responsivität (vgl. Vetter 2021) neue oder weiterzuentwickelnde Themen aufgenommen werden und in Curricula und berufliche Tätigkeit einfließen. Für uns wäre die Vision bestechend, dass Professionelle der Psychomotorik nicht diejenigen wären, die ihre erfolgreichen Mittel durch aktuelle Diskussionen meinen einschränken zu müssen, sondern jene, die ganze Schul- oder Klinikteams in schwierigen Fragen mit ‚psychomotorischem Handwerkszeug‘ weiterentwickeln und als kompetente AnsprechpartnerInnen dazu wahrgenommen würden. Literatur Ajuriaguerra, J. de. (1970): Manuel de psychiatrie de l’enfant. Masson et Cie, Paris Anders, W., Weddemar, S. (2001): Häute scho(ö)n berührt? Körperkontakt in Entwicklung und Erziehung. borgmann, Dortmund Arbeitskreis deutscher Qualifikationsrahmen (2011): Deutscher Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen. In: https: / / www.dqr.de/ dqr/ shareddocs/ downloads/ media/ content/ der_deutsche_qualifikationsrahmen_fue_lebenslanges_lernen.pdf? __ blob=publicationFile&v=2, 28.07.2024 Balgo, R. (2004): Systemische Positionen im Kontext der Motologie. In: Köckenberger H., Hammer, R. 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Gemeinsam anders Die AutorInnen Judith Sägesser Wyss Psychomotoriktherapeutin (EDK), Präsidentin Psychomotorik Schweiz, Dozentin Pädagogische Hochschule Bern Prof. Dr. Martin Vetter Professur Abteilung Psychomotorik, Motologie und Bewegungspädagogik, Pädagogische Hochschule, Fakultät für Teilhabewissenschaften Anschrift Judith Sägesser Wyss Pädagogische Hochschule Bern Fabrikstrasse 8 3012 Bern judith.saegesser@phbern.ch [ 197 ] [ 197 ] Sägesser Wyss, Vetter • Dialog in Spannungsfeldern der Psychomotorik 4 | 2024 Lehren und Lernen. Springer, Wiesbaden, 139-144, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-06955-1_20 Tenorth, H.-E. (2006): Professionalität im Lehrerberuf. Ratlosigkeit der Theorie, gelingende Praxis. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9(4), 580-597, https: / / doi.org/ 10.1007/ s11618-006-0169-y Terhart, E. (2011): Lehrerberuf und Professionalität: Gewandeltes Begriffsverständnis- - neue Herausforderungen. In: Helsper, W., Tippelt, R. 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(Hrsg.): Sonderpädagogische Professionalität. Beiträge zur Entwicklung der Sonderpädagogik als Disziplin und Profession. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 53-66, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-663-11387-4_3 Die Schriftleitung und der Verlag freuen sich über Ihr Feedback zu diesem Artikel unter journals@reinhardt-verlag.de 3., durchges. Aufl. 2021. 106 Seiten. 14 Abb. 3 Tab. (978-3-497-03080-4) kt Achtung, fertig, los! Sich beim Kopfrechnen die Aufgabe merken, sich melden, bevor man etwas sagen möchte, bei der Sache bleiben und sich nicht vom Nachbarn ablenken lassen. Diese kognitiven Prozesse nennt man „exekutive Funktionen“. Wie Grundschullehrer: innen diese Funktionen und die Selbstregulation von Kindern in den ersten Schuljahren fördern können, zeigt dieses Praxisbuch. Es gibt Lehrkräften über 50 Spielanleitungen, Übungen und Fördermöglichkeiten für das Klassenzimmer und die Sporthalle an die Hand, auch für den Deutsch-, Mathe- und Musikunterricht. a w 3., durchges. Aufl. 2021. Achtung, fertig, los!
