Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2025
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Forum Psychomotorik: Autismus, eine Beziehungsherausforderung, eine Beziehungsherausforderung
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2025
Bruno Sardo
Die Psychomotorik-Therapie bietet Kindern im Autismus-Spektrum die Möglichkeit, emotional zu reifen. Diesen Reifungsprozess begleitet die Psychomotorik-TherapeutIn mit einer Haltung, die die Themen und das Interesse des jeweiligen Kindes respektiert und wertschätzt. Sie bietet ihm körperlich-emotionale Beziehungsvorschläge an, die dazu dienen, den Körper des Kindes aufzubauen, um im gemeinsamen Kontakt Ängste zu überwinden. Es handelt sich um einen intensiven dynamischen Prozess, in dem der tonisch-emotionale Dialog zwischen Kind und Psychomotorik-TherapeutIn tiefgreifende Veränderungen beim Kind ermöglicht.
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Zusammenfassung / Abstract Die Psychomotorik-Therapie bietet Kindern im Autismus-Spektrum die Möglichkeit, emotional zu reifen. Diesen Reifungsprozess begleitet die Psychomotorik-TherapeutIn mit einer Haltung, die die Themen und das Interesse des jeweiligen Kindes respektiert und wertschätzt. Sie bietet ihm körperlich-emotionale Beziehungsvorschläge an, die dazu dienen, den Körper des Kindes aufzubauen, um im gemeinsamen Kontakt Ängste zu überwinden. Es handelt sich um einen intensiven dynamischen Prozess, in dem der tonisch-emotionale Dialog zwischen Kind und Psychomotorik-TherapeutIn tiefgreifende Veränderungen beim Kind ermöglicht. Schlüsselbegriffe: Autismus-Spektrum-Störung (ASS), frühkindlicher Autismus, Psychomotorik-Therapie, tonischemotionaler Dialog, autistischer Rückzug, autistisches Objekt Autism, a relationship challenge. A psychomotor approach Psychomotricity offers children on the autism spectrum the opportunity to develop emotionally. The therapist supports this developmental process by respecting the child’s individual themes and interests. He provides physical-emotional relationship proposals aimed at strengthening the child’s body and overcoming fears together. This intensive, dynamic process is characterized by a tonic-emotional dialogue between the child and the therapist, which can facilitate profound changes in the child. Keywords: Autism Spectrum Disorder (ASD), early childhood autism, psychomotor therapy, tonic-emotional dialogue, autistic withdrawal, autistic object [ 12 ] 1 | 2025 motorik, 48. Jg., 12-17, DOI 10.2378 / mot2025.art03d © Ernst Reinhardt Verlag [ Forum Psychomotorik ] Autismus, eine Beziehungsherausforderung Ein psychomotorischer Zugang Bruno sardo Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, bei der die Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung anders abläuft als bei neurotypischen Individuen (Autismus Deutschland e. V. 2024). In diesem Artikel wird eine psychomotorische Arbeit vorgestellt, die auf der Theorie der tiefenpsychologischen Therapie basiert. Es werden zuerst einige theoretische Überlegungen erläutert, die ein Fundament für die geschilderten Fälle darstellen. Betroffene Eltern Der autistische Säugling antwortet nicht auf die immer wieder liebevollen elterlichen Beziehungsvorschläge. Die Mutter wendet sich mit Freude und Staunen ihrem Baby zu, sie wirft ihm charmante und intensive Blicke zu. Innerhalb weniger Monate jedoch fühlen sich die Eltern autistischer Kinder kompetenzlos und zweifeln an sich selbst. Vergleicht man Videoaufnahmen, die sofort nach der Geburt bzw. in den ersten Lebensmonaten entstanden sind, mit denen, die das autistische Kind im Alter von 18 Monaten zeigen, erkennt man einen herzzerreißenden Unterschied: Achtsame, warmherzige, kommunikative und anpassungsfähige Eltern, die sich ihrem Säugling mit großer Aufmerksamkeit zuwenden, zeigen nach anderthalb Jahren in ihrer ganzen Gestik und Mimik eine starke Betroffenheit (Laznik 2012, 19 ff ). Viele wirken in ihrem gesamten Ausdruck kalt- - vielleicht auch, um besser mit der Situation fertigzuwerden. Es tobt in ihnen oft ein einsamer Kampf, da sie sich an [ 13 ] Sardo • Autismus, eine Beziehungsherausforderung 1 | 2025 ein winziges Wesen wenden, das das Gefühl zu haben scheint, gar nicht zu existieren. Die fehlende Rückmeldung des Babys auf die kontinuierlichen, natürlichen und verständnisvollen Beziehungsangebote der Eltern wirft sie in einen Abgrund der Einsamkeit, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Die Eltern verlieren nach und nach das Vertrauen in ihre eigenen Ressourcen, fühlen sich desorientiert und werden leider sehr oft auch von ihren Mitmenschen und sogar Fachpersonal nicht verstanden. Dies verstärkt ihr Gefühl der Einsamkeit. Die Folge ist eine angespannte körperliche Reaktion zum eigenen Schutz- - ein Abwehrmechanismus, der für das Überleben notwendig ist. Es gibt keine Worte, die die epischen Anstrengungen dieser betroffenen Eltern wirklich beschreiben könnten. Deshalb ist es sehr bedeutsam, ihnen vor allem einen geschützten Raum anzubieten, in dem sie die Möglichkeit erhalten, ihre Verzweiflung und ihre schmerzliche Geschichte auszudrücken. Die Vielfalt im Autismus-Spektrum Autismus ist ein komplexes und breit gefächertes Thema. Menschen im Autismus-Spektrum sind sehr unterschiedlich, vielfältig und haben jeweils eigene individuelle Fähigkeiten, Potenziale und eine einzigartige Geschichte. Im Autismus-Therapie-Zentrum, wo ich seit fast 20 Jahren tätig bin, unterstütze und begleite ich Kinder, Jugendliche und Erwachsene in langjährigen Prozessen. Ich arbeite mit Menschen mit und ohne geistige Behinderung. In der Begleitung von Kindern und deren Familien oder einzelnen Erwachsenen ist es zu beobachten, dass sich viele Thematiken ähneln und wiederholen. Es wiederholt sich z. B. die Art und Weise, wie sich autistische Menschen von der Außenwelt abkapseln und Tätigkeiten, Rituale, Formen und Manierismen entwickeln, um den Kern ihres Daseins zu schützen (Tustin 2008, 31). Menschen im Autismus-Spektrum haben eine unkonventionelle Art zu kommunizieren. Sie haben Defizite in der sozialen Kommunikation sowie der sozialen Interaktion. Wiederholende, stereotypische Handlungen, eingeschränkte Interessen und Aktivitäten gehören zu ihren typischen Verhaltensweisen. Ihre sensorische Struktur weist auf eine Störung der Verarbeitung der verschiedenen Wahrnehmungskanäle hin (Ayres 2016). Darüber hinaus findet eine Zerlegung und somit das Zusammenspiel der verschiedenen Wahrnehmungskanäle nicht statt (Meltzer 2011, 19 ff ). Menschen im Autismus-Spektrum haben massive Schwierigkeiten, sich auf Veränderungen einzulassen. Das Neue wird als Störung der eigenen inneren Struktur erlebt. Eine Struktur, die ältere Betroffene sich mit viel Mühe aufgebaut haben, die Sicherheit, Halt und Orientierung bietet. Ein erwachsener Klient benennt es so: »Autistische Menschen neigen dazu, sich an ihren eigenen Strukturen festzuhalten. Jegliches Veränderungsangebot wird als Angriff und Respektlosigkeit erlebt.« Um sich vor Beziehungsangriffen zu schützen, baut das autistische Kind eine Panzerung, eine übermäßige tonische Spannung auf (Haag 2024, 117 ff; Aucouturier 2006, 38 ff ). Der autistische Rückzug Die defizitäre sensorische Struktur und die als Schutz entwickelte Panzerung verhindern, dass das Kind die Interaktion mit den Bezugspersonen als konstruktiv und unterstützend erlebt. Ein Wesen, dessen Sinne nicht kooperieren können und bei dem einige Sinne eine Unterfunktion oder Überfunktion aufweisen, hat Schwierigkeiten, körperlichen Kontakt als positiv zu erleben. Es kann nicht genügend positive Erfahrungen verinnerlichen und dadurch keine Frustrationen aushalten. Das Kind fühlt sich weder körperlich noch emotional getragen. Aus dem Gefühl, nicht gehalten zu werden, folgt das körperliche Gefühl des unendlichen Fallens. Die Angst vor dem Fallen wirkt bei autistischen Menschen permanent (Tustin 2005, 37 ff ). Aus dem Gefühl, nicht gehalten zu werden, folgt das körperliche Gefühl des unendlichen Fallens. [ 14 ] 1 | 2025 Forum Psychomotorik Die Folge dieses dramatischen Bildes ist ein Wesen, das sich aus tiefsten Ängsten abkapselt. Es schirmt sich ab, um die von außen kommenden Reize zu neutralisieren und auch, um sich zu betäuben und zu beruhigen (Tustin 2008, 29). Unter diesen Umständen ist die emotionale Entwicklung beeinträchtigt, da die interaktionellen Wechselwirkungsprozesse nicht stattfinden können. Dadurch ist die Bildung der Einheit des Selbst und der daraus folgenden Entwicklung der Autonomie und das Erreichen der Symbolisierungsfähigkeit nicht möglich (Tustin 2008, 111 ff; Aucouturier 2017, 75 ff ). Das autistische Objekt Bei autistischen Kindern lässt sich beobachten, dass sie Schutzmechanismen entwickeln, wie zum Beispiel das Halten von harten Objekten wie Spielzeugautos. Die Objekte, die die autistischen Kinder in ihren Händen halten, vermitteln starke Empfindungen und dienen nicht selten zur Selbstregulation (Tustin 2005, 120 ff; Lang-Langer 2024, 66 ff ). »Diese autistischen Objekte können ganz unterschiedlich sein oder sich auch als Farben oder Zahlen darstellen« (Kokemoor 2023, 55). Das autistische Objekt ist nicht mit dem Übergangsobjekt (Winnicott 2015, 10 ff ) zu verwechseln. Dies bildet sich während der Kind-Mutter Interaktion und bietet dem Kind Sicherheit in Abwesenheit der Mutter. Das autistische Objekt hat eine idiosynkratische Funktion und wird vom autistischen Kind selbststimulierend benutzt. Die selbststimulierenden Handlungen dienen nicht der Interaktion und dem emotionalen Wachstum (Tustin 2008, 29). Menschenbild Die Psychomotorik bietet eine sehr gute Hilfestellung für betroffene Kinder im Autismus- Spektrum. Sie gibt dem Kind die Möglichkeit, sich durch sinnliche, körperliche und soziale Erfahrungen in seiner Gesamtheit zu entfalten und insbesondere emotional zu reifen. Es ist nicht das Ziel, das Kind zu verändern. Vielmehr geht es darum, mit ihm in Kontakt zu treten. Dafür sind Kommunikationsbahnen nötig, die nur direkt mit ihm aufgebaut werden können (Esser 2009, 45). Deswegen interessieren wir uns für sein autistisches Objekt, für seine Interessen, für sein Tun. Während der Kontaktaufnahme zeigt uns das Kind seine Emotionen und Widerstände, seine Verzweiflung und Einsamkeit, seine Verspannungen und Zwänge. Wir interessieren uns für die Handlungen, für seine Stereotypien, für das selbststimulierende Verhalten. All das sind motorische Ausdrücke des Kindes, die für das Kind selbst einen Sinn ergeben. Es liegt an uns, den Sinn zu entdecken. Die Aufgabe der Psychomotorik-TherapeutIn besteht darin, mit dem Kind einen Weg zu finden, um gemeinsame lustvolle Augenblicke zu erleben. Die Freude und die Teilnahme am Handeln des Kindes ermöglicht den Kontakt. Während der Kontaktaufnahme entstehen die ersten Blickkontakte, die ersten gemeinsamen Augenblicke. Es entwickelt sich fortwährend ein gegenseitiges Vertrauen, in dem die Psychomotorik-TherapeutIn das autistische Kind körperlich sowie emotional trägt. Jegliche Haltung, Mimik, motorischer Ausdruck des Kindes werden wahrgenommen und nachgeahmt. Dabei werden sein Tempo und seine Rhythmen respektiert. Das Kind erzählt durch seine Handlungen von seiner inneren Welt. Es zeigt uns, was es aushalten und nicht aushalten kann (Sardo 2018, 61). Die psychodynamische Sichtweise, an der wir unsere Arbeitsweise anlehnen, besagt, dass autistische Kinder bereits im Säuglingsalter die Trennung von der Mutter als traumatisch erlebt haben. Dieses traumatische Trennungserleben verhindert, dass das Kind seinen Körper als »Eins«, als Ganzes wahrnimmt, sondern nur als segmentierte Teile (Tustin 2005, 37). In den psychomotorischen Settings arbeiten wir daran, die segmentierten Teile zusammen zu fügen. Während dieses Prozesses hat das Kind die Möglichkeit, sich auf neue Art und Weise wahrzunehmen. Es handelt sich um einen intensiven dynamischen und lebendigen Prozess, in dem die Psychomotorik-TherapeutIn durch den tonisch-emo- [ 15 ] [ 15 ] Sardo • Autismus, eine Beziehungsherausforderung 1 | 2025 tionalen Dialog in eine Beziehungsdynamik mit dem Kind eingebunden ist (Esser 2009, 126 ff ). Die psychomotorische Praxis Die Herangehensweise des Zusammenfügens des Körpers beinhaltet die Kontaktaufnahme (s. o.), die Bemutterung, den Körperaufbau und die Überwindung der Angst vor dem Fallen. Es gilt, das Kind dort abzuholen, wo es sich gerade befindet. Mit einer mütterlichen Haltung und Herangehensweise der Psychomotorik-TherapeutIn findet beim Kind insbesondere die Förderung der Basissinne (Berührungssinn, Propriozeption und Gleichgewichtssinn) sowie die Arbeit an den Gliedern (Hände / Arme und Füße / Beine), Becken und Rücken statt (Cremades Carceller 2022, 25 ff ). Es handelt sich um beziehungsorientierte körperliche Aktivitäten, die dem Kind dabei helfen, seinen Körper aufzubauen. Wenn das Kind eine gewisse Stabilität in seiner Körperstruktur erreicht hat, werden ihm die ersten »sich fallen lassen« Spiele angeboten, die dabei helfen, die Angst vor dem Fall zu überwinden. Diese werden gemeinsam mit der Psychomotorik-TherapeutIn erlebt. Wenn sich ein Kind mit Lust und Freude herunterfallen lässt, hat es einen sehr großen Schritt in seiner emotionalen Entwicklung geschafft (Aucouturier 2006, 40 ff ). Kontaktaufnahme: Fallbeispiel Jean- - Das Drehen Jean ist ein 6 Jahre altes Mädchen, das in 3 Monaten eingeschult wird. Sie spricht nicht und summt oft bekannte Lieder. Insgesamt haben bis heute 5 psychomotorische therapeutische Sitzungen stattgefunden, in denen wir uns nähergekommen sind. Jean ist ständig auf der Suche nach Bändern, Seilen, Fäden, die sie in ihrer Hand hält und dreht. Im Stehen oder in der Hocke tut sie es stundenlang. Im Stehen spannt sie ihren gesamten Körper an, in der Hocke hüpft sie an Ort und Stelle. Ich nehme das Thema Drehen in Verbindung mit der erhöhten Körperspannung bei ihr wahr. Am Boden sitzend nehme ich das andere Ende des Seiles und fange an, es zu drehen. Sie zieht an dem Seil und zeigt mir, dass mein Vorschlag für sie nicht passend ist. Ich ziehe weiter an dem Seil. Sie schaut mir in die Augen, wir ziehen gemeinsam und treten durch das Seil in Kontakt. Ich teile diese Erfahrung mit Jean, ich tue das Gleiche, ich ziehe an dem Seil, ich übernehme ihre Körperhaltung, ihre Mimik und ihren Rhythmus. Ich ahme die Mundgeräusche und die gesummten Lieder nach. Zuerst wickele ich mich mit dem Band ein und aus und dann, da der Kontakt mit Jean es ermöglicht, wickele ich damit ihren Oberkörper dreimal ein. Ich ziehe leicht am Seil und beobachte mit Freude, dass sie sich dreht und der Richtung des Seils folgt. Ich nehme an Jeans Handeln teil, ich interessiere mich für ihre Spielthemen und für ihr bevorzugtes Objekt. Ich biete Jean beziehungsorientierte passende Vorschläge, die dazu dienen, die Begegnung zu bereichern. In einer Ecke des Raumes befindet sich ein Therapiekreisel. Jean kniet sich davor und fängt an, mit ihren Händen den Kreisel zu drehen. Sie beugt ihren Kopf leicht nach vorne, sodass die Spitzen ihrer langen Haare die Oberfläche des Kreisels berühren. Ich nähere mich an, nehme ein Seil und lasse ein Ende leicht die Kreiseloberfläche berühren. Plötzlich steht sie auf und nähert sich schnell der Tür. Sie hat Fluchttendenzen und zeigt, dass sie die Halle des Kindergartens verlassen will. Ich gehe zu ihr, sie stampft mit den Füßen auf den Boden, lamentiert und greift nach der Türklinke. Ich mache die Tür wieder zu, nehme sie in meine Arme, halte ihren Kopf und ihren Rücken und drehe mich mit ihr in der Halle. Ich spüre ihre körperliche Entspannung und sie schenkt mir ein Lächeln. Wir lächeln uns gegenseitig an. Danach lege ich sie auf eine Matte. Dort entstehen körperbezogene Spiele, die »Wickeltischspiele«, wie Marion Esser (Ausbilderin der ASEFOP Psychomotorische Praxis Aucouturier ZAPPA Bonn) sie in den Seminaren bezeichnet. Ich klopfe mit meinen Fingerkuppen auf ihre Knochen und Gelenke und begleite es sprachlich. Ich summe [ 16 ] 1 | 2025 Forum Psychomotorik rhythmisch im Einklang mit dem Klopfen. Das Klopfen wird von Jean als sehr entspannend erlebt. Es entsteht Blickkontakt, Jean hält inne und genießt die Zweisamkeit. Bemutterung, Körperaufbau und Überwindung der Angst vor dem Fall: Fallbeispiel Jack-- Die Bewegungslosigkeit Jack ist gerade drei Jahre alt, als ich mit ihm angefangen habe zu arbeiten. Jack hat einen sehr unsicheren Gang. Bei jedem Schritt ist der Kampf von ihm gegen das Gleichgewicht zu beobachten. Aus diesem Grund wird er von den Eltern und besonders vom Vater getragen. Jack kann Frustrationen kaum aushalten. Er fängt sofort an zu weinen und bekommt Wutanfälle, wenn etwas nicht nach seiner Vorstellung abläuft. Er bleibt entweder auf dem Schoß seiner Eltern oder liegt am Boden und schaut sich Videos oder Spiele auf einem Gerät an. Jack wurde mit Autismus diagnostiziert. Er hat eine Zwillingsschwester, die gesund, sehr agil und sehr kommunikativ ist. In sechs Wochen wird Jack in einen Regelkindergarten gehen. Wenn ein Kind eine massive Hypersensibilität im Gleichgewichtssinn zeigt, ist es für es schwierig, seinen Körper in Bewegung zu spüren, und die darauffolgende Freude und Lust am Handeln kann sich nicht entwickeln. In der ersten Sitzung mit Jack sind beide Eltern anwesend. Jack sitzt auf dem Schoß seines Vaters und wir unterhalten uns. Auf dem Tisch liegen ein Wusch-Ball, ein Spielauto und ein Massagegerät. Jack interessiert sich für den Wusch-Ball. Es gefällt ihm, die Gummifäden an dem Ball zu ziehen. Nach einer Weile signalisiert er seinem Vater, dass er auf den Boden gehen möchte. Er fängt an zu laufen und nähert sich einem Fenster, das ziemlich niedrig ist. Am Fenster angekommen, schaut er nach draußen. Ich schaue zuerst mit ihm aus dem Fenster, stelle dann um ihn herum im Halbkreis eine Reihe von kleinen Schaumstoffwürfeln und schaue weiter nach draußen. Er dreht sich um, sieht die Barriere aus Schaumstoffwürfeln, nähert sich ihnen skeptisch, berührt das Material mit den Händen, und ich merke, dass er gar keine Kraft einsetzt, um die Würfel wegzuschieben. Jack fängt an zu weinen und sieht verloren aus. Er weiß nicht, was er tun soll, um wieder zu seinen Eltern zu gelangen. Ich schaffe zwischen den Schaumstoffwürfeln etwas Platz, nehme seine Hand und bringe ihn zu seinen Eltern. 15 Monate lang habe ich eine Stunde pro Woche mit Jack auf einer Matte gearbeitet, auf der Wickeltischspiele stattfanden. Ab und zu habe ich ihn in eine Hängematte gelegt, die ich leicht zum Schaukeln gebracht habe. Bei der Arbeit auf der Matte war es sehr wichtig, dass sein Rücken gut stabilisiert ist (Cremades Carceller 2022, 25 ff ). In Rückenlage habe ich ein Kissen unter seine Beine gelegt, um die Spannung im Beckenbereich zu neutralisieren. In dieser Stellung hatte ich gute Möglichkeiten, seinen Körper zu massieren, seinen Körperteilen viel Aufmerksamkeit zu schenken, und Blickkontakt konnte während der körperbezogenen Aktivitäten stattfinden. Es war eine intensive Arbeit, die darauf ausgerichtet war, ihn seine Körpersegmente spüren zu lassen und zu verbinden, was ausschlaggebend für die Bildung des Körperbildes ist (Haag 2024, 117 ff ). Ich habe mir Zeit genommen, um Jack basale Erfahrungen anzubieten. Die vermittelten starken propriozeptiven Reize helfen ihm, die einzelnen Körperteile und seine körperliche Struktur zu spüren. All dies findet in einem kontinuierlichen, dynamischen Austausch mit mir statt, der auf Freude basiert. Die Spiele, die sich während dieses Kontakts entwickeln, sind unzählig. Von Bedeutung bleibt die emotionale Teilnahme der TherapeutIn, mit dem Kind auf dieser Ebene zu interagieren. Im Laufe der Zeit traut sich Jack deutlich mehr. Er signalisiert es, sodass ich meine Spielvorschläge erweitere. Ich spiele »Hoppe, hoppe, Reiter«, ein Spiel mit starken vestibulären Reizen. Ich sitze auf der Matte und drücke ihn in Fötus-Stellung, sodass sein Rücken an die Vorderseite meines Körpers gedrückt wird, und lasse ihn ein Gefühl vom Fallen erleben, indem ich ihn langsam wieder auf die Matte setze. Das Spiel [ 17 ] [ 17 ] Sardo • Autismus, eine Beziehungsherausforderung 1 | 2025 wiederholt sich. Jack dreht leicht den Kopf zu mir zu, hält Blickkontakt und lächelt mich an. Er lacht, er macht mit. Wir trauen uns gemeinsam mehr zu, sodass er sich langsam allein im Raum fortbewegt. Heute läuft er in den Raum, klettert auf eine schiefe Ebene und beginnt, mit Freude und Lust seinen Körper in Bewegung zu spüren. Allmählich arbeite ich seit gut zwei Jahren mit Jack. Er besucht heute einen heilpädagogischen Kindergarten, in dem er sehr gut gefördert wird. Im letzten Elterngespräch berichten die Eltern, dass Jack jetzt allein die Treppen heruntersteigen kann. Er beginnt, Zusammenhänge zu verstehen. Seine Frustrationstoleranz ist jedoch noch sehr niedrig. Wir werden uns noch lange treffen. Fazit In der Psychomotorik-Therapie mit einem autistischen Kind geht es erstmal darum, eine vertrauensvolle Beziehung zu dem Kind aufzubauen. Sich zuerst für die Vorliebe des Kindes zu interessieren, heißt, dem Kind respektvoll zu begegnen. Nach und nach entwickelt sich ein einzigartiger Kontakt, in dem der Körper des Kindes strukturell aufgebaut wird. Die auf Freude basierende Interaktion vermittelt dem Kind die Bildung eines positiven Körperbildes, das für die weitere emotionale Entwicklung von hoher Bedeutung ist. Literatur Aucouturier, B. (2005): Der Ansatz Aucouturier- - Handlungsphantasmen und psychomotorischer Praxis. projekta Verlag, Bonn Aucouturier, B. (2017): Handeln, Spielen, Denken- - Eckpfeiler der psychomotorischen Praxis in Prävention und Therapie. projekta Verlag, Bonn Autismus Deutschland e. V.: www.autismus.de/ wasist-autismus.html; 28.08.2024 Ayres A. J. (2016): Bausteine der kindlichen Entwicklung. 6., korr. Aufl. Springer, Berlin / Heidelberg, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-642-97427-4 Cremades Carceller, M. A. (2022): Den Körper aufbauen, den Körper bewohnen- - über den Körper zur Person werden. Menschen. Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten. Psychomotorik 45(3 / 4), 25-31 Esser, M. (2009): Beziehung wagen-- Mit Körper und Bewegung (psycho-) therapeutisch arbeiten. projekta Verlag, Bonn Haag, G. (2024): Weitere Überlegungen zur Konstruktion des Körper-Ichs. In: Mitrani J. L. / Mitrani T. (Hrsg) Psychodynamische Therapien der Autismus- Spektrum-Störungen. Frances Tustin heute. Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt, 117-137 Kokemoor, K. (2023): Entwicklungsbegleitung autistischer Kinder in Krippe und Kita. Verlag Herder, Freiburg / Basel/ Wien Lang-Langer, E. (2024): Autismus und Trauma. Genese und psychodynamische Behandlung bei Kindern und Jugendlichen. Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt Laznik, M.-C. (2012): Con voce di Sirena. Storie di bambini autistici, di bimbi troppo sensibili e die loro genitori. Editori Internazionali Riuniti, Roma Meltzer D. et al. (2011): Autismus. Eine psychoanalytische Erkundung. Edition diskord im Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt Sardo, B. (2018): Emotionsentwicklung und Psychomotorik. In: Jessel, H. (Hrsg) Lehren und Lernen in der Psychomotorik II. Verlag Aktionskreis Psychomotorik, Lemgo, 45-74 Tustin, F. (2005): Autistische Barrieren bei Neurotikern. Edition diskord, Tübingen Tustin, F. (2008): Der autistische Rückzug. Edition diskord, Tübingen Winnicott, D. W. (2015): Vom Spiel zur Kreativität. 14. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Die Schriftleitung und der Verlag freuen sich über Ihr Feedback zu diesem Artikel unter journals@reinhardt-verlag.de Der Autor Bruno Sardo, Sportpädagoge, Motopäde, Ausbildungen in Spieltherapie bei der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie und der Psychomotorischen Praxis Aucouturier. Lehrqualifikation Psychomotorik DAKP. Er arbeitet im Autismus-Therapiezentrum in Münster und ist Dozent bei der DAKP.
