Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2025
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Impulse für die Praxis: Streicheln, Füttern, Begegnen
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2025
Lena Gorek-Heselmeyer
Evelyn Gütle
Die Psychomotorik als Konzept, Menschen in ihrer Entwicklung zu begleiten, unter Berücksichtigung der Wechselbeziehung von Bewegen, Wahrnehmen und Erleben (Krus 2015, 53), hat ihren Ursprung in der Turnhalle. Mittlerweile hat sich die Psychomotorik weiterentwickelt. Es entstehen neue Räume. Späker hat bspw. aufgezeigt, wie Psychomotorik in der Natur stattfinden kann (Späker 2023).
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[ 36 ] 1 | 2025 Impulse für die Praxis [ Impulse für dIe praxIs ] Streicheln, Füttern, Begegnen psychomotorik auf dem Bauernhof-- ein Beispiel für die praktische umsetzung lena Gorek-Heselmeyer, evelyn Gütle Der Bauernhof als Raum für Psychomotorik Die Psychomotorik als Konzept, Menschen in ihrer Entwicklung zu begleiten, unter Berücksichtigung der Wechselbeziehung von Bewegen, Wahrnehmen und Erleben (Krus 2015, 53), hat ihren Ursprung in der Turnhalle. Mittlerweile hat sich die Psychomotorik weiterentwickelt. Es entstehen neue Räume. Späker hat bspw. aufgezeigt, wie Psychomotorik in der Natur stattfinden kann (Späker 2023). An dieser Stelle soll dargestellt werden, wie Elemente der Psychomotorik auf dem Bauernhof, unter Berücksichtigung theoretischer Aspekte, umgesetzt werden können. Ein Bauernhof kann als besonderer Raum für vielfältige Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrungen gesehen werden, die gleichzeitig Erfahrungen der eigenen Wirksamkeit, eine besondere Begegnung mit den eigenen Entwicklungsthemen und den Erwerb von Handlungskompetenz ermöglichen. Handlungskompetenz erwerben Psychomotorische Angebote bieten einen optimalen Rahmen für die selbsttätige und aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt und sind somit förderlich für die Entwicklung (Fischer 2019, 52). Durch die vielseitigen Ich-, Sach- und Sozialerfahrungen entwickeln sich Kompetenzen, die zusammengenommen die Handlungskompetenz bilden (Kuhlenkamp 2017, 42). Die Aufgaben und Spielmöglichkeiten auf einem Bauernhof heben sich deutlich von dem ab, was die meisten Klient: innen in ihrem Alltag zur Verfügung haben. Die Ich-Erfahrungen beginnen bereits bei den Gerüchen und bei der Auseinandersetzung mit den Wetterverhältnissen. Hier kann gezielt entschieden werden, ob das Angebot auf den Außenflächen oder in den Stallungen stattfindet. Die vielfältigen Sacherfahrungen auf dem Bauernhof ergeben sich aus den verschiedenen Futtermitteln und Maschinen sowie Utensilien für Tiere, wie Bürsten zum Putzen von z. B. Eseln und Ziegen. Auf einem Bauernhof leben in der Regel viele Tiere. Der Kontakt mit ihnen bietet Sozialerfahrungen, die sich von eben solchen Erfahrungen mit Menschen abgrenzen. Dadurch ist es insbesondere für Klient: innen mit negativen Erfahrungen einfacher, in Kontakt mit den Tieren zu treten. Selbstwirksamkeitserfahrung Selbstwirksamkeitserfahrungen sind grundlegend bei der Bildung des Selbstkonzeptes (Zimmer 2022, 64). Sich selbst als wirksam zu erleben, bedeutet Einfluss zu nehmen und eigene Kompetenzen zu erfahren. Ein Bauernhof bietet per se viele Möglichkeiten, die eigene Wirksamkeit zu spüren: bei der Annäherung an die Tiere ist deren Reaktion unmittelbar spürbar, wie bspw. beim Führen eines Pferdes. Bei der Versorgung der Tiere, wie dem Ausmisten des Stalles, lässt sich ein sofortiges Ergebnis sehen. Eine weitere Besonderheit auf einem Bauernhof, in Abgrenzung zu anderen Höfen der Tiergestützten Intervention, ist die Lebensmittelproduktion, die an diesem Punkt Erwähnung finden sollte. Bei Angeboten mit dem Schwerpunkt Kühe, kann bspw. Butter durch Schütteln von Sahne selbst hergestellt werden. Entwicklungsthemen Zentral in der Psychomotorik ist der Umgang mit den individuellen Entwicklungsthemen. Ein Bauernhof ist für die meisten Menschen eher außergewöhn- [ 37 ] [ 37 ] Impulse für die Praxis 1 | 2025 lich, wodurch dieses Setting eine besondere Art der Auseinandersetzung mit den Entwicklungsthemen bietet. Späker spricht im Kontext des psychomotorischen Arbeitens in der Natur von »Entwicklungsthematische[r] Selbsterfahrung« (Späker 2023, 33). Übertragen auf den Kontakt mit den Tieren, bedeutet dies vor allem eine leibliche Begegnung mit den Entwicklungsthemen, da wir hier auf andere Formen der Kontaktaufnahme angewiesen sind. Es kann ein tonischer Dialog zwischen Tier und Mensch entstehen, welcher an erste Dialogerfahrungen im Leben erinnert. Die Bedeutsamkeit für die Entwicklung kann über den Verstehenden Ansatz nach Seewald (2007) erklärt werden. Seewald sieht Entwicklung als Prozess, in dem sich der Mensch von der Umwelt auf einer leiblichen Ebene aufgefordert fühlt und auf sie reagiert (Seewald 2007, 44). Im fortschreitenden Arbeiten mit den Tieren werden die Klient: innen leiblich an weitere Entwicklungsthemen erinnert, wie bspw. Nähe und Distanz, Versorgen und Versorgt werden, Führen und Folgen, Tragen und Getragen werden. Das Stroh als ein Erfahrungsfeld im Eltern- Kind-Kurs Das Konzept »Den Bauernhof mit allen Sinnen erleben« von Gorek-Heselmeyer und Netthöfel (2022) zeigt, wie die o. g. Theorie in der Praxis umgesetzt werden kann. In Kooperation mit einer Erzieherin aus dem kleinkindpädagogischen Bereich, wurde dieses Konzept für Eltern mit Kindern von 9 Monaten bis 4 Jahren entwickelt. An 8 Terminen haben Eltern-Kind-Paare die Möglichkeit, verschiedene Erfahrungen auf dem Bauernhof zu machen, um so die gesamte kindliche Entwicklung zu fördern und die Eltern-Kind-Beziehung zu stärken. Jede Einheit beginnt mit einem Begrüßungskreis, dann folgt ein Angebot unter einem thematischen Schwerpunkt, inklusive Picknick, und schließt mit einem Abschlusskreis. Themen sind bspw. Rinder / Kühe oder Trecker. Sehr beliebt ist das Thema Stroh, welches hier ausführlicher, unter den entwicklungsförderlichen Aspekten, beschrieben werden soll. Stroh besteht aus Getreide, welches gedroschen wurde. Auf einem Bauernhof wird es in erster Linie genutzt, um den Tieren als Einstreu im Winter zu dienen. Es wird traditionell in einer Scheune oder einem sogenannten ›Heugulf‹ gelagert, welcher hier für das Angebot als Erfahrungs- und Spielmöglichkeit genutzt wird. Schon der Beginn im Sitzkreis auf dem Stroh bietet eine erste taktile Erfahrung. Danach stellt sich für die Kinder die Herausforderung, auf die obere Ebene zu gelangen. Dort können sie frei explorieren. Als Anreize stehen das Strohbad, ein Balancierpfad und vielseitige Versteckmöglichkeiten zur Verfügung. Das Bewegen auf dem Stroh stellt Anforderungen an die Koordination und das Gleichgewicht. Auf Grund der weichen und zugleich kompakten Beschaffenheit wird die taktil-kinästhetische Wahrnehmung stimuliert und zudem der Geruchssinn durch das Material besonders angesprochen. Damit das Wagnis gelingen kann, brauchen die Kinder Sicherheit und Freiheit zugleich. Es ist die Aufgabe der Eltern, ihnen diese zu geben. Da die Eltern sich hier sehr unterschiedlich verhalten und teilweise unsicher sind, stellt sich das Hofteam unterstützend zur Seite. Ein erster Schritt ist die Einladung zur Beobachtung des Kindes, um herauszufinden, was es wann braucht. Ziel ist es, dass die Abb. 1: Das Stroh wird selbstständig erklommen. (Alle Abb.: Lena Gorek-Heselmeyer) Abb. 2 und 3: Das Stroh stimuliert die taktil-kinästhetische Wahrnehmung auf vielfältige Art. [ 38 ] 1 | 2025 Impulse für die Praxis Eltern-Kind-Beziehung, durch das Signal Ich vertraue dir, gestärkt wird. Beim Spielen im Stroh treffen die Kinder öfters mal auf die Hofkatzen, die sich dort ausruhen. Werden die Katzen gefunden, kommt es meist zu einer Kontaktaufnahme. Die Katzen reagieren sehr feinfühlig auf die Kinder. Bei entsprechender Ruhe und Ausgeglichenheit schmiegen sie sich an, flüchten aber auch, wenn es zu viel ist. Die Kinder können so ihr Verhaltensrepertoire ausprobieren und erweitern. Interessant ist hier, wie die Katzen und Kinder wechselseitig aufeinander einwirken. Durch das Zusammenspiel auf einer leiblichen Ebene, kann hier von einem tonischen Dialog zwischen Mensch und Tier gesprochen werden. Fazit In diesem Artikel wurde aufgezeigt, wie vielfältig der Erfahrungsraum Bauernhof ist und welche Möglichkeiten für intensive Körper- und Leiberfahrungen bestehen. Der bedeutendste Unterschied zu psychomotorischen Angeboten in anderen Settings stellt der Einbezug der Tiere dar. Durch den Übertrag der psychomotorischen Elemente auf das Setting Bauernhof entstehen neue Räume und Wege für die Psychomotorik. Literatur Fischer, K. (2019): Einführung in die Psychomotorik. 4. Aufl. Ernst Reinhardt, München Gorek-Heselmeyer, L., Netthöfel, L. (2022): Eltern-Kind-Kurse auf dem Bauernhof: Den Bauernhof mit allen Sinnen erleben. Handzettel zum Kurs. Unveröffentlicht. Krus, A. (2015): Psychomotorik- - Gegenstandsbestimmung. In: Krus, A., Jasmund, C. (2015) (Hrsg.): Psychomotorik in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern. Kohlhammer, Stuttgart, 37-56 Kuhlenkamp, S. (2017): Lehrbuch Psychomotorik., Ernst Reinhardt, München Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in Psychomotorik und Motologie. Ernst Reinhardt, München Späker, T. (2023): Psychomotorik in der Natur. Ernst Reinhardt, München Zimmer, R. (2022): Handbuch der Psychomotorik. 15. Aufl. Herder, Freiburg Die Autorinnen Evelyn Gütle staatl. anerk. Erzieherin, staatl. anerk. Motopädin, Dozentin für Psychomotorik dakp, Studentin im Bachelorstudiengang Interdisziplinäre Physiotherapie-Motologie- Ergotherapie an der Hochschule Emden / Leer Lena Gorek-Heselmeyer staatl. anerk. Sozialarbeiterin / -pädagogin, Motologin (M.A.), Reittherapeutin, Bauernhofpädagogin, Dozentin im Bereich Motologie und Tiergestützte Interventionen mit dem Schwerpunkt Pferd, Leitung Hof Schatteburg: Mensch-- Tier-- Natur Kontakt evelyn.guetle@outlook.de lena@hof-Schatteburg.de www.hof-schatteburg.de Abb. 4: Kontakt zwischen Kind und Hoftier DOI 10.2378/ mot2025.art07d Dank an die Fachgutachter: innen Verlag und Schriftleitung bedanken sich ganz herzlich bei folgenden Personen für ihre differenzierten und sorgfältigen Reviews der Artikel, die für die »motorik« im Zeitraum von September 2023 bis September 2024 eingereicht wurden: Prof.in Dr. Liane Simon (D) Prof. Gerd Hölter (D) Dr. des. Fiona Martzy (D) Dr. Richard Hammer (D) Prof. Dr. Holger Jessel (D) Prof. Dr. Stefan Schache (D) Prof.in Dr. Britta Dawal (D)
