eJournals Motorik 48/1

Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2025
481

Bericht: Community Dance als motologischer Ansatz der Persönlichkeitsentfaltung in (Hoch-)Schulen

11
2025
J. Lemmer Schmid
Mara Natterer
In Zeiten rasanter Transformationsprozesse, die durch Digitalisierung, Künstliche Intelligenz oder überkomplexe Problemlagen, wie z.B. Klimawandel oder sozialer Ungleichheit ausgelöst werden, ist vor allem auch das Bildungssystem gefragt, die heranwachsenden Generationen nicht nur durch Fachwissen, sondern auch in ihrer Persönlichkeit bestmöglich auf die aktuellen Herausforderungen vorzubereiten (HOPE 2024).
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[ 43 ] [ 43 ] Aktuelles / Kurz berichtet 1 | 2025 Berichte Community Dance als motologischer Ansatz der Persönlichkeitsentfaltung in (Hoch-)Schulen. Ein Interview mit Mara Natterer In Zeiten rasanter Transformationsprozesse, die durch Digitalisierung, Künstliche Intelligenz oder überkomplexe Problemlagen, wie z. B. Klimawandel oder sozialer Ungleichheit ausgelöst werden, ist vor allem auch das Bildungssystem gefragt, die heranwachsenden Generationen nicht nur durch Fachwissen, sondern auch in ihrer Persönlichkeit bestmöglich auf die aktuellen Herausforderungen vorzubereiten (HOPE 2024). Hierfür müssen sogenannte Zukunftskompetenzen definiert und in ihrer didaktischen Adressierung in Schule und Hochschule neu etabliert werden. Im deutschen Hochschulqualifikationsrahmen (HQR 2017) ist mit dem Begriff der »professionellen Handlungskompetenz« hierfür ein passendes Bildungsziel definiert worden. Verantwortungsbewusstes und reflektiertes Handeln basiert hiernach nicht nur auf Fach- und Methodenkompetenzen, sondern auch auf Sozial- und Selbstkompetenzen (ebd., 4). Während die Förderung von Sozialkompetenzen, z. B. durch Gesprächsführungsseminare, in der Hochschullehre mittlerweile üblich sind, erhält die Förderung von Selbstkompetenzen, wie z. B. die Fähigkeit zur (emotionalen) Selbstregulation, Gesundheitskompetenz, Anpassungsbereitschaft sowie kreatives und kritisches Denken, meist keinen expliziten Raum in den Lehrplänen (Schmid 2019). Vor diesem Hintergrund wurde im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Hochschule Emden / Leer untersucht, inwieweit motologische Ansätze diese Lücke im Bildungssystem zielführend füllen könnten. Hierzu wurden fachbereichsübergreifend körper- und bewegungsorientier te Seminarangebote durch qualitative Interviews hinsichtlich ihrer Akzeptanz und Wirkung evaluiert. Anhand einer Reihe unterschiedlichster Blockseminare von psychomotorischen Angeboten über Acroyoga und Shiatsu bis hin zu Tanzimprovisation konnten zentrale Prinzipien für eine leiborientierte Lehrpraxis zur Förderung von Selbstkompetenzen herausgearbeitet werden. Auf der einen Seite zeigte sich, dass ganzheitliche Lernräume, in denen nicht nur die intellektuelle Aufnahme- und Antwortfähigkeit, sondern auch die ganz persönliche Erfahrungsebene adressiert wird, auch eine Reihe Herausforderungen und Risiken bergen. Hierzu zählen z. B. die Wahrung der Privatsphäre, der Autonomie sowie auch die Sicherstellung trauma-sensibler Erfahrungsräume. Gleichzeitig konnten auch innovative Praxisanregungen gewonnen werden, wie z. B. leiborientierte Reflexionsmethoden, welche die Integration kognitiver Lerninhalte mit einer persönlichen Haltung vertiefen (Schmid 2023). Der folgende Interviewausschnitt mit der Tänzerin und Dozentin Mara Natterer zeigt am Beispiel »Community Dance«, wie soziale und personale Kompetenzen im Hochschulkontext gefördert werden können. Die hier ausgeführten Überlegungen lassen sich gleichermaßen auf Primär- und weiterführende Schulen übertragen. Abb. 1: Mara Natterer: Freischaffende Tänzerin, Tanz-Dozentin und Craniosakraltherapeutin (Lichtensteig, CH), (Foto: Michelle Ettlin) [ 44 ] 1 | 2025 Aktuelles / Kurz berichtet Was ist Community Dance und was fasziniert Dich an diesem Ansatz? Community Dance ist eine Form des Tanzes, die Menschen aller Altersgruppen, Fähigkeiten und Hintergründe zusammenbringt, um gemeinsam Tanz zu erleben. Es ist ein inklusiver Ansatz, der sich auf die Beteiligung und das Gemeinschaftsgefühl konzentriert, anstatt auf technische Perfektion oder Leistung. Community Dance kann unterschiedliche Tanzstile umfassen und in verschiedenen Kontexten praktiziert werden, wie zum Beispiel in Schulen, auf öffentlichen Plätzen oder im Krankenhaus. Der Fokus liegt dabei auf dem kreativen Prozess. Die Tanzerfahrung kann eine Reihe von Qualitäten fördern, welche für Schüler: innen und Studierende aller Fachrichtungen eine wichtige Rolle spielen: die persönliche Motivation, Fokus und Zielgerichtetheit, Schulung der Wahrnehmung und Stärkung des Vertrauens in sich selbst und andere. Bei dieser Arbeit wird ein Lern- und Erfahrungsfeld für Begegnung mit sich selbst und anderen eröffnet, welches auf gegenseitigem Respekt und Wertschätzung basiert. Mich fasziniert das Gefühl der Lebendigkeit, das beim Tanzen entsteht, die Möglichkeit, uns selbst zu spüren und dadurch mit unserer Umwelt in authentischen Kontakt zu treten. Community Dance scheint großen Wert auf »Gemeinschaft« zu legen. Was bedeutet dieses Wort für Dich? Das Wort Gemeinschaft impliziert für mich die Verantwortungsbereitschaft, sich gegenseitig beim Wachsen und Lernen zu unterstützen und einen Raum zu schaffen, in dem alle ihr volles Potenzial entfalten können- - egal, welches gemeinsame Ziel verfolgt wird, ob als Arbeitsgemeinschaft auf Zeit oder auch als Lebensgemeinschaft. Ich glaube, dass nur gemeinschaftliches Denken und Handeln wirklich zukunftsfähig ist und wir daher den Fokus darauflegen müssen, was uns als Menschen verbindet. Wie können Schüler: innen und Studierende diese Werte im Tanz-Unterricht erfahren? Wie arbeitest Du genau? Das Kernstück der Arbeit ist die persönliche Erfahrung, das Erleben dieser Werte »am eigenen Leib«. Durch praktische Übungen aus Tanz, Bewegung und somatischen Ansätzen wird die Wahrnehmung für den eigenen Körper, das Gegenüber und den Raum geschult, die Kreativität der Teilnehmenden wachgekitzelt und eine Vertrauensbasis in der Gruppe geschaffen. Zum Beispiel die Erfahrung, sich fallen zu lassen, zu vertrauen, von der Gruppe aufgefangen zu werden (Abb. 2). Hierbei geht es neben der Selbsterfahrung darum, ihnen ein Repertoire von Übungen mitzugeben, welche sie auch in ihren eigenen Lebens- und Arbeitskontexten anwenden können. Ein weiteres wichtiges Element ist eine performative Improvisation im öffentlichen Raum- - im Einkaufszentrum, auf dem Marktplatz … Dabei praktizieren wir einen Zustand der erhöhten Präsenz, des Lauschens aufeinander und auf die unmittelbare Umgebung, und nehmen dies als Inspiration für Bewegungsimpulse. Wo verläuft die Grenze zwischen alltäglicher Bewegung und Tanz? Ab wann werde ich als »Performerin« im öffentlichen Raum wahrgenommen? Und was macht das mit mir? Diese Erfahrung erweitert die wahrgenommenen Grenzen unseres Handlungsspielraums und kann zu einem Gefühl von Selbstermächtigung beitragen, auf individueller und kollektiver Ebene. Zudem gibt es einen Theorieteil, der Überblick über den Ursprung, die Arbeitsweise und einige Community Dance-Projekte weltweit gibt. Ein bekanntes Beispiel ist der Dokumentarfilm »Rhythm is it«, der zeigt, wie Royston Maldoom an Berliner Schulen in Brennpunktvierteln in Zusammenarbeit mit der Berliner Philharmonie eine Tanzperformance entwickelte (Meyer / Dörken 2004). Eine abschließende gemeinsame Reflexion der während des Seminars Abb. 2: Praxiserfahrung »Community Dance«, Blockseminar (Foto: Michelle Ettlin) [ 45 ] [ 45 ] Aktuelles / Kurz berichtet 1 | 2025 gemachten Erfahrungen hilft, diese auf einer tieferen Ebene zu integrieren. Wie schaffst Du es, dass sich Menschen und hier Studierende sich überhaupt auf die Bewegungsform Tanz und Improvisation einlassen? Ich versuche die Studierenden zu fordern, aber nicht zu überfordern. Herausforderung ist wichtig für die volle Aufmerksamkeit der Teilnehmenden und um persönliche Erfolgserlebnisse zu ermöglichen. Das psychomotorische Freiwilligkeitsprinzip für die allgemeine Akzeptanz und Bereitschaft, sich auf etwas Neues einlassen zu wollen, ist hier essenziell. Für die meisten ist vor allem die Intervention im öffentlichen Raum eine außergewöhnliche Erfahrung, die bleibende Eindrücke hinterlässt. Oft höre ich von Studierenden, sie seien überrascht gewesen, sich so frei, kreativ und mit der Gruppe verbunden gefühlt zu haben. Mitzuerleben, wie Menschen sich darüber freuen, ihren persönlichen Spiel- und Handlungsraum zu erweitern und sich damit ein Stück Freiheit erobern, berührt mich sehr. Abschließende Bemerkungen Viele Studierende berichteten im Anschluss des Blockseminars in einer anonymen Online-Befragung, dass sie durch die Übungen und Performances neue Perspektiven auf alltägliche Situationen gewonnen und das Gefühl haben, nun offener und selbstbewusster durch die Welt zu gehen. Zudem wurde die Bedeutung von Inklusion und das Überwinden persönlicher Grenzen betont. Die Erfahrungen im Seminar stärkten nicht nur die körperliche und geistige Präsenz, sondern auch die Fähigkeit, im sozialen und beruflichen Kontext selbstbestimmter zu agieren und zu interagieren. Insgesamt zeigen auch die Ausführungen von Mara Natterer, dass Community Dance durch die kreative und inklusive Tanzpraxis personale Kompetenzen fördert und ein Bewusstsein für Gemeinschaft schafft. Diese Form des Tanzes bietet eine wertvolle Ergänzung zu traditionellen Lehrmethoden und verdeutlicht, wie motologische und in diesem Fall tänzerische Ansätze einen bedeutenden Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung in Bildungsinstitutionen leisten können. J. Lemmer Schmid und Mara Natterer Literatur HOPE (2024): Willkommen bei HOPE. In: www.hochschulnetzwerk-persönlichkeitsbildung.eu, 18.08.2024 HQR (2017): Qualifikationsrahmen für deutsche Hochschulabschlüsse - Kompetenzmodell. In: https: / / www. hrk.de/ fileadmin/ redaktion/ hrk/ 02- D o k u m e n t e / 0 2 - 03 -S t u d i u m / 0 2 - 03-02-Qualifikationsrahmen/ 2017_ Qualifikationsrahmen_HQR.pdf, 4, 15.09.2024 Meyer, R., Dörken, T. (2004): Rhythm is it! [Film]. BOOMTOWN MEDIA GmbH & Co. KG, Berlin Schmid, J. L. (2023): Leib- und bewegungsorientierte Reflexionsmethoden- - motologische Ansätze zur Förderung von Verantwortungsbereitschaft. In: Studer, J., Sotoudeh, E, Abplanalp, S. (Hrsg.): Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen fördern. Vol. 2: Reflexionsprozesse verstehen und begleiten, 1. Aufl. Hep Verlag, Bern, 83-98 Schmid, J. L. (2019): Selbstkompetenz, Leibwahrnehmung und Somatics. In: Göhle, H., Allkemper, S. (Hrsg.): Handlungshorizonte zwischen Theorie und Praxis-- Gegenseitige Anstöße in Psychomotorik und Motologie. Wissenschaftlicher Verlag für Psychomotorik und Motologie (WVPM), Marburg, 43- 92 Anschrift Prof. Dr. J. Lemmer Schmid Professur für Motologie Hochschule Emden / Leer Post@Joerg-Lemmer-Schmid.de Mara Natterer freischaffende Tänzerin, Tanzdozentin und Craniosakraltherapeutin (Lichtensteig, CH) natterermara@gmail.com Abb. 3: Mara Natterer, öffentliche Performance im »Square« der Hochschule St. Gallen (HSG), (Foto: Michelle Ettlin)