eJournals motorik48/1

motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2025.art04d
7_048_2025_1/7_048_2025_1.pdf11
2025
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Forum Psychomotorik: Jugendlichen mit Borderline-Erleben ganzheitlich begegnen

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2025
Nathalie Hippenstiel
Stephanie Bahr
Der Beitrag stellt Perspektiven für die Begleitung von Jugendlichen mit Borderline-Erleben in der Bewegungstherapie der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie durch Psychomotorik vor, die in Form einer Konzeptblume festgehalten sind. Im Kern eröffnet der Beitrag psychomotorische Betrachtungsweisen, indem Jugendlichen aus ganzheitlicher, ressourcenorientierter Perspektive begegnet wird. Diese beziehen ihre Gesamtpersönlichkeit und ihr körperliches Erleben mit ein und ermöglichen ihnen unmittelbare, leibliche Erfahrungen.
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Zusammenfassung / Abstract Der Beitrag stellt Perspektiven für die Begleitung von Jugendlichen mit Borderline-Erleben in der Bewegungstherapie der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie durch Psychomotorik vor, die in Form einer Konzeptblume festgehalten sind. Im Kern eröffnet der Beitrag psychomotorische Betrachtungsweisen, indem Jugendlichen aus ganzheitlicher, ressourcenorientierter Perspektive begegnet wird. Diese beziehen ihre Gesamtpersönlichkeit und ihr körperliches Erleben mit ein und ermöglichen ihnen unmittelbare, leibliche Erfahrungen. Schlüsselbegriffe: Jugendliche, Borderline, Persönlichkeit, Erleben, Körper, Psychomotorik, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie A holistic approach to adolescents with borderline experiences. Perspectives through psychomotor support The article presents perspectives for accompanying adolescents with borderline experiences in movement therapy in child and adolescent psychiatry and psychotherapy through psychomotricity, which are set out in the form of a concept flower. Essentially, the article opens up psychomotor perspectives by approaching adolescents from a holistic, resource-oriented perspective. It incorporates their overall personality and physical experience and enables them to have direct, lived body experiences. Keywords: adolescents, borderline, personality, experience, body, psychomotricity, child and adolescent psychiatry and psychotherapy [ 18 ] 1 | 2025 motorik, 48. Jg., 18-25, DOI 10.2378 / mot2025.art04d © Ernst Reinhardt Verlag [ Forum Psychomotorik ] Jugendlichen mit Borderline-Erleben ganzheitlich begegnen Perspektiven durch psychomotorische Begleitung Nathalie hippenstiel, stephanie Bahr ständlicherweise oft das Gefühl tiefer Verzweiflung auslösen und zum Kontrollverlust führen (Armbrust/ Link 2015, 19 f ). Das DSM-5 bezeichnet diese Form des Erlebens mit dem Begriff »Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)« (Falkai / Wittchen 2018, 908) und damit als ernstzunehmende, psychische Erkrankung. Das Wissen um die körperliche Dimension von Borderline-Erleben wurde lange vernachlässigt. Dem reflektierten Einbezug des Körpers wird heute großes Potenzial zugeschrieben, durch den eine Verbesserung der gesamten Symptomatik stark vermutet wird (Haaf et al. 2001, 252). Hierfür scheint die ganzheitlich orientierte Psychomotorik, welche den Zugang zum Menschen über Körper und Bewegung sucht, besonders geeignet. Der vorliegende Beitrag zeigt auf, welche Perspektiven Psychomotorik für die Begleitung von Jugendlichen mit Borderline-Erleben in der Bewegungstherapie der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP) eröffnen kann. Borderline-Erleben als Grenzerleben Der Begriff Borderline bedeutet übersetzt ›Grenzlinie‹ und meint eine Erkrankung im Grenzbereich zu anderen psychischen Erkrankungen (Schwarzer 2016, 191). Heute wird in der Fachliteratur, in Anlehnung an das DSM-5, mehr- Manche Jugendliche erleben ihren Alltag wie auf einem brodelnden Vulkan, der jederzeit droht, auszubrechen (GeBo o. J., o. S.). Wiederum andere vergleichen ihr Erleben mit einer Flipperkugel, die von den eigenen Gefühlen hin- und hergeschubst wird. Dieses Erleben kann ver- [ 19 ] Hippenstiel, Bahr • Jugendlichen mit Borderline-Erleben ganzheitlich begegnen 1 | 2025 heitlich von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung geschrieben (Von Auer / Kaess 2023, 1; Bischkopf / Böhm 2023, 55). In diesem Artikel wird der Begriff Borderline-Erleben verwendet, da damit die vielfältige Erlebenswelt geachtet werden soll, ohne sie unreflektiert mit dem Wort Persönlichkeitsstörung in Verbindung zu setzen. Zudem sind Persönlichkeit, Verhaltens- und Erlebenswelten von Jugendlichen mit Borderline- Erleben vielfältiger und nicht auf das Erleben einer einzigen Diagnose zu reduzieren. Trotzdem erscheint der Einbezug des DSM-5 sinnvoll, da es für einen sensiblen und respektvollen Umgang Kenntnisse über häufig beobachtbare Erlebens- und Verhaltensweisen benötigt, die mit dem Borderline-Erleben einhergehen können. Mindestens fünf der neun diagnostischen Kriterien des DSM-5 (Tab. 1) müssen für die Vergabe der Diagnose erfüllt sein (Falkai / Wittchen 2018, 887 ff ). Grundsätzlich darf sie ab dem 18. Lebensjahr vergeben werden. Wenn bereits im Kindes- oder Jugendalter die Diagnosekriterien über einen Zeitraum von einem Jahr stark ausgeprägt vorliegen, darf sie unter Einbeziehung weiterer Kriterien auch vorab gestellt werden. Viele Betroffene haben einen extrem negativen Bezug zum eigenen Körper: Er werde als abstoßend empfunden und eher ausgeblendet. Bereits dessen Wahrnehmung löse oft massive Ängste und Selbsthass aus (Brokuslaus et al. 2021, V). Eine Studie von Haaf et al. (2001) fand heraus, dass das Körperkonzept von Menschen mit Borderline-Erleben hoch signifikant von dem einer klinischen Kontrollgruppe und der Normalpopulation abweicht (Haaf et al. 2001, 246 ff ). Besonderheiten und Therapie bei Borderline-Erleben im Jugendalter Im Jugendalter werden die Diagnosekriterien vier bis sechs und neun des DSM-5 als besonders dominant beschrieben (Von Auer / Kaess 2023, 2). Die Dialektisch-Behaviorale Therapie für Adoleszente (DBT-A) und die Mentalisierungsbasierte Therapie für Adoleszente (MBT-A) sind die gängigsten störungsspezifischen psychotherapeutischen Ansätze, für die erste Wirksamkeitsnachweise für das Jugendalter verzeichnet wurden (Von Auer / Kaess 2023, 17). Bezogen auf die Tab. 1: Diagnostische Kriterien (eigene Darstellung in Anlehnung an Falkai / Wittchen 2018, 108 f) Diagnostische Kriterien nach DSM-5 1 Verzweifeltes Bemühen tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu verhindern 2 Muster an unbeständigen und intensiven Beziehungen, das durch den extremen Wechsel der Einstellung über Andere gekennzeichnet ist (z. B. von allumfassender Idealisierung zur vollkommenen Entwertung des Gegenübers) 3 Identitätsstörung: Instabilität im eigenen Selbstbild oder in der Selbstwahrnehmung 4 Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen, wie Geldausgeben, Substanzmissbrauch, Sexualität 5 Wiederkehrende suizidale Handlungen, Suizidandeutungen / -androhungen oder selbstverletzendes Verhalten 6 Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung, wie Reizbarkeit oder Angst 7 Chronisches Gefühl von innerer Leere 8 Als unangemessen empfundene heftige Wut oder Schwierigkeiten bei der Wutkontrolle 9 Reversible, durch Belastung ausgelöste paranoide Vorstellungen oder dissoziative Symptome [ 20 ] 1 | 2025 Forum Psychomotorik Bedeutsamkeit der körperlichen Dimension des Borderline-Erlebens sind Ansätze für die Körpertherapie entworfen worden, die speziellen Ansätzen zuzuordnen sind (Degener 2011, 309). Zu vermuten ist, dass diese »im Kontext der allgemeinen klinischen Bewegungstherapie, nur am Rande berücksichtigt werden« (Degener 2011, 309) können. Das macht es notwendig, neue körper- und bewegungsorientierte Konzepte für Jugendliche mit Borderline-Erleben zu entwerfen, die in der allgemeinen Bewegungstherapie der KJPP eingesetzt werden können. Hierfür erscheint Psychomotorik besonders geeignet, da sie neben der körperlichen Dimension des Borderline-Erlebens auch die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit der Jugendlichen ganzheitlich und ressourcenorientiert begleitet. Psychomotorische Begleitung von Jugendlichen mit Borderline-Erleben Ausgehend vom aktuellen Forschungsstand wurden Konzeptbausteine entwickelt, die mithilfe halbstrukturierter Interviews mit Expertinnen überprüft und ergänzt wurden. Diese Konzeptbausteine zeigen Perspektiven für die Begleitung von Jugendlichen mit Borderline-Erleben durch Psychomotorik auf und werden anhand einer Konzeptblume verdeutlicht (Abb. 1). Ziel der Konzeptblume ist es, das bestehende Begleit- und Therapieangebot zu erweitern und auf einen sensibilisierten Umgang mit Jugendlichen mit Borderline-Erleben aufmerksam zu machen. Dafür wird die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit begleitet, indem der Erlebenswelt ganzheitlich und ressourcenorientiert begegnet wird. Zudem wird die körperliche Dimension des Borderline-Erlebens miteinbezogen. Jugendliche werden dabei unterstützt, ihr Wohlbefinden zu steigern und ihren Leidensdruck zu verringern. Abb. 1: Konzeptblume (Nathalie Hippenstiel) Jugendliche werden dabei unterstützt, ihr Wohlbefinden zu steigern und ihren Leidensdruck zu verringern. [ 21 ] [ 21 ] Hippenstiel, Bahr • Jugendlichen mit Borderline-Erleben ganzheitlich begegnen 1 | 2025 Der Blütenstängel: Psychomotorisches Grundverständnis Das Grundverständnis von ineinandergreifenden psychischen und motorischen Prozessen stellt die Basis dar, aus der weitere Begleitideen wachsen. Die bislang unterschätzte körperliche Dimension von Borderline-Erleben kann dadurch aufgegriffen werden. Die Annahme, dass psychische und motorische Prozesse im wechselseitigen Bezug stehen (Zimmer 2022, 21), bestärkt die Vermutung von Haaf et al. (2001), dass ein verbessertes Körpergefühl dem Borderline-Erleben entgegenkommen könnte. In der psychomotorischen Begleitung ist über das Medium Körper ein sensibler Zugang zum Menschen möglich. Vor dem Hintergrund, dass viele dieser Jugendlichen ihren Körper ablehnen, verletzen oder in dissoziative Zustände verfallen, erscheint es bedeutsam, dass sich Psychomotorik gezielt dieser Personengruppe widmet. Zudem fand die Studie heraus, dass der leibliche Zugang häufig als klare und unmittelbare Hilfe erfahren wird, da er auf ein direktes Erleben abzielt. Da es Jugendliche mit Borderline-Erleben häufig herausfordert, positive Veränderungen auf kognitiver Ebene anzunehmen, kann dieser Zugang besonders geeignet sein, da er sie nicht durch einen verbalen, kognitiven Prozess überfordert. Das Zentrum der Blüte: Zentrale Bezugspunkte Das Humanistische Menschenbild und das psychomotorische Verständnis eines aktiven, selbstorganisierten Entwicklungsprozesses stehen in der Mitte der Blüte. Das Humanistische Menschenbild stellt Jugendliche mit Borderline-Erleben ganzheitlich mit ihrer individuellen Gesamtpersönlichkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In diesem Sinne sind ihre Erlebenswelten individuell und vielfältig und das Borderline-Erleben nur ein kleiner Teil dieser Mannigfaltigkeit. Das könnte eine positive, optimistische Begegnung schaffen, in der Jugendliche mehr sind als ihr Borderline-Erleben. Dies wirkt unabdingbar, da sie sich im Hinblick auf die akuten diagnostischen Merkmale häufig in einer prekären Lebenslage befinden. Daran anknüpfend unterliegt die Begleitung dem Verständnis, dass Entwicklung aktiv und selbstorganisiert stattfindet und nur dann geschieht, wenn die Angebote der Motivation und den Handlungsmöglichkeiten der Person entsprechen. Dies impliziert, dass die Jugendlichen als Expert: innen ihrer selbst anzusehen sind und Psychomotorik als ein Raum der Möglichkeiten und der Offenheit verstanden wird. Psychomotoriker: innen sollten durch die, die Mitte der Blüte umfassenden, methodisch-didaktischen Prinzipien einen sensiblen und abgestimmten Entwicklungsrahmen schaffen. Dies schließt Kenntnis über die individuellen Jugendlichen, Wissen über Entwicklungstheorien (Entwicklungsthemen unter normorientierter Betrachtungsweise) und über Fachwissen zum Borderline-Erleben ein. Erste Blüte: Positives Körperkonzept Das erste Blütenblatt umfasst das Ermöglichen von positiven Körpererfahrungen, um den Aufbau eines positiveren Körperkonzepts zu unterstützen und um die Ich-Kompetenz zu erweitern. Dies erscheint vor dem Hintergrund des Entwicklungsthemas Umgang mit dem eigenen Körper nach Seewald (2007, 76 f ) für alle Jugendlichen sinnvoll, um altersbedingte körperliche Veränderungen psychisch zu verarbeiten. Dem kommt eine besondere Bedeutung bei Jugendlichen mit Borderline-Erleben zu, da viele über ein negatives Körperkonzept verfügen. Durch positive Körpererfahrungen könnten sie wieder in Kontakt mit dem eigenen Körper treten und anfangen, ihn als einen verlässlichen, wirksamen Teil der eigenen Person zu erleben. Die Differenzierung zwischen Körperschema und Körperbild könnte bei der Angebotsauswahl vorteilhaft genutzt werden. Spielerische Angebote im Sinne des Körperschemas könnten einen Einstieg in die Körperarbeit bieten. Sie könnten darauf abzielen, den Körper wieder einzublenden und sich in ihm zu verorten, ohne dass primär eine emotionale Auseinandersetzung fokussiert wird. Gemeinschaftsspiele erscheinen je nach individueller körperlicher Fitness angemessen. Bereits aufkommende Gefühle könnten als Ressource bei der Begleitung zur Verbesserung des Körperbilds genutzt werden, da diese [ 22 ] 1 | 2025 Forum Psychomotorik Angebote stärker auf eine emotionale Auseinandersetzung mit dem Erlebten abzielen. Zusätzlich sollten Möglichkeiten gegeben werden, in denen die Jugendlichen selbst gesuchten, subjektiv sinnvollen Körpererfahrungen nachgehen können. Körpererfahrungen, z. B. im Rahmen des Spiels, stellen die Grundform der Auseinandersetzung mit sich selbst dar und zielen auf die Bearbeitung der individuell bedeutsamen Themen ab (Keller / Fritz 1998). Es ist darauf hinzuweisen, dass die Konzeptbausteine in der Gruppe angewendet werden sollen und selbst gesuchte Körpererfahrungen gegebenenfalls eng begleitet werden müssen, was einen Wechsel in ein Einzelsetting sinnvoll machen könnte. Des Weiteren hält Seewald (2007, 76 f ) Entspannungsangebote für alle Jugendlichen für sinnvoll. Aus dem Borderline-Erleben resultiert häufig großer Stress, Überreizung und muskuläre Verspannung (Terán 2023, 217). Aus diesen Gründen sollte ausreichend Raum für Entspannung gewährt und Übungen gezeigt werden, die Verspannungen entgegenwirken können. Es erscheint bedeutend, dass die Reflexionstiefe der Körpererfahrungen von Psychomotoriker: innen sorgfältig abgewogen wird, da es einige Jugendliche mit Borderline-Erleben besonders herausfordert, eine genussvoll erlebte Situation kognitiv anzunehmen. Zweite Blüte: Diverse, freudvolle Materialerfahrungen Dieser Angebotsbereich beinhaltet das Ermöglichen von diversen, freudvollen Materialerfahrungen zur Erweiterung der Sach-Kompetenz. Da es darum geht, Ursache-Wirkungszusammenhänge zu erschließen und die Innenwelt mit der Außenwelt zu verknüpfen, erscheint es bedeutsam, dass Jugendliche vielfältiges Material kennenlernen, das alle Wahrnehmungsbereiche anspricht. Nach Seewald (2007, 73 ff ) erscheint dies passend, da es im Jugendalter grundsätzlich darum geht, den Umgang mit dem sich verändernden Körper zu erlernen, die neuen körperlichen Möglichkeiten auszutesten und weil eigene Stärken, Vorlieben und Potenziale entdeckt werden sollen. Da Gefühlszustände von Jugendlichen mit Borderline-Erleben selten positiv erlebte Gefühle wie Zufriedenheit und Wohlbefinden beinhalten, könnten Materialien angeboten werden, die diese Befindlichkeiten steigern. Sie könnten dazu beitragen, Freude an Bewegung zu finden und den Spaßfaktor zu erhöhen. Dazu scheinen Möglichkeiten zum Schaukeln, Schwingen und Springen angemessen. Gelegenheiten des Rückzugs, schwere Decken oder Massagematten könnten das Wohlbefinden steigern. Das Erleben von Freude und Genuss könnte auch im Sinne einer ›Starthilfe‹ wichtig sein. Zu erfahren, dass das Leben lebenswerte Momente bereithält, könnte zu neuer Lebenslust verhelfen und die Therapiebereitschaft steigern. Gegebenenfalls könnten die Jugendlichen auch solche Materialien entdecken, die ihnen bei der Regulation eines erhöhten Anspannungsniveaus helfen (z. B. Seilspringen). Dem chronischen Gefühl von Leere und Langeweile könnte entgegengewirkt werden, wenn sie Materialien entdecken können, die ihren Vorlieben entsprechen und mit denen sie sich allein beschäftigen können. Außerdem könnten Materialien als intermittierendes Mittelmedium im Rahmen von Körpererfahrungen, der Kontaktanbahnung, der Beziehungsgestaltung und bei der Nähe- und Distanzregulation eingesetzt werden. Dritte Blüte: Positive Selbst- und Sozialerfahrungen in einer Gruppe In diesem Blütenblatt sollen Jugendliche mit Borderline-Erleben positive Selbst- und Sozialerfahrungen in einer Gruppe sammeln können, um ihre Sozial-Kompetenz zu erweitern. Nach Seewald (2007, 74) bietet eine Gruppe grundsätzlich Identifikations- und Abgrenzungsmöglichkeiten. Erikson (2015, 214 f ) sieht die Peer-Group als eine wichtige Bezugsgröße bei der Entwicklung der Ich-Identität an. Jugendliche mit Borderline- Erleben sammeln häufiger invalidierende Erlebnisse durch das soziale Umfeld (Barrett 2019, Das Erleben von Freude und Genuss könnte auch im Sinne einer ›Starthilfe‹ wichtig sein. [ 23 ] [ 23 ] Hippenstiel, Bahr • Jugendlichen mit Borderline-Erleben ganzheitlich begegnen 1 | 2025 371) und verspüren öfter einen besonders starken Wunsch nach Verbundenheit und stabilem Kontakt. Zudem wurden Instabilitäten im Selbstbild und der Selbstwahrnehmung beschrieben. Eine heterogene Gruppenkonstellation wirkt vorteilhaft, da durch das intensive Gefühlserleben schnell in ein anderes Gefühlsextrem gependelt werden kann. Das könnte verhindern, dass die Gesamtgruppe bei einem Gefühlswechsel destabilisiert wird. Eine möglichst validierende Gruppenerfahrung könnte den Ausgangspunkt für positive Sozialerfahrungen darstellen. Die Jugendlichen mit Borderline-Erleben werden von Psychomotoriker: in und Gruppe angenommen und wertgeschätzt. Da viele durch ein invalidierendes Umfeld verunsichert werden und deshalb häufiger von Vorgaben anderer abhängig werden (Barrett 2019, 371 f ), kann das Gruppensetting als ein Übungsraum betrachtet werden, in dem die eigenen Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen respektiert werden. Ein validierender Umgang wird im Sinne einer Maxime von Psychomotoriker: innen erwartet, aber höchstwahrscheinlich nicht von allen Teilnehmenden umgesetzt. Vor dieser Tatsache erweist sich Psychomotorik ebenso als ein Übungsraum, der auch der Realität außerhalb des Bewegungsraumes entspricht. Diesbezüglich könnten sich einfache und humorvolle Problemlöseaufgaben, Kooperations-, Rollen- und Mannschaftsspiele anbieten, zu deren Lösung unterschiedliche Meinungen, Bedürfnisse und Regeln zusammengebracht werden. Dadurch kann der Umgang mit Konflikten oder das Erleben von Zurückweisung spielerisch geübt werden. Vierte Blüte: Nähe- und Distanzregulation In diesem Angebotsbereich geht es um die Erweiterung der Kompetenzen im Bereich der Nähe- und Distanzregulation bei Jugendlichen mit Borderline-Erleben, damit sie stabilere Beziehungen führen können. Dörr und Müller (2019, 14) sind der Annahme, dass es bei einer gelingenden oder misslingenden zwischenmenschlichen Interaktion um ein »›richtig‹ empfundenes Maß an Nähe und Distanz« geht. Entsprechende Vorstellungen seien nicht objektivierbar, sondern interpretier- und veränderbar. Das könnte bedeuten, dass erst erlernt werden muss, welches Maß an Nähe und Distanz angemessen ist. Mit Blick auf die diagnostischen Merkmale des Borderline-Erlebens im Bereich der Beziehungsgestaltung zeigen sich diesbezüglich große Bedarfe. Jugendliche sollten erfahren, wie viel Nähe und Abstand sie selbst zu anderen Personen benötigen, um sich wohlzufühlen und gleichzeitig, wie viel Nähe und Abstand eine andere Person benötigt, um sich gut zu fühlen. Fünfte Blüte: Positives, realistisches Selbstkonzept Bei diesem Blütenblatt sollen Gelegenheiten zu positiven Selbstwirksamkeitserfahrungen geschaffen werden, um die Entfaltung eines positiven Selbstkonzepts bei Jugendlichen mit Borderline-Erleben zu fördern. Dieses kann ihnen dabei helfen, ihr Leben aktiv und selbstständig zu bewältigen. Diese Aspekte sind mit dem Begriff der Identität und Identitätsarbeit eng verwandt und damit bei Erikson (2015) und Seewald (2007) im Jugendalter per se Thema der Entwicklung. Positive Selbstwirksamkeitserfahrungen in aktiven Handlungssituationen, durch die sie sich als gut und wirksam erleben können, wirken dementsprechend wichtig. Das Angebot sollte Grenzerfahrungen ermöglichen. Dadurch könnte der Umgang mit den eigenen Grenzen und Möglichkeiten geübt und ein realistisches Selbstkonzept aufgebaut werden. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Instabilitäten im Selbstbild bzw. der Selbstwahrnehmung könnten bei ausreichender Reflexionsfähigkeit tiefergehend die Dimensionen Realselbst, Idealselbst und Soziales Selbst genutzt werden. Die Jugendlichen mit Borderline-Erleben werden von Psychomotoriker: in und Gruppe angenommen und wertgeschätzt. [ 24 ] 1 | 2025 Forum Psychomotorik Fazit und Ausblick Psychomotorik begegnet Jugendlichen mit Borderline-Erleben ganzheitlich und ressourcenorientiert, bezieht ihre Gesamtpersönlichkeit und ihr körperliches Erleben mit ein und ermöglicht ihnen unmittelbare, leibliche Erfahrungen. Die psychomotorischen Perspektiven entfalten sich im Rahmen von Angeboten zu den Themen Körpererfahrung, Materialerfahrung, Selbst- und Sozialerfahrung, Nähe- und Distanzregulation und positives Selbstkonzept. Der reflektierte Einbezug dieser Perspektiven macht auf einen sensibilisierten Umgang mit den Jugendlichen aufmerksam und versucht sie dazu zu befähigen, ihrem Leidensdruck zu begegnen und ihr Wohlbefinden zu steigern, damit sie ihr einzigartiges Selbst entfalten können. Im Sinne der Herausforderungen und Grenzen ist zu verdeutlichen, dass Jugendliche mit Borderline-Erleben häufig Narben am Körper haben, die nach dem psychomotorischen Verständnis als ›Narben der Seele‹ zu verstehen sind. Das gilt es anzuerkennen und Jugendliche mit Borderline-Erleben als anspruchsvolle Zielgruppe für die Psychomotorik herauszustellen. Im Hinblick auf die akuten diagnostischen Kriterien sollte stets sensibel überprüft werden, welche klinischen Hilfsangebote von den Jugendlichen als unterstützend erlebt werden und welche Rahmenbedingungen für die notwendige Sicherheit relevant sind. Der Zugang über Körper und Bewegung wird öfter als bedrohlich wahrgenommen und der Bewegungstherapie mit Skepsis begegnet. Die Gründe hierfür sind wahrscheinlich in der Unmittelbarkeit des körperlichen Erlebens zu finden und machen unter dem Verständnis von ineinandergreifenden psychomotorischen Prozessen Sinn. Körpererfahrungen können intime emotionale Veränderungen auslösen und in der psychomotorischen Begleitung bemerkbar werden. Sinnvoll erscheint, ihnen diesbezügliche Ängste zu nehmen und ausreichend Privatsphäre zu gewähren. Abschließend sind die Jugendlichen mit Borderline-Erleben als die eigentlichen Expert: innen ihrer selbst und des Themas herauszustellen. Deswegen müssen sie mitentscheiden, welche psychomotorischen Perspektiven sie aus ihrer subjektiven Perspektive als unterstützend erleben. Literatur Armbrust, M., Link, A. (2015): Borderline im Trialog. Miteinander reden- - voneinander lernen. Junfermann Verlag, Paderborn Barrett, B. F. (2019): Dialektisch-Behaviorale Therapie- - DBT. In: Sappok, T. (Hrsg.): Psychische Gesundheit bei intellektueller Entwicklungsstörung. Ein Lehrbuch für die Praxis. Kohlhammer, Stuttgart, 370-378 Bischkopf, J., Böhm, R. (2023): Psychische Störungen im Überblick und ihre Auswirkungen auf Kinder. In: Wagenblass, S., Spatscheck, C. (Hrsg.): Kinder psychisch erkrankter Eltern. Sehen-Wissen-Handeln. Psychiatrie Verlag, Stuttgart, 48-62 Brokuslaus, I., Welke, T., Edel, A. (2021): Bewegen statt Erstarren! Das Praxisbuch für DBT-Körperskills. Schattauer, Stuttgart Degener, A. (2011): Persönlichkeitsstörungen- - Borderline-Persönlichkeitsstörungen In: Hölter, G. (Hrsg.): Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen. Grundlagen und Anwendung. Deutscher Ärzteverlag, Köln, 288-329 Dörr, M., Müller, B. (2019): Einleitung: Nähe und Distanz als Strukturen der Professionalität pädagogischer Arbeitsfelder. In: Dörr, M. (Hrsg.): Nähe und Distanz. Ein Spannungsfeld pädagogischer Professionalität. 4. Aufl. Beltz, Weinheim, 14-39 Erikson, E. (2015): Identität und Lebenszyklus. 27. Aufl. Suhrkamp, Berlin Falkai, P., Wittchen, H.-U. (2018): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5. 2. Aufl. Hogrefe, Göttingen, https: / / doi. org / 10.1026 / 02803-000 GeBo-Gesundheitseinrichtungen Bezirk Oberfranken (o. J.): Das Leben als ungeliebte Achterbahnfahrt. In: https: / / www.gebomed.de/ news/ detailansicht/ das-leben-als-ungeliebte-achterbahnfahrt, 02.09.2024 Haaf, B., Pohl, U., Deusinger, I., Bohus, M. (2001): Untersuchungen zum Körperkonzept bei Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie 51(6), 246-254, https: / / doi.org / 10.1055 / s-2001- 14302 Keller, R., Fritz, A. (1998): Auf leisen Sohlen durch den Unterricht. Ein Arbeitsbuch zum spiel- und handlungsorientierten Unterricht im 1. und 2. Grundschuljahr. Hofmann, Schorndorf Jugendliche mit Borderline-Erleben sind die eigentlichen Expert: innen ihrer selbst und des Themas. [ 25 ] [ 25 ] Hippenstiel, Bahr • Jugendlichen mit Borderline-Erleben ganzheitlich begegnen 1 | 2025 Schwarzer, W. (2016): Psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter. In: Trost, A., Schwarzer, W. (Hrsg.): Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie für psycho-soziale und pädagogische Berufe. verlag modernes lernen, Dortmund, 155-204 Seewald, J. (2007): Der Verstehende Ansatz in der Psychomotorik und Motologie. Ernst Reinhardt, München / Basel Terán, C. (2023): Bewegungstherapie bei Patient*innen mit einer Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS) In: Thimme, T., Chermette, C., Deimel, H. (Hrsg.): Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen in der Lebensspanne. Academia, Baden Baden, 215- 234 Von Auer, A. K., Kaess, M. (2023): Borderline-Persönlichkeitsstörung. Hogrefe, Göttingen, https: / / doi. org/ 10.1026/ 02775-000 Zimmer, R. (2022): Handbuch der Psychomotorik. 2. Aufl. Herder, Freiburg Die Schriftleitung und der Verlag freuen sich über Ihr Feedback zu diesem Artikel unter journals@reinhardt-verlag.de Die Autorinnen Nathalie Hippenstiel M. A. Rehabilitationswissenschaftlerin, Fachkraft für Psychomotorik (DAKP), Systemische Beraterin i.A. (DGSF) Dr.in Stephanie Bahr M. A. Sportwissenschaftlerin und Motologin, akademische Rätin an der Universität zu Köln am Arbeitsbereich Bewegungsentwicklung und Psychomotorik Anschrift Dr.in Stephanie Bahr Universität zu Köln Arbeitsbereich Bewegungsentwicklung und Psychomotorik Frangenheimstr. 4 D-50931 Köln sbahr1@uni-koeln.de 5., durchges. Auflage 2024. 349 Seiten. 44 Abb. 13 Tab. utb-M (978-3-8252-6178-8) kt Jetzt in 5. Auflage! Das Fach Psychomotorik hat sich zu einer anerkannten Disziplin vor allem in Pädagogik, Psychologie und Therapie entwickelt. Es ist fester Bestandteil zahlreicher Ausbildungsgänge geworden. 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