Motorik
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0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2025.art22d
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2025
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Forum Psychomotorik: Psychomotorik und Menschenbild
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Otmar Weiß
Im vorliegenden Artikel wird das Menschenbild der Psychomotorik im Kontext der Aufklärung und des Humanismus behandelt. Der Mensch wird als handelndes Wesen gesehen, das nach Autonomie strebt. Daraus resultiert das holistische Menschenbild der Psychomotorik, wobei die Wechselwirkungen von Kognition, Emotion und Bewegung im Vordergrund stehen. Einige Vertreter der Aufklärung, wie John Locke oder Jean-Jacques Rousseau, erkannten bereits die Bedeutung von Bewegung, Spiel und Sinneswahrnehmung für das kindliche Lernen und lieferten wichtige Impulse für die Psychomotorik.
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Zusammenfassung / Abstract Im vorliegenden Artikel wird das Menschenbild der Psychomotorik im Kontext der Aufklärung und des Humanismus behandelt. Der Mensch wird als handelndes Wesen gesehen, das nach Autonomie strebt. Daraus resultiert das holistische Menschenbild der Psychomotorik, wobei die Wechselwirkungen von Kognition, Emotion und Bewegung im Vordergrund stehen. Einige Vertreter der Aufklärung, wie John Locke oder Jean-Jacques Rousseau, erkannten bereits die Bedeutung von Bewegung, Spiel und Sinneswahrnehmung für das kindliche Lernen und lieferten wichtige Impulse für die Psychomotorik. Schlüsselbegriffe: Psychomotorik, Menschenbild, Aufklärung, Humanismus, schwarze Pädagogik Conception of the human being in psychomotricity The present article deals with the conception of the human being in psychomotricity in the framework of the Enlightenment and humanism. Man is seen as an acting being striving for autonomy. This results in the holistic conception of man in psychomotricity, which regards the interrelationship between cognition, emotion and movement as paramount. Some of the most important representatives of the Enlightenment, including John Locke or Jean-Jacques Rousseau, already recognized the importance of movement, play and sensual perception for children’s learning and provided important impulses for psychomotricity. Keywords: psychomotricity, conception of the human being, Enlightenment, humanism, black pedagogy [ 108 ] 3 | 2025 motorik, 48. Jg., 108-114, DOI 10.2378 / mot2025.art22d © Ernst Reinhardt Verlag [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Psychomotorik und Menschenbild Otmar Weiß schäftigen. Es gibt jedoch kein einheitliches Verständnis des Begriffes. In der Regel beschreibt er »die Vorstellung, die ein Individuum oder ein Kollektiv vom Menschen hat« (ebd., 13). Da es sich um Vorstellungen handelt, entsprechen Menschenbilder nicht notwendig der ›Realität‹. Dennoch haben Menschenbilder reale Folgen. Sie prägen nicht nur das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und seiner Umwelt, sondern auch die sozialen und politischen Gegebenheiten einer Gesellschaft. Menschenbilder enthalten sowohl deskriptive als auch normative Annahmen: Sie beschreiben den Menschen nicht nur, sondern definieren auch Leitbilder dafür, wie er sein sollte und erzeugen dadurch einen gewissen Anpassungsdruck auf das Individuum. Zum Beispiel hat der Franzose Bernard Aucouturier einen psychomotorischen Ansatz für Prävention und Therapie entwickelt: »Oui, tu peux! «- - »Ja, du kannst! « In Deutschland hat Ernst J. Kiphard (Hünnekens / Kiphard 1985) verschiedene Elemente aus den Bereichen der Leibeserziehung, Gymnastik, Rhythmik, aber auch der Sinnesschulung nach Maria Montessori miteinander kombiniert. Der Gedanke, dass Kinder selbst wissen, was sie brauchen, ist vor allem in der Psychomotorik verbreitet. In der Pädagogik wurden Kinder in der Vergangenheit nicht als eigenständige Persönlichkeiten gesehen. Sie mussten gehorsam sein und sich den Erwachsenen unterordnen, und wenn sie diesen Erwartungen nicht entsprachen, wurden sie misshandelt (s. dazu Lloyd de Mause 2007). Der Begriff des Menschenbildes geht in seiner modernen Ausprägung auf Friedrich Nietzsche zurück. Er bezeichnete damit »die für eine Gesellschaft, für deren Moral, Pädagogik, Politik und Recht grundlegende und maßgebende Auffassung vom (Wesen des) Menschen« (Zichy 2024, 12 f ). Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg begannen mehrere Disziplinen, darunter die Pädagogik, Psychologie und Rechtswissenschaften, sich mit Menschenbildern zu be- [ 109 ] Weiß • Psychomotorik und Menschenbild 3 | 2025 Schwarze Pädagogik Der Begriff schwarze Pädagogik wurde von der Publizistin Katharina Rutschky geprägt, die ihn als Überschrift ihrer Quellensammlung zur Geschichte der bürgerlichen Gehorsamkeitserziehung nutzte (Rutschky 1977). Seichter (2024, 87) definiert schwarze Pädagogik folgendermaßen: »Erzieherische Praktiken sind dann als schwarz zu bezeichnen, wenn ihre Mittel und Methoden von offensichtlichen oder subtilen Interessen der Macht des Erziehers / der Erzieherin und der Absicht einer gewaltvollen Unterwerfung des Kindes besetzt und beherrscht sind.« Im Anschluss an Rutschky hat die Psychologin Alice Miller in ihrem 1982 erschienenen Werk »Am Anfang war Erziehung« die Mechanismen der schwarzen Pädagogik psychoanalytisch dargestellt. Laut Miller (1982, 18) ist die Anwendung von schwarzer Pädagogik in der Familie besonders problematisch, da Kinder eine unbeschränkte Toleranz ihren Eltern gegenüber haben. Im 19. Jahrhundert wurde davon ausgegangen, dass es vor allem die Aufgabe der Väter sei, gegen das in Kindern angelegte ›tyrannische‹ Verhalten zu kämpfen. Kinder sollten dem Willen der Erwachsenen unterworfen werden und möglichst selbst den Sinn der körperlichen Strafen einsehen. Während des Nationalsozialismus wurden die Maßnahmen der schwarzen Pädagogik als notwendig angesehen, um einen ›neuen‹ Menschen zu schaffen (Kuhlmann 2022, 77). Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte die Vorstellung, dass Kinder mit einer Gefühlskälte und Härte erzogen werden sollten, um sie zu angepassten und nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Sowohl in der Familie als auch in der Schule erfuhren Kinder Gewalt und die Prügelstrafe sowie Schläge mit dem Stock oder der Rute wurden als pädagogisch gerechtfertigt angesehen. In der pädagogischen Ratgeberliteratur war damals von ›Kinderfehlern‹ die Rede- - man nahm an, dass Kinder selbst daran schuld seien, wenn sie bestraft wurden. Erst in den 1960er-Jahren begann ein Umdenken und immer mehr Autoren äußerten sich kritisch zur Prügelstrafe (Hafeneger 2011, 27 ff ). Im Jahr 1966 hielt Theodor W. Adorno den Radiovortrag »Erziehung nach Auschwitz«, der später als Aufsatz veröffentlicht wurde. Seine zentrale Forderung war, dass sich Auschwitz nicht wiederhole. Elektronische Messungen an noch ungeborenen Kindern haben gezeigt, dass das Kind sowohl Zärtlichkeit als auch Grausamkeit von Anfang an fühlt und lernt. Therapeutische Methoden zeigen, dass verdrängte traumatische Erlebnisse der Kindheit im Körper gespeichert sind und dass sie sich, unbewusst geblieben, auf das spätere Leben des erwachsenen Menschen auswirken. 1990 trat die UN-Kinderrechtskonvention in Kraft, nach der jegliche Gewalt gegen Kinder untersagt ist (Hafeneger 2011, 21). In Österreich ist die Züchtigung durch Lehrpersonen seit 1974 gesetzlich verboten und seit 1989 gilt ein generelles Verbot gegen Gewalt in der Erziehung (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2025). 1997 trat das Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie in Kraft (Bundesministerium Frauen, Wissenschaft und Forschung 2024) und 2013 wurden das Bundes- Kinder- und Jugendhilfegesetz sowie das Wiener Kinder- und Jugendhilfegesetz verabschiedet, in denen die Rechte von Kindern festgehalten sind (Stadt Wien o. J.). Seit 2000 ist auch in Deutschland das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch festgeschrieben (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2003). In der Schweiz unterstehen Kinder zwar dem Schutz durch das Strafrecht, das Recht auf gewaltfreie Erziehung ist jedoch nicht gesetzlich verankert (Hitz Quenon 2023). Trotz dieser Verbote sind Kinder in Erziehungseinrichtungen weiterhin der Gewalt durch Erwachsene ausgesetzt, allerdings in einer subtileren Art von Machtformen, die nicht sofort erkenntlich sind (Hafeneger 2011, 66). Beispiele dafür sind die Selektionen nach der Grundschule, das Wiederholen von Klassen bei negativen Noten oder die kurzen, durchorganisierten Bachelorstudiengänge. Diese pädagogischen Machtformen, die heute noch auf das Kind und [ 110 ] 3 | 2025 Forum Psychomotorik teilweise auch auf den Erwachsenen einwirken, haben zur Folge, dass die Personen immer mehr an Individualität und Selbstbewusstsein verlieren (Nussbaum 2002, 90 ff ). Die Pädagogik der Aufklärung und des Neuhumanismus Unter dem Begriff Aufklärung versteht man sowohl die geschichtliche Epoche des 17. und 18. Jahrhunderts als auch ein pädagogisches Programm, welches »einen anspruchsvollen Bildungsprozess, der das mündige und emanzipierte Subjekt vor Augen hat« bezeichnet (Fuchs 2019, 64). Die Menschen begannen, die Dominanz der Kirche in Frage zu stellen und die Schule sollte nicht mehr unter der Aufsicht der Kirche, sondern der des Staates stehen. Immanuel Kant (1724-1804) definierte Aufklärung als den »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« und fuhr fort: »Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung« (Kant 1784 / 1983, 53). Die erste pädagogische Strömung mit aufklärerischen Intentionen war die der ›didaktischen Reformer‹ des 17. Jahrhunderts. Sie kritisierten den ›Verbalismus‹, der vor allem an den Lateinschulen mit Schwerpunkt auf den alten Sprachen vorherrschend war. Anstatt einer zu starken Konzentration auf den Sprachunterricht und der griechischen und römischen Antike sollten Schulen eher einen ›Realismus‹, also ein Sachwissen, vermitteln. Die Inhalte sollten anschaulich dargestellt werden, sodass sich die Kinder darunter etwas vorstellen konnten. Ein wichtiger Vertreter dieser Strömung war Johann Amos Comenius (1592-1670). Er war der Ansicht, dass alle Menschen, unabhängig von Geschlecht und sozialem Stand, grundsätzlich alles lernen sollten und ging davon aus, dass das kindliche Lernen zuerst über die Sinne geschah. Comenius verfasste das Werk »Orbis pictus«, ein bebildertes Schulbuch, das bis ins 19. Jahrhundert verwendet wurde. Es gilt als erstes Bilderbuch für Kinder und Comenius begründete damit das Prinzip der Anschauung in der Pädagogik (Fuchs 2019, 71 ff ). Ein weiterer wichtiger Pädagoge der Aufklärung war John Locke (1632-1704), der seine Grundideen in der 1693 verfassten Schrift »Some Thoughts Concerning Education« (dt.: »Gedanken über Erziehung«) vorstellte. Er sah den kindlichen Geist als ›tabula rasa‹, d. h. als leere Schreibtafel, die mit Inhalten gefüllt werden sollte (Gudjons 2012, 84). Locke gilt als Begründer des ›spielenden Lernens‹ und entwickelte Lernmaterialien, die dazu beitragen sollten, dass Kindern das Lernen subjektiv als Spiel erscheint. Beispielsweise erstellte er mit Buchstaben gekennzeichnete Holzwürfel, die das Lernen des Alphabets erleichtern sollten. Locke betonte auch die Wichtigkeit, Kinder so früh wie möglich zum eigenen Denken anzuregen (Fuchs 2019, 79 ff ). Die Ideen Lockes wurden von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) aufgenommen und weiterentwickelt. In Rousseaus Werk »Émile» wird in Romanform der exemplarische Bildungsweg des Protagonisten Émile detailliert beschrieben, von seiner Geburt bis zu seiner Hochzeit im Alter von 25 Jahren. Rousseaus Ziel ist es, den Menschen in Kultur und Gesellschaft einzuführen, ohne dass er dabei seine Identität verliert. Nach Rousseau zeigt sich die Mündigkeit eines gebildeten Menschen nicht darin, dass er den Vorstellungen seines Erziehers entspricht, sondern darin, dass er zu seiner eigenen Position gelangt ist. Das kindliche Spiel wird als wichtige Komponente der Erziehung angesehen, da dabei körperliche und geistige Funktionen geübt wer- Der Verlust von Selbstbewusstsein ist Folge pädagogischer Machtformen. [ 111 ] [ 111 ] Weiß • Psychomotorik und Menschenbild 3 | 2025 den. Rousseau betonte den angeborenen Bewegungsdrang des Kindes, der auch in der Psychomotorik eine wichtige Rolle spielt. Kinder sollten so lange wie möglich Kinder sein dürfen und die Erzieher: innen sollten die natürlichen Kräfte in den Kindern walten lassen. Rousseau sah auch die Sinneserziehung als elementare Grundlage der intellektuellen Entwicklung des Kindes (Fuchs 2019, 88; Böhm 2004, 68 ff ). Émile darf sich in Rousseaus Werk frei bewegen, damit die durch seine Bewegung gewonnenen Erfahrungen und Erlebnisse in umfassende körperliche, geistige und seelisch-emotionale Fähigkeiten und Einsichten übergeführt werden können. Ein weiterer wichtiger Vertreter der Aufklärungspädagogik war der Schweizer Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827). Er stellte sein pädagogisches Konzept in dem Buch »Wie Gertraud ihre Kinder lehrt« (1801) vor. Laut Pestalozzi sollten Kinder eine ganzheitliche Bildung von Kopf, Herz und Hand, also sowohl eine intellektuelle, eine moralische als auch eine handwerkliche Bildung erhalten. Der Unterricht sollte vom Leichten zum Schweren fortschreiten, die Selbsttätigkeit der Kinder fördern und am Beginn des Erkenntnisprozesses sollte die sinnliche Anschauung stehen. Ende des 18. Jahrhunderts bildete sich der Neuhumanismus, der die harmonische Entfaltung aller im Menschen ruhenden Kräfte und Vermögen sowie die Befähigung zur Selbstbestimmung als wichtigste Bildungsziele sah. Dies soll vor allem durch das Studium der griechischrömischen Antike, deren Kultur als vorbildlich erachtet wurde, gelingen. Einer der wichtigsten Vertreter des Neuhumanismus war Wilhelm von Humboldt (1767-1835). Er sah Bildung als Selbstzweck und gab einer allgemeinen Menschenbildung den Vorrang vor der Berufsbildung. Die Kräfte des Intellekts, der Einbildung, der sinnlichen Wahrnehmung und der Empfindung sollten innerhalb des Bildungsprozesses angesprochen und in einem harmonischen Gleichmaß ausgebildet werden. Laut Humboldt macht der Mensch im Bildungsprozess die Welt, mit der er sich auseinandersetzt, zu einem Teil von sich selbst. Bildung ist nicht durch Nützlichkeitsüberlegungen begrenzt und wird als lebenslange Aufgabe gesehen (Humboldt 1988). Zum Menschenbild in der Psychomotorik Die Psychomotorik basiert auf einem humanistischen Menschenbild, welches in den 1950er- Jahren von den Psycholog: innen Charlotte Bühler, Abraham Maslow und Carl Rogers entwickelt wurde. Sie wollten sich damit von dem Menschenbild der Psychoanalyse nach Sigmund Freud sowie dem Menschenbild des Behaviorismus nach J. B. Watson und B. F. Skinner abgrenzen. Das humanistische Menschenbild wurde u. a. von Humboldt beeinflusst, der die Fähigkeiten zu Freiheit und Vernunft als zentrale Bestimmungsmerkmale des Menschen sah (Korf 2022). Jeder Mensch ist zu Beginn seines Lebens von seiner Umwelt abhängig, je mehr er jedoch die Beherrschung über den eigenen Körper erlangt, desto mehr strebt er nach Autonomie. Dieses Streben nach Autonomie kann bereits bei Kleinkindern beobachtet werden, die beim Spielen von dem Wunsch beseelt sind, etwas selbst zu tun. Die autonome Persönlichkeit kann sich jedoch nur im Austausch mit der sozialen Gemeinschaft entwickeln. Daher bedeutet Autonomie immer auch sozialverantwortliches Handeln. In der Satzung des Europäischen Forums für Psychomotorik heißt es: »Auf Grund eines holistischen Menschenbildes, das von einer Einheit von Körper, Seele und Geist ausgeht, beschreibt der Begriff PSYCHOMOTORIK die Wechselwirkung von Kognition, Emotion und Bewegung und deren Bedeutung für die Entwicklung der Handlungskompetenz des Individuums im psychosozialen Kontext« (European Forum of Psychomotricity 1996). Dieses Menschenbild verweist auf die wichtige Rolle von Bewegung für die Entwicklung des Kindes. Das Kind strebt nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung und beides kann über Bewegung erfahren werden. Bewegung ist ein hervorragendes Mittel, um die Umwelt zu erfahren und über sich selbst verfügen zu können. Das Kind kann durch Bewegung auf seine Umwelt einwirken und sie nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten. [ 112 ] 3 | 2025 Forum Psychomotorik Um das Kind bestmöglich in seinem Streben nach Autonomie zu unterstützen, wird erzieherisches Handeln in der Psychomotorik als interaktiver Prozess gesehen. Das Kind ist ein aktiver Gestalter seiner Entwicklung, der alle erzieherischen Maßnahmen interpretiert und verarbeitet und eventuell auch durchkreuzt (Göppel 1997). Jedes Kind wird als individuelle Person mit einer eigenen Lebensgeschichte und spezifischen Bedürfnissen gesehen: »Kinder sollen sich spielerisch, frei und ungezwungen äußern und entwickeln können. Spiel ist die kreativste Form des Lernens. Wichtig ist die Zurückhaltung und der Respekt der Erwachsenen vor der Freiheit und Eigentätigkeit des Kindes. In der Selbstverwirklichung liegt die Antriebskraft, die sich im Austausch mit der sozialen Umwelt entfaltet« (Weiß 2022, 8). Das wichtigste Ziel in der Psychomotorik besteht darin, Kinder dabei zu unterstützen, ihre Potenziale zu entfalten und ihre Ressourcen zu nutzen. Es wird ein ganzheitliches, humanistisches Menschenbild vertreten, »das geprägt ist durch das Recht jedes Menschen auf seine eigene Entwicklung und den Respekt jeder PsychomotorikerIn vor diesem Recht« (Seewald 1997, 8). Bewegung ist eine nonverbale Sprache (Kommunikation mit sich selbst und anderen), die in der Regel verstanden wird, da sie auf den gemeinsamen Werten und Normen einer Kultur basiert. Vor allem Kinder kommunizieren hauptsächlich über ihren Körper bzw. durch Bewegungshandlungen. Sie haben einen natürlichen Bewegungsdrang, den sie ausleben und damit in einen Flow (Fließerlebnis / Selbstbestimmtheit) kommen können. Im Flow arbeitet man nicht auf ein externes Ziel hin, sondern die Aktivität selbst, das selbstvergessene Tun, wird zum Ziel (Csikszentmihalyi 1990). Menschen, die im Flow sind, sind intrinsisch motiviert und damit selbstbestimmt. Die intrinsische Motivation beschreibt den Willen, etwas aus eigener Entscheidung gerne zu tun, weil es Freude bereitet und sinnvoll erscheint und sie äußert sich in eigenverantwortlicher, schöpferischer Gestaltung. Gleichzeitig können durch Bewegung Fähigkeiten eingesetzt und Eigenschaften zur Schau gestellt werden, die in der sozialen Umwelt geschätzt werden, wie Geschicklichkeit, Kraft, Wissen, Intelligenz, Mut, Toleranz und Selbstbeherrschung (extrinsische Motivation) (Weiß 2022, 6). Das heißt, Bewegung zeichnet sich dadurch aus, dass sie sowohl intrinsische Motivation (Selbstbestimmtheit) als auch extrinsische Motivation (soziale Anerkennung) umfasst. Nach Weiß und Norden (2021, 172) ergibt sich die Faszination des Sports (der eine körperliche Bewegung ist) aus dem Zusammenfallen von Aktion (Selbstbestimmtheit) und Präsentation (soziale Anerkennung). Fazit Das Menschenbild der Aufklärung ist durch das Vertrauen in die menschliche Vernunft und Rationalität gekennzeichnet. Die Aufklärungspädagog: innen versuchten, einen Weg zu finden, Kinder einerseits zur Entfaltung ihrer inneren Kräfte zu führen und sie andererseits zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Es wurde davon ausgegangen, dass Kinder zur Mündigkeit geführt werden konnten, wenn man sie lehrte, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Es gab jedoch ein klares Machtverhältnis zwischen Erzieher: innen und Kind, welches oft auch durch Formen schwarzer Pädagogik sichergestellt wurde. Die Motivation der Kinder wurde vor allem durch extrinsische Faktoren (Lob und Tadel sowie Bestrafungen oder Belohnungen von außen) beeinflusst. Der Psychomotorik liegt ein humanistisches Menschenbild zugrunde. Das Kind wird als aktiver Gestalter seiner Entwicklung gesehen, der nach Autonomie und persönlicher Entfaltung strebt. Pädagog: innen werden als Lernbegleiter: innen gesehen. In der Psychomotorik spielt intrinsische Motivation (Bewegungsbedürfnis) eine wichtige Rolle. Kinder haben einen natürlichen Bewegungsdrang, den sie für ihre körperliche und geistige Entwicklung nut- Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung können über Bewegung erfahren werden. [ 113 ] [ 113 ] Weiß • Psychomotorik und Menschenbild 3 | 2025 zen. Somit sind sie primär intrinsisch motiviert: Bewegung macht Kindern Spaß und bewirkt, dass sie mit großer Begeisterung an eine Sache herangehen (Weiß 2022, 5). Die Forderung nach intrinsischer Motivation bzw. Selbstbestimmtheit findet sich bereits im Denken des Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant. Kant sprach von ›Autonomie‹ und war der Ansicht, dass jeder Mensch selbstbestimmt nach seinem eigenen freien Willen handeln sollte. Das Gegenteil, also das fremdbestimmte Handeln nach Gesetzen, die von der Gesellschaft oder Politik vorgegeben wurden, nannte Kant ›Heteronomie‹ (Dryden 2024). In der Aufklärungspädagogik war die Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit das Ziel des Bildungsprozesses. Es wurde jedoch davon ausgegangen, dass Kinder auf dem Weg zu dieser Autonomie streng diszipliniert werden mussten. In der Psychomotorik hingegen dürfen sich Kinder frei und unbeschwert bewegen. Somit ist die Entwicklung der Selbstbestimmtheit bzw. Autonomie des Kindes nicht nur Ziel, sondern gleichsam ein pädagogisches Prinzip der Psychomotorik. Kinder können durch Bewegung Selbstbestimmtheit und soziale Anerkennung erfahren. Die Bedeutung der Bewegung, des Spiels und der Sinneswahrnehmung für das kindliche Lernen wurde bereits von einigen Pädagog: innen der Aufklärung, wie John Locke, Jean-Jacques Rousseau oder Johann Heinrich Pestalozzi, aufgegriffen. Insgesamt wurde in der Aufklärung jedoch von einem Körper-Geist-Dualismus ausgegangen. Der Philosoph René Descartes (1596-1650), der den für die Aufklärung grundlegenden Satz »cogito ergo sum« (ich denke, also bin ich) prägte, nahm an, dass das denkende Ich vom körperlichen Dasein getrennt sei. In der Psychomotorik hingegen spielen die Wechselwirkungen zwischen Bewegung, Kognition und Emotion eine wichtige Rolle. Ebenso herrschte in der Aufklärungspädagogik eine starke Nützlichkeitsorientierung- - Bildung wurde als Mittel gesehen, um »brauchbare« Mitglieder der Gesellschaft zu formen. Aus der Kritik an diesem Gedankengut bildete sich die Strömung des Neuhumanismus, deren wichtigster Vertreter Humboldt war. Dieser sah Bildung als Selbstzweck und war der Ansicht, dass beim Lernen sowohl die Kräfte des Intellekts als auch der sinnlichen Wahrnehmung angesprochen werden sollten. Die Ideen Humboldts beeinflussten das humanistische Menschenbild, auf dem die Psychomotorik basiert. Lernen ist effizient, wenn dabei alle Sinne angesprochen werden. Bildung ist viel mehr als Wissenserwerb. Sie betrifft den ganzen Menschen, sein Denken, Fühlen und Handeln, sein Empfinden und Wahrnehmen. Bildung ist Identitätsformung. »Erst, wenn es in den Sinnen ist, ist es im Verstand. Über die Sinne werden Erfahrungen zu Erkenntnissen und der Stoff bleibt leichter und länger im Gedächtnis. Man spricht von effizientem Lernen« (Weiß 2022, 5 f ). Indem sich Kinder bewegen und spielen dürfen, können sie ihre geistigen und seelisch-emotionalen Potenziale ausschöpfen. Der Verzicht auf Disziplinierung bedeutet jedoch nicht, dass man das Kind sich selbst überlässt. Laut Alice Miller brauchen Kinder Lernbegleiter: innen, die sie unterstützen und zur Stelle sind, wenn sie gerade nicht weiterkommen und eine spezielle Förderung benötigen. Um dem Kind seine volle Entfaltung zu ermöglichen, sollte die Begleitung folgende Züge aufweisen (Miller 1982, 122): »1. Achtung vor dem Kind; 2. Respekt für seine Rechte; 3. Toleranz für seine Gefühle; 4. Bereitschaft, aus seinem Verhalten zu lernen sowohl über das Wesen dieses einzelnen Kindes als auch über die eigene Kindheit und die Gesetzmäßigkeiten des Gefühlslebens, die bei Kindern deutlicher zu beobachten sind als bei Erwachsenen.« Ich bedanke mich bei Frau Hildegard Wehler vom Ernst Reinhardt Verlag, die diesen Beitrag angeregt und wertvolle Hinweise gegeben hat. Ebenso danke ich Frau Mag. Katharina Tobisch für die Unterstützung. Bildung ist viel mehr als Wissenserwerb. Sie betrifft den Menschen als Ganzes. Bildung ist Identitätsformung. [ 114 ] 3 | 2025 Forum Psychomotorik Literatur Adorno, T. W. 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