eJournals Motorik 48/3

Motorik
7
0170-5792
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mot2025.art23d
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2025
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Forum Psychomotorik: Bewegungsdiagnostik in der heilpädagogischen Frühförderung

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2025
Mone Welsche
Ergebnisse einer Fragebogenerhebung zur heilpädagogischen Frühförderung in Baden-Württemberg verdeutlichen, welche Aspekte von Bewegung durch die von Heilpädagog:innen genutzten standardisierten Instrumente erfasst werden und in welchen Bereichen weiterer Bedarf besteht. Im vorliegenden Beitrag wird zunächst die Bewegungsdiagnostik in der Heilpädagogik und Frühförderung skizziert und die zentralen Ergebnisse der Erhebung werden vorgestellt. Darauf aufbauend erfolgt eine Diskussion der Befunde mit Blick auf deren Relevanz für die Psychomotorik und Heilpädagogik und mögliche weiterführende Fragestellungen.
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Zusammenfassung / Abstract Ergebnisse einer Fragebogenerhebung zur heilpädagogischen Frühförderung in Baden-Württemberg verdeutlichen, welche Aspekte von Bewegung durch die von Heilpädagog: innen genutzten standardisierten Instrumente erfasst werden und in welchen Bereichen weiterer Bedarf besteht. Im vorliegenden Beitrag wird zunächst die Bewegungsdiagnostik in der Heilpädagogik und Frühförderung skizziert und die zentralen Ergebnisse der Erhebung werden vorgestellt. Darauf aufbauend erfolgt eine Diskussion der Befunde mit Blick auf deren Relevanz für die Psychomotorik und Heilpädagogik und mögliche weiterführende Fragestellungen. Schlüsselbegriffe: Frühförderung, Heilpädagogik, Bewegungsdiagnostik, Fragebogenerhebung Movement Diagnostics in Early Childhood Special Education Results of a Survey and Questions for Psychomotricity / Motology The results of a questionnaire survey on early intervention in curative education in Baden-Württemberg illustrate which aspects of movement are recorded by the standardized instruments used by curative educators and in which areas there is a need for further research. This article first outlines movement diagnostics in curative education and early intervention and presents the key results of the survey. This is followed by a discussion of the findings with regard to their relevance for psychomotor skills and special education and possible further questions. Keywords: early intervention, curative education, movement diagnostics, questionnaire survey, movement [ 115 ] motorik, 48. Jg., 115-123, DOI 10.2378 / mot2025.art23d © Ernst Reinhardt Verlag 3 | 2025 [ FORUM PSYCHOMOTORIK ] Bewegungsdiagnostik in der heilpädagogischen Frühförderung Ergebnisse einer Fragebogenerhebung und Fragen an die Psychomotorik / Motologie Mone Welsche In der heilpädagogischen Entwicklungsförderung spielt das Medium Bewegung sowie der Einsatz bewegungsorientierter Methoden eine zentrale Rolle, um Kinder ressourcenorientiert und altersgerecht in ihrer Entwicklung zu unterstützen (Reichenbach 2023; Fischer et al. 2024; Gröschke 1997). Das Verständnis von Bewegung geht über die Motorik als Gesamtheit nicht beobachtbarer Steuerungs- und Funktionsprozesse hinaus. Mit Rückgriff auf Merleau-Ponty (1965) wird Bewegung in einem anthropologischphänomenologischen Verständnis vielmehr als grundlegende Form der leiblichen Auseinandersetzung mit der Welt und als Sein in der Welt betrachtet (Fischer et al. 2024; Gröschke 1997). Bewegung, die sich im Spektrum von Körper-Haben und Leib-Sein vollzieht, ist damit die Grundlage der Beziehungsgestaltung zur personalen und materialen Umwelt sowie in Prozessen von Weltaneignung und Weltverstehen. Für die heilpädagogische Frühförderung bietet der bewusste Einbezug der Bewegungsebene sowohl zu diagnostischen Zwecken als auch als Medium oder Methode in der Intervention weit mehr als die Überprüfung und Förderung motorischer Kompetenzen, Fertigkeiten und Fähigkeiten. Insbesondere in diagnostischen Prozessen kann der Blick auf Bewegung, verstanden als Handlung und / oder Ausdruck (Buytendijk 1956), und ihre Funktionen (Funke- Wieneke 2010) relevante Informationen über das Kind, seine Ressourcen und Unterstützungsbedarfe bieten. [ 116 ] 3 | 2025 Forum Psychomotorik Um die Bedeutung der Bewegungsebene in der heilpädagogischen Frühförderung aus der Perspektive heilpädagogischer Fachkräfte zu untersuchen, wurde im Zeitraum Herbst 2022- - Frühjahr 2023 eine Fragebogenerhebung in Baden-Württemberg durchgeführt. Der Fragebogen setzte sich aus zwei Themenbereichen zusammen: Fragen zur Relevanz von Bewegung in der Förderung und Fragen zur Diagnostik. Die Ergebnisse der Erhebung wurden als Originalarbeiten in der Heilpädagogik und Zeitschrift für Interdisziplinäre Frühförderung veröffentlicht (Welsche / Theil 2023, Welsche / Theil 2024). Die Ergebnisse zum Bereich Förderung wurden bereits in motorik 3 / 2024 aufgegriffen. Der Fokus dieses Beitrags liegt auf den Ergebnissen aus dem diagnostischen Teil des Fragebogens. Auch aus diesem ergeben sich für mich Fragestellungen mit Bezug zur Psychomotorik und Motologie. Diese werde ich im vorliegenden Beitrag zur Diskussion stellen. Zur inhaltlichen Einordnung geht der Darlegung meiner Überlegungen eine kurze Einführung in die Bewegungsdiagnostik in der Heilpädagogik und Frühförderung sowie eine Darstellung zentraler Ergebnisse der Erhebung voraus. Bewegungsdiagnostik in der Heilpädagogik und heilpädagogischen Frühförderung In Baden-Württemberg ist die Frühförderung ein interdisziplinäres Arbeitsfeld, in dem heilpädagogische Fachkräfte gemeinsam mit Physiotherapeut: innen, Ergotherapeut: innen, Logopäd: innen und zum Teil auch Motopäd: innen oder Motolog: innen tätig sind. Zum Aufgabenbereich der heilpädagogischen Fachkräfte gehört neben der Förderung von Kindern, die in ihrer Entwicklung gefährdet oder beeinträchtigt sind, und der Begleitung und Beratung der Familie auch die Diagnostik. Sie dient als Grundlage für eine bedarfsgerechte und zielgerichtete Förderung (Dahms / Seidel 2012) und unterstützt die Früherkennung von Entwicklungsrisiken und -problemen (Thurmair / Naggl 2010). Zur Erfassung und Überprüfung des Entwicklungsstandes eines Kindes- - sowohl als Ist-Stand-Erhebung als auch zur Verlaufsdokumentation (Reichenbach / Thiemann 2023)- - steht eine Vielzahl standardisierter Verfahren zur Verfügung. Darunter befinden sich Instrumente, die motorische Kompetenzen erfassen und damit an der Bewegungsebene ansetzen. Diese können als Screeningverfahren konzipiert sein, um einen allgemeinen Überblick über die Entwicklung des Kindes zu bekommen oder als entwicklungsbereichsspezifische Verfahren, um einzelne Entwicklungsbereiche detailliert zu überprüfen, wenn sich im Screening Auffälligkeiten zeigen. Ein Überblick über die im deutschsprachigen Raum verfügbaren bewegungsdiagnostischen Instrumente (Reichenbach 2016a) zeigt, dass die überwiegende Mehrheit motorische Parameter setzt. Auch in Screeningverfahren wie beispielsweise dem Entwicklungstest für Kinder von 6 Monaten bis 6 Jahren (ET 6-6R; Petermann / Macha 2015) beziehen sich bewegungsbezogene Items ausschließlich auf die Messung motorischer Aspekte. Dabei, so Reichenbach (2025, 7) in einem aktuellen Beitrag zur heilpädagogischen Diagnostik, »sagen (qualitative Beobachtungen) oftmals mehr aus als die reinen Ergebnisse eines Verfahrens«. Einzelne Verfahren, die qualitative Aspekte im Bewegungsverhalten und -ausdruck erfassen, finden sich im klinisch-psychiatrischen Kontext (Welsche et al. 2007; Hölter 2011). In der Heilpädagogik scheinen sie jedoch weniger bekannt zu sein, was zu der Annahme führt, dass sowohl das Bewegungsverhalten als auch der Bewegungsausdruck wenig systematisch beobachtet werden. Die vorrangige Ausrichtung diagnostischer Verfahren auf die Überprüfung des motorischen Entwicklungsstandes, die sich in der Literatur zur Bewegungs- oder Motodiagnostik zeigt, steht in einer Diskrepanz zur heilpädagogischen Perspektive auf den Gegenstand der Bewegung. Aus einer anthropologisch-phänomenologischen Perspektive wird Bewegung umfassender verstanden als die bloße motorische »Seite des Geschehens« (Fischer et al. 2024, 227). So ist auch in diagnostischen Prozessen nicht nur der motorische Entwicklungsstand von Interesse. Reichenbach und Thiemann (2023) betonen in Anlehnung an Lotz (2007), dass auch [ 117 ] [ 117 ] Welsche • Bewegungsdiagnostik in der heilpädagogischen Frühförderung 3 | 2025 symbolische Aspekte der Bewegung (wie Mimik, Gestik, Blickkontakt) als wesentliche Rahmenbedingungen einer jeden heilpädagogischen Diagnostik berücksichtigt werden sollten. Darüber hinaus hebt der Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker Stern in seinem Spätwerk »Ausdrucksformen der Vitalität« (2011) die Bedeutung der Analyse dynamischer Bewegungsmerkmale, z. B. ob eine Bewegung eher kraftvoll ausgeführt wird oder sanft, plötzlich oder verzögert, als Ausdruck von Vitalität hervor. Demnach spiegeln diese Merkmale die Lebendigkeit und Anpassungsfähigkeit des Menschen wider. Um von heilpädagogischen Fachkräften in einer Befragung zu erfahren, welche Relevanz die Bewegungsebene als Dimension in der Diagnostik für sie hat, muss der Bewegungsbegriff strukturiert werden. Ein grundlegendes Werk zu dieser Thematik stammt von dem Anthropologen, Mediziner und Psychologen Buytendijk (1956). Er unterscheidet drei Grundformen der Bewegung: zielgerichtete Bewegungshandlungen, Bewegung als Ausdrucksphänomen sowie Bewegungen mit repräsentativer, also symbolischer Funktion, einschließlich ihrer Mischformen. Aufbauend auf diesen Überlegungen haben sich verschiedene Bewegungs- und Sportwissenschaftler: innen mit der Frage beschäftigt, wie das Phänomen ›Bewegung‹ unter bildungs- und erziehungstheoretischen Gesichtspunkten betrachtet werden kann (Grupe 1976; Scherler 1990; Funke-Wieneke 2010; Zimmer 2020). In der Befragung haben wir uns an der Differenzierung von Funke-Wieneke angelehnt, die in instrumentelle, soziale, symbolische und sensible Funktionen unterteilt. Das Verständnis dieser Begriffe (Tab. 1) wurde zuvor kurz erläutert. Zentrale Ergebnisse der Fragebogenerhebung Zur Befragung von in der Frühförderung tätigen Heilpädagog: innen wurde ein auf Baden-Württemberg begrenzter Onlinefragebogen durchgeführt. Dieser wurde im Mixed-Method-Design entwickelt (Döring / Bortz 2023) und beinhaltete zwei Frageblöcke: A) zu Bewegung als diagnostische Dimension und B) zu Bewegung als Medium in der heilpädagogischen Arbeit im Rahmen der Frühförderung. Der Frageblock A umfasste folgende Fragen: ■ Sehen heilpädagogische Fachkräfte Bewegung als diagnostisch relevante Kategorie an? ■ Welche Aspekte von Bewegung, angelehnt an die Funktionen nach Funke-Wieneke, erachten sie als interessant? ■ Werden zur Erfassung instrumenteller, sensibler, sozialer und symbolischer Aspekte der Bewegung standardisierte Verfahren eingesetzt oder gibt es einen Bedarf für passende Verfahren? ■ Nutzen die heilpädagogischen Fachkräfte die freie Beobachtung und auf was achten sie? Es wurden 257 Fragebogenlinks an heilpädagogische Praxen und Frühförderstellen in Baden-Württemberg versendet, wovon 86 gültige Antworten eingingen (Rücklaufquote ca. 27,1 %). Da die genaue Anzahl potenzieller Teilnehmer: innen nicht definiert war, ist diese Quote nur bedingt aussagekräftig. An der Erhebung nahmen ausschließlich Frauen im Alter von 22 bis 62 Jahren (M = 42,2) teil, von denen über die Hälfte (55,8 %) seit mehr als sechs Jahren in der Frühförderung tätig waren Die Auswertung erfolgte deskriptiv und inhaltsanalytisch. Tab. 1: Umschreibung der unterschiedlichen Aspekte von Bewegung Aspekt von Bewegung Beschreibung instrumentell Was kann das Kind? (motorische Kompetenzen) sozial Wie gestaltet das Kind in Bewegung / Körperkontakt Beziehung zu Anderen? symbolisch Wie drückt sich das Kind nonverbal in Mimik, Gestik, Haltung oder Dynamik der Bewegung aus? sensibel Wie und was spürt das Kind? (Wahrnehmung) [ 118 ] 3 | 2025 Forum Psychomotorik Unabhängig von der eigenen bewegungsorientierten Tätigkeit bewerteten alle Fachkräfte (n=86) die Dimension ›Bewegung‹ in der Diagnostik als relevant (ja: 98 %; eher ja: 2 %). Auch die nach Funke-Wieneke differenzierten Bewegungsaspekte wurden durchweg als bedeutsam eingestuft, wobei instrumentelle Aspekte etwas geringer bewertet wurden (Abb. 1). 72 % der Fachkräfte gaben in einer geschlossenen Frage an, standardisierte Verfahren einzusetzen, 23 % verneinten dies und 5 % machten keine Angaben. In der anschließenden offenen Frage, welche Verfahren genutzt werden, zeigte sich, dass Instrumente zur Überprüfung instrumenteller Aspekte am häufigsten genannt wurden (Abb. 2 und Tab. 2). Die Auswertung einer ordinalskalierten Frage, ob zu den verschiedenen Aspekten von Bewegung diagnostische Instrumente fehlen, ergab einen deutlichen Bedarf an Verfahren im Bereich der symbolischen (77 %), sensiblen (75 %) und sozialen Aspekte (74 %). Passend zu den Ergebnissen der vorausgegangenen Frage zeigt sich, dass 69 % im Bereich der instrumentellen Aspekte keinen Bedarf sehen (Abb. 3). Alle Heilpädagoginnen gaben in einer geschlossenen Frage (ja / nein) an, die freie Beobachtung zu nutzen. Eine ordinalskalierte Abfrage verschiedener Beobachtungskriterien verdeutlicht die Bandbreite der für die Fachkräfte relevanten Aspekte (Tab. 3). Die Auswahl der vorgeschlagenen Items erfolgte angelehnt an Parameter der ICF-CY sowie an standardisierte Verfahren, die in der Frühförderung und / oder in der qualitativen Bewegungsdiagnostik zur Erfassung unterschiedlicher Aspekte von Bewegung eingesetzt werden können. Dazu gehören der PERiK-Beobachtungsbogen, die Leuvener Beobachtungsskala, die Motor Behaviour Checklist und der ET 6-6R. Abb. 1: Diagnostische Relevanz der unterschiedlichen Aspekte von Bewegung (n=86) Abb. 2: Einsatz standardisierter Verfahren zu den unterschiedlichen Aspekten von Bewegung (n=86) Instrumentelle Aspekte Ja Soziale Aspekte Symbolische Aspekte Sensible Aspekte eher Ja eher Nein Nein k. A. 87 % 85 % 85 % 80 % 12 % 15 % 15 % 20 % 0 % 0 % 0 % 0 % 0 % 0 % 0 % 0 % 0 % 0 % 0 % 1 % Instrumentelle Aspekte Ja Soziale Aspekte Symbolische Aspekte Sensible Aspekte Ungültig Nein k. A. 7 % 7 % 10 % 10 % 10 % 70 % 68 % 57 % 30 % 60 % 6 % 6 % 17 % 17 % 13 % 12 % [ 119 ] [ 119 ] Welsche • Bewegungsdiagnostik in der heilpädagogischen Frühförderung 3 | 2025 Abb. 3: Fehlende diagnostische Instrumente (n=86) Tab. 2: Eingesetzte Verfahren zur Erfassung spezifischer Aspekte von Bewegung Eingesetzte Verfahren Mehrfachantworten Instrumentelle Aspekte ET 6-6R 42 % Movement ABC-2 10 % MOT 4-6 9 % Kuno Beller 5 % Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik 5 % Kiphard Entwicklungsgitter 3 % BOT-2 2 % Abenteuer mit der kleinen Hexe 2 % Wiener Entwicklungstest 2 % Sonstige (je 1x benannt): DESK 3-6R, KET Kid, Leistungsinventar Motorik 3-6, Bayley III, BUEVA III, Grenzsteine der Entwicklung, ids-2 8 % Soziale Aspekte ET 6-6R 6 % Sonstige (je 1x benannt): ADOS 2, Kuno Beller, Lovipt, MotorikPlus, Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik 6 % Symbolische Aspekte Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik 2 % Spielbeobachtungsbogen Zollinger 2 % Sonstige (je 1x benannt): ADOS, FREDI, Kuno Beller, LOVIPT, MotorikPlus 6 % Sensible Aspekte Wahrnehmungsfragebogen WN-FBG 6 % Kiphard Entwicklungsgitter 5 % FEW 2 2 % Sonstige (je 1x benannt): Abenteuer mit der kleinen Hexe, PEP-R, Sensory Profile 2 3 % Instrumentelle Aspekte Ja Soziale Aspekte Symbolische Aspekte Sensible Aspekte eher Ja eher Nein Nein k. A. 40 % 85 % 37 % 35 % 37 % 11 % 8 % 11 % 36 % 7 % 8 % 2 % 2 % 2 % 4 % 17 % 12 % 21 % 25 % 44 % 41% [ 120 ] 3 | 2025 Forum Psychomotorik Die Auswertung zeigt u. a., dass Beobachtungskriterien, die den sozialen Aspekt, wie die Beziehungsgestaltung, und den symbolischen Aspekt der Bewegung, wie z. B. den nonverbalen Ausdruck von Gefühlen, für sehr viele Fachkräfte hoch relevant sind. Zusammenfassung und weiterführende Überlegungen zur Psychomotorik und Motologie Die Ergebnisse zeigen, dass Bewegung in ihrer umfassenden Bedeutung in der heilpädagogischen Frühförderung als zentrale Dimension im diagnostischen Prozess betrachtet wird. Während zahlreiche Instrumente zur Erfassung motorischer Kompetenzen genutzt werden, zeigt sich ein Bedarf an Verfahren, die soziale, symbolische oder sensible Aspekte gezielt abbilden. Die freie oder unsystematische Beobachtung (Bodenmann 2006) kann als ein Lösungsansatz verstanden werden, da hier soziale sowie symbolische Aspekte genannt werden. Während der Auswertung begleitete mich kontinuierlich eine zweite Ebene mit Bezug zur Psychomotorik und Motologie, die zu den folgenden Fragestellungen und Überlegungen führte: Würden Befragungsergebnisse bei Psychomotoriker: innen, Motopäd: innen und Motolog: innen in der Frühförderung ähnlich ausfallen? Vermutlich ja, denn auch die Psychomotorik und Motologie hat sich nie auf die Förderung der mo- Tab. 3: Kriterien in der freien Beobachtung Aspekte freier Beobachtung (n=86) Item ja eher ja eher nein nein k. A. Blickkontakt 92 % 7 % 1 % 0 % 0 % Aufmerksamkeit/ Fokussierung 90 % 10 % 0 % 0 % 0 % Beziehungsgestaltung (zu Fachkraft, zu Kindern) 90 % 10 % 0 % 0 % 0 % Verbale Kommunikation 88 % 11 % 1 % 0 % 0 % Frustrationstoleranz 88 % 10 % 2 % 0 % 0 % Explorationsverhalten 86 % 14 % 0 % 0 % 0 % Anpassungsvermögen / Impulskontrolle 83 % 17 % 0 % 0 % 0 % Handlungsplanung 78 % 21 % 0 % 0 % 1 % Nonverbaler Ausdruck von Gefühlen 75 % 22 % 3 % 0 % 0 % Stereotype Bewegungen 74 % 20 % 6 % 0 % 0 % Selbstsicherheit 70 % 28 % 2 % 0 % 0 % Bewegungskoordination u. -kontrolle 67 % 30 % 3 % 0 % 0 % Situatives Interesse 64 % 34 % 2 % 0 % 0 % Grad der Aktivität 65 % 32 % 3 % 0 % 0 % Tonus 58 % 32 % 9 % 0 % 1 % Dosierung u. Einsatz von Kraft 57 % 36 % 7 % 0 % 0 % [ 121 ] [ 121 ] Welsche • Bewegungsdiagnostik in der heilpädagogischen Frühförderung 3 | 2025 torischen Entwicklung beschränkt, wie sowohl Kiphards Umschreibung der frühen Psychomotorik als »eine ganzheitlich-humanistische, entwicklungs- und kindgemäße Art der Bewegungserziehung, in deren Mittelpunkt die Förderung der gesamten Persönlichkeit steht« (Kiphard 1984, 49 f ) als auch ein Blick in die aktuellen Konzepte (s. u. a. Kuhlenkamp 2022) verdeutlichen. Dazu weist Reichenbach (2016b) darauf hin, dass die heutige Klientel der Psychomotorik im Kindesalter in erster Linie einen Förderbedarf im sozial-emotionalen Bereich aufweist und nicht im motorischen. Daher erscheint es mir wahrscheinlich, dass a) auch in der Psychomotorik und Motologie ein Bedarf an strukturierten und / oder standardisierten Instrumenten besteht, um Beobachtungen zum Bewegungsverhalten, -handeln und -ausdruck erfassen und dokumentieren zu können und b) die freie Beobachtung, mit ihren Vor- und Nachteilen (s. Kasten) häufig genutzt wird, um als wichtig empfundene Beobachtungen festzuhalten. Vorteile und Herausforderungen der freien Beobachtungen Aus diagnostischer Sicht bietet die freie oder unsystematische Beobachtung (Bodenmann 2006) die Flexibilität, Verhaltensweisen zu dokumentieren, die situativ als relevant erachtet werden, da keine festen Kriterien vorgegeben sind. Gleichzeitig birgt sie jedoch Risiken: Subjektive Einflüsse wie individuelle Einschätzungen, emotionale Beteiligung und Beobachtungsfehler (z. B. Erwartungseffekte oder einseitige Ressourcen- oder Defizitorientierung (Reichenbach / Thiemann 2023)) können die Ergebnisse verfälschen. Besonders kritisch ist dies, wenn die Eindrücke aus der freien Beobachtung nicht durch standardisierte Verfahren überprüft, ergänzt oder im Team reflektiert werden. Wie wird der bestehende Bedarf an Diagnostikinstrumenten, die über die Erfassung des motorischen Entwicklungsstandes hinausgehen, von der wissenschaftlichen Community eingeordnet? Wird dieser nicht als solcher wahrgenommen oder gibt es hier einen ›blind spot‹? Ein »blind spot« kann es eigentlich nicht sein. Eine Erhebung mit Bewegungstherapeut: innen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die ein zentrales Arbeitsfeld von Psychomotoriker: innen, Motopäd: innen und Motolog: innen darstellt, ergab vor einigen Jahren ein nahezu identisches Bild und auch damals wurde die Dominanz der auf Motorik ausgerichteten Instrumente problematisiert (Welsche et al. 2005/ 2007). Und auch Reichenbach verweist in ihrer Publikation über »40 Jahre (psycho-)motorische Diagnostik im Wandel der Zeit? ! ? « bereits 2016 darauf, dass sie einen deutlichen Bedarf für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem aktuellen Stand der Motodiagnostik in Deutschland sieht. Dazu gehört auch die Bearbeitung der Frage, wie sozial-emotionale Aspekte des Bewegungsverhaltens erfasst werden können. In dem von Zimmer 2021 veröffentlichten Beobachtungsverfahren MotorikPlus für die Altersspanne der frühen Kindheit wird neben der Überprüfung motorischer Kompetenzen auch mit einigen Items die Beobachtung emotionaler, sozialer und kognitiver Kompetenzen ermöglicht. Dies ist meines Erachtens ein Schritt in die ›richtige Richtung‹, schließt allerdings nicht die Lücke, die wir mit der Entwicklung passender Beobachtungsinstrumente schließen können und sollten. Diese Instrumente können die Praxis unterstützen, möglichst wertfrei und, bei aller Subjektivität, die in Beobachtungen immer mit einfließt, möglichst objektiv festhalten, was auf der Bewegungsebene zu sehen ist. Damit können Veränderungen im Prozess und Entwicklungsverläufe erfasst sowie Hinweise für weitere Interventionen Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Stand der Motodiagnostik ist erforderlich. [ 122 ] 3 | 2025 Forum Psychomotorik abgeleitet werden. Gleichzeitig erhält die Fachkraft strukturiert Informationen für Verlaufs- und Abschlussberichte. Auch würden sie zur Qualitätssicherung beitragen und möglicherweise sogar zu Wirksamkeitsstudien herangezogen werden können. Ein Blick über den deutschsprachig-psychomotorischen Tellerrand hinaus zeigt Beispiele wie die Leuvener Beobachtungsskala (Simons et al. 1989, Welsche / Romer 2005) oder die kürzlich ins Deutsche übertragene Movement Behaviour Checklist (Amft et al. 2023) sowie bewegungsanalytische Ansätze, wie die Laban- Bewegungsanalyse (Kennedy / Brinkmann 2017) oder die Beziehungsdimensionen im Sherborne- Konzept (Welsche 2018), die genutzt werden und / oder Impulse zur Entwicklung ›eigener‹ Instrumente bieten könnten. Literatur Amft, S., Beudels, W., Bräuninger, I., Hölter, G., Welsche, M. (2023): »Diagnostik mit Bauchgefühl? «. Die Motor Behavior Checklist (MBC) als Instrument zur Beobachtung und Dokumentation von auffälligem Verhalten im Kindesalter. motorik 47 (1), 4-11, https: / / doi.org/ 10.2378/ mot2024. art02d Bodenmann, G. (2006): Beobachtungsmethoden. In: Petermann, F., Eid, M. (Hrsg.): Handbuch der Psychologischen Diagnostik. Hogrefe, Göttingen, 151- 159 Buytendijk, F. J. J. (1956): Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung. Als Verbindung und Gegenüberstellung von Physiologischer und Psychologischer Betrachtungsweise. Springer, Berlin / Göttingen / Heidelberg, https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-642-85548-1 Dahms, W., Seidel, A. (2012): Diagnostik und Beratung in Interdisziplinären Frühförderstellen. In: Gebhard, B., Henning, B., Leyendecker, C. (Hrsg.): Interdisziplinäre Frühförderung. Kohlhammer, Stuttgart, 186-192 Döring, N., Bortz, J. (2023): Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften. 6. Aufl. Springer, Berlin / Göttingen / Heidelberg, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662-64762- 2_20 Fischer, H., Renner, M., Schmid, S. (2024): Heilpädagogik. Heilpädagogische Handlungskonzepte in der Praxis. 3. Aufl. Lambertus, Freiburg Funke-Wieneke, J. (2010): Bewegungs- und Sportpädagogik. 2. Aufl. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler Gröschke, D. (1997): Praxiskonzepte der Heilpädagogik. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel Grupe, O. (1976): Was ist und was bedeutet Bewegung? In: Hahn, E., Preising, W. (Hrsg.): Die menschliche Bewegung. Hofmann, Schorndorf, 3-19 Hölter, G. (2011): Bewegungstherapie bei Psychischen Erkrankungen. Dt. Ärzteverlag, Köln, https: / / doi. org/ 10.47420/ 9783769137149 Kennedy, A., Brinkmann, D. (2017): Laban / Bartenieff- Bewegungsstudien. motorik- 40 (4), 174-179, https: / / doi.org/ 10.2378/ Mot2017.art28d Kiphard, E. J. (1984): Psychomotorik- - Motopädagogik- - Mototherapie. Fragen der Gegenstandsbestimmung und Abgrenzung. motorik 7 (2), 49-51 Kuhlenkamp, S. (2022): Lehrbuch Psychomotorik. 2. Aufl. Ernst Reinhardt, München, https: / / doi. org/ 10.36198/ 9783838588209 Lotz, D. (2007): Heilpädagogische Diagnostik. In: Greving, H. (Hrsg.): Kompendium der Heilpädagogik. Band 1. Bildungsverlag Eins, Troisdorf, 327-336 Merleau-Ponty, M. (1965): Phänomenologie der Wahrnehmung. De Gruyter, Berlin, https: / / doi. org/ 10.1515/ 9783110871470 Petermann, F., Macha, T. (2015): Entwicklungstest für Kinder von 6 Monaten bis 6 Jahren - Revision. 2. Aufl. Pearson, Frankfurt Reichenbach, C. (2025): Aktuelle Perspektiven und Entwicklungen in der Heilpädagogischen Diagnostik im Kindes- und Jugendalter. heilpaedagogik.de 40 (1), 6-11 Reichenbach, C. (2023): Handbuch heilpädagogischer Konzepte und Methoden. Kohlhammer, Stuttgart Reichenbach, C. (2016a): Bewegungsdiagnostik in Theorie und Praxis. Bewegungsdiagnostische Verfahren und Modelle. Bedeutung für Praxis und Qualifizierung. Borgmann, Dortmund Reichenbach, C. (2016b): »Diagnostik« kann doch jeder? ! ? 40 Jahre (psycho-)motorische Diagnostik im Wandel der Zeit? ! In: Jessel, H., Krus, A. (Hrsg.): Sich bewegen kann doch jeder! 40 Jahre Aktionskreis Psychomotorik e. V. Aktionskreis Psychomotorik, Lemgo, 161-184 Reichenbach, C., Thiemann, H. (2023): Lehrbuch diagnostischer Grundlagen der Heil- und Sonderpädagogik. 3. Aufl. Borgmann, Dortmund Scherler, K. (1990): Bewegung als Zeichen. In: Göhner, U., Gabler, H. (Hrsg.): Für einen besseren Sport. Hofmann, Schorndorf, 396-414 Simons, J., Van Coppenolle, H., Pierloot, R., Wauters, M. (1989): Zielgerichtete Beobachtung des Bewegungsverhaltens in der Psychiatrie. motorik 12 (2), 66-71 Stern, D. N. (2011): Ausdrucksformen der Vitalität. Brandes & Apsel, Frankfurt am Main Thurmair, M., Naggl, M. (2010): Praxis der Frühförderung. Einführung in ein interdisziplinäres Arbeitsfeld. Ernst Reinhardt, München / Basel, https: / / doi. org/ 10.36198/ 9783838521718 Ein Blick über den deutschsprachigen Tellerrand bietet interessante Beispiele. [ 123 ] [ 123 ] Welsche • Bewegungsdiagnostik in der heilpädagogischen Frühförderung 3 | 2025 Welsche, M. (2024): Psychomotorik als Methode in der heilpädagogischen Frühförderung in Baden-Württemberg- - Einblicke und Fragen. motorik 39 (2), 112-120, https: / / doi.org/ 10.2378/ mot2024.art21d Welsche, M. (2018): Beziehungsorientierte Bewegungspädagogik. Ernst Reinhardt, München Welsche, M., Romer, G. (2005): Qualitative Bewegungsbeobachtung in der erlebnis- und bewegungspädagogischen Gruppenarbeit mit Jugendlichen im psychiatrisch klinischen Setting. Bewegungstherapie und Gesundheitssport 21 (5), 206-214, https: / / doi.org/ 10.1055/ s-2005-872490 Welsche, M., Romer, G., Rosenthal, S. (2005): Bewegungsdiagnostik und bewegungstherapeutische Professionalisierung in der klinischen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bewegungstherapie und Gesundheitssport 21 (5), 199-205, https: / / doi. org/ 10.1055/ s-2005-872489 Welsche, M., Stobbe, C., Romer, G. (2007): »Und wer sieht uns? «- - Bewegungsdiagnostik für Jugendliche. motorik 30 (2), 94-101, https: / / doi. org/ 10.1024/ 1422-4917.35.6.435 Welsche, M., Theil, F. (2024): Bewegung als diagnostische Dimension in der Frühförderung. Befragung von Heilpädagog: innen in Baden-Württemberg. heilpädagogik.de 39 (2), 28-34 Welsche, M., Theil, F. 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Herder, Freiburg, https: / / doi.org/ 10.2307/ j. ctvvb7m51.68 Die Schriftleitung und der Verlag freuen sich über Ihr Feedback zu diesem Artikel unter journals@reinhardt-verlag.de Die Autorin Prof.in Dr. Mone Welsche Professorin für Entwicklungsförderung im Kindes- und Jugendalter an der Katholischen Hochschule Freiburg, Forschungs- und Arbeitsschwerpunkt zu bewegungs- und sportorientierten Methoden in der Heilpädagogik und Sozialen Arbeit Anschrift Prof.in Dr. Mone Welsche KH Freiburg Karlstrasse 61 79104 Freiburg mone.welsche@kh-freiburg.de Infoveranstaltungen Melden Sie sich an für Termine im Herbst: www.hfh.ch/ infoveranstaltungen - Schulische Heilpädagogik, MA - Heilpädagogische Früherziehung, MA - Logopädie, BA und MA - Psychomotoriktherapie, BA und MA - Gebärdensprachdolmetschen, BA Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik HfH_Ins_Motorik_Info_MABA_84x122_sw.indd 1 HfH_Ins_Motorik_Info_MABA_84x122_sw.indd 1 21.05.25 16: 39 21.05.25 16: 39 - Anzeige -