körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Der Körper als Ressource in der Traumabehandlung
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Anna Willach-Holzapfel
Moderne Traumatherapie integriert unterschiedliche Methoden und bietet eine Möglichkeit der Überwindung des Gegensatzes zwischen verbalen und nonverbalen Ansätzen in der Psychotherapielandschaft. Der Artikel plädiert dafür, das Wissen um die physiologischen Grundlagen von Traumaerfahrungen in die psychotherapeutische Konzeptbildung und die praktische Arbeit dahingehend zu integrieren, dass der Körper mehr in die Behandlung einbezogen wird. Es wird ein körperorientierter und phasenspezifischer Ansatz vorgestellt, der Somatic Experiencing, EMDR, Arbeit mit Imagination, Ego-States und das Wissen um dissoziative Prozesse integriert und dessen Interventionen den unterschiedlichen Zielen der drei Phasen der Traumatherapie entsprechen: Stabilisierung, Konfrontation und Verarbeitung.
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127 körper - tanz - bewegung 1. Jg., S. 127-134 (2013) DOI 10.2378 / ktb2013.art12d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Aus der Praxis Der Körper als Ressource in der Traumabehandlung Anna Willach-Holzapfel Moderne Traumatherapie integriert unterschiedliche Methoden und bietet eine Möglichkeit der Überwindung des Gegensatzes zwischen verbalen und nonverbalen Ansätzen in der Psychotherapielandschaft. Der Artikel plädiert dafür, das Wissen um die physiologischen Grundlagen von Traumaerfahrungen in die psychotherapeutische Konzeptbildung und die praktische Arbeit dahingehend zu integrieren, dass der Körper mehr in die Behandlung einbezogen wird. Es wird ein körperorientierter und phasenspezifischer Ansatz vorgestellt, der Somatic Experiencing, EMDR, Arbeit mit Imagination, Ego-States und das Wissen um dissoziative Prozesse integriert und dessen Interventionen den unterschiedlichen Zielen der drei Phasen der Traumatherapie entsprechen: Stabilisierung, Konfrontation und Verarbeitung. Schlüsselbegriffe Integration verschiedener Ansätze in der Traumatherapie, Körper- und phasenspezifischer Ansatz, Körper als Ressource, „felt sense“, „Toleranzfenster“ Body as Resource in Trauma Therapy Modern trauma therapy integrates different approaches and offers the opportunity to overcome the gap between verbal and nonverbal approaches in the field of psychotherapy. This article pleads for an integration of the knowledge about the physiological background of traumatic experiences into psychotherapeutic concepts as well as into actual psychotherapy for a greater involvement of the body in the course of the treatment. A bodyoriented and phase-specific approach is presented. It integrates Somatic Experiencing, EMDR, working with imagination and ego-states, as well as knowledge about dissociative processes. Its interventions correspond to the different aims of the three phases of trauma therapy: stabilization, confrontation, and coping Key words integration of different approaches in trauma therapy, bodyand phase-specific approach, body as a resource, “felt sense”, “window of tolerance” D ie körperlichen Prozesse bei traumatischen Erfahrungen sind vielfältig, und sie machen die intensiven Folgeerkrankungen oft erst verständlich. Ich plädiere mit meinem Artikel dafür, dieses Wissen um die physiologischen Zusammenhänge in die traumapsychotherapeutische Konzeptbildung und in die praktische Arbeit dahingehend zu inte- 128 3 | 2013 Anna Willach-Holzapfel grieren, dass der Körper mehr in die Behandlung einbezogen und in seiner Bedeutung als Ressource für die Traumaverarbeitung genutzt wird. Ich praktiziere seit 30 Jahren als tiefenpsychologisch und seit zehn Jahren auch als traumatherapeutisch orientierte Körperpsychotherapeutin v. a. in ambulanter Praxis mit Einzelnen und Gruppen. Ich arbeite auf der Grundlage eines aus der Humanistischen Psychologie kommenden Menschenbildes und gehe davon aus, dass jeder Mensch, auch der schwer traumatisierte und hoch dissoziative Mensch, den Wunsch und die Fähigkeit hat, sich zu mehr Gesundheit und Selbstregulation zu entwickeln, zu reifen, sich zu beziehen und sich zu verwirklichen. Als Traumatherapeutin arbeite ich u. a. auf der Grundlage von Somatic Experiencing (Levine 2010). In dieser psycho-physiologischen Methode geht es - sehr verkürzt -darum, im Organismus noch wirksame überfordernde Ereignisse zu erspüren und durch Vollendung und Auflösung der drei angeborenen Überlebensstrategien zum Abschluss zu bringen: Flucht, Kampf- und Totstellreflex. Ich wende zudem EMDR (Shapiro 1999) an, arbeite mit den Konzepten zu Ego-States, Imagination und dissoziativen Prozessen (v. a. Reddemann 2001; Huber 2011 und Peichl 2008) und finde die Erkenntnisse der Polyvagal-Theorie (Porges 2010) und der Bindungsforschung (u. a. Brisch 2010) hilfreich. Je nach Indikation verbinde ich die verschiedenen Konzepte, die im Rahmen dieses Artikels nur kurz in ihrer Einordnung in den beschriebenen Ansatz dargestellt werden können. Im wahrsten Sinne erdende Basis für den jeweiligen Prozess ist immer der Versuch der Rückbindung an den Körper und die sich daraus ergebenden vielfältigen und heilsamen Möglichkeiten zur Traumaverarbeitung. Was geschieht im Körper bei und nach einem traumatischen Ereignis? Wenn wir in einer nicht überfordernden Situation sind, arbeitet unser Gehirn mit seinen drei wesentlichen Teilen, dem Hirnstamm, dem limbischen Gehirn und dem Großhirn, selbstregulativ mit dem Autonomen Nervensystem (ANS) und unserem Körper zusammen. Die Polyvagal-Theorie von Porges (2010) beschreibt das ANS dabei nicht mehr als duales System von Parasympathikus und Sympathikus, sondern als drei hierarchisch entstandene Kreisläufe, die den Kontakt mit der Außenwelt regulieren und die physiologischen Zustände entsprechend modulieren. Solange wir uns sicher fühlen, ist der phylogenetisch jüngste, ventral-vagale Zweig des Parasympathikus aktiv, der v. a. durch Blickkontakt, angenehmen Tonfall und freundliche Mimik vermittelt wird. Wenn Gefahr droht, dominiert das sympathische System, und wir reagieren mit zwei ganz instinktiv ablaufenden Verhaltensweisen: Wir versuchen zu fliehen bzw. suchen Schutz, oder wir kämpfen. Wenn das nicht gelingt, wenn der Ausweg durch Kampf oder Flucht aus einer seelisch und körperlich unerträglichen Situation nicht möglich ist, kommt es über die Aktivierung des ältesten Teils des ANS, dem dorsal-vagalen Zweig des Parasymphatikus, zu einem Zustand der Erstarrung bis hin zum völligen Abschalten durch den Totstellreflex. Der Organismus reagiert so aus Selbstschutz, Schmerzen werden dann kaum mehr gefühlt, der betroffene Mensch erlebt sich außerhalb seines Körpers oder verliert das Bewusstsein. Diese hier nur kurz dargestellten komplexen Abläufe betrachte ich als die physiologische Entsprechung von dissoziativen Prozessen, deren Ausprägung variieren kann in dem großen Spektrum zwischen dem Empfinden psychischer und physischer Taubheit einerseits und der multiplen dissoziativen Aufspaltung der Persönlichkeit andererseits. Der Körper als Ressource in der Traumabehandlung 3 | 2013 129 Die Körperwahrnehmung wird während des traumatischen Ereignisses ausgeblendet. Wenn der Mensch in diesem Zustand bleibt, geht das Körpergefühl teilweise oder vollständig verloren. Später ist es oft schwierig, die traumabedingten körperlichen Prozesse von Aktivierung und Erstarrung wieder zu erkennen und zu regulieren. Aus den mit der traumatischen Erfahrung assoziierten körperlichen Erregungsmustern können sich vielfältige Symptome entwickeln, die, wenn sie nicht mehr mit den traumatischen Ereignissen in Verbindung gebracht werden, zu den unterschiedlichsten medizinisch-psychiatrischen Diagnosen führen können. In diesen Symptomen wird sozusagen die Erinnerung an den erlebten Schrecken mit seiner immensen Erregung aufbewahrt, oft verbunden mit der Überzeugung, nichts dagegen machen zu können. Der Körper wird dann vielleicht nur mehr als Objekt wahrgenommen oder gar zum Feind, der Kontakt zum Körper kann als bedrohlich und beängstigend empfunden werden. Drogen, Süchte oder Selbstverletzungen mögen dann Versuche sein, unerträgliche, nicht verstehbare und unkontrollierbare körperliche Empfindungen und Gefühle nicht zu spüren, sondern zu betäuben. Sich in der Therapie dem Körper wieder zuzuwenden, der die traumatischen Erinnerungen trägt, kann zu Beginn beunruhigend oder noch nicht möglich sein. Das braucht Zeit, Geduld, viel Kreativität und auch den Einsatz anderer, nicht körperorientierter Methoden. Je abhängiger der Mensch von seinen traumatisierenden Bindungspersonen ist, je früher und häufiger die verletzenden Erfahrungen gemacht werden, umso schlimmer sind die Auswirkungen auf die Gehirnreifung, auf die Entwicklung eines Körperselbst, auf Emotionsentwicklung und auf die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit. Je nach Zeitpunkt, persönlicher Disposition, Bindungsressourcen, Intensität und Zeitdauer des traumatischen Geschehens kann das Erlebte verarbeitet werden oder zu schweren Persönlichkeitsveränderungen führen. Ein körperorientierter und phasenspezifischer Ansatz Ich orientiere mich an dem phasenspezifischen Ansatz, erstmals 1890 von P. Janet entwickelt und für viele traumatherapeutische Behandlungskonzepte grundlegend (Reddemann 2001). Meine Interventionen entsprechen den unterschiedlichen Zielen der drei verschiedenen Phasen der Traumatherapie: Stabilisierung, Konfrontation und Verarbeitung. Die Phasen sind nicht statisch voneinander getrennt, sondern verlaufen eher spiralförmig. Phase 1 In der ersten, der Stabilisierung gewidmeten Phase geht es darum, in einer Situation relativer Sicherheit Stabilisierung auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene zu erkunden. Der Entwicklung einer sicheren Bindung und tragfähigen therapeutischen Beziehung gilt mein besonderes Augenmerk. Im Gegensatz zu psychotherapeutischen Prozessen geht es mir in einer Traumatherapie weniger um die Bearbeitung des Übertragungsgeschehens, sondern um den Erhalt der therapeutischen Beziehung als Ressource, besonders wichtig in der Arbeit mit Menschen mit frühen komplexen Beziehungs- und Bindungstraumata. Die Polyvagal-Theorie macht deutlich, wie sehr der traumatisierte Mensch ein Gegenüber braucht, um aus einem erregten und furchtbestimmten Zustand herauszufinden. Ein freundlicher Gesichtsausdruck, der beruhigende Klang einer Stimme, ein Mensch, der eine sichere Bindung anbietet und die schlimme Geschichte mit aushält, ein Mensch, der sagt, „es ist vorbei“, ohne diese Grundlage wird keine Traumatherapie Erfolg haben. Alle Fähigkeiten, Stärken, Beziehungen, Lebensumstände, die trotz oder auch wegen 130 3 | 2013 Anna Willach-Holzapfel schlimmer Erlebnisse das Leben bereichern und erleichtern, werden als Ressourcen wertgeschätzt und anerkannt. Wenn dissoziative Prozesse das erlauben, wenn die Annäherung an den Körper schon möglich ist, rege ich an, die Ressourcenaktivierung körperlich zu erfahren und zu verankern. Das wiederholte und übende Erspüren und Erleben von Körperressourcen wie Kraft, Erdung, Grenzen und Zentrierung ist die Grundlage für die Entwicklung von mehr Stabilität und Sicherheit. In der therapeutischen Beziehung lassen sich erste Erfahrungen damit machen, z. B. durch Abgrenzung Position zu beziehen oder sich an Konflikte zu wagen. Durch die Hinwendung zu der Ebene der Körperempfindungen kann sich eine Achtsamkeit entwickeln für Zustände der Über- oder Untererregung. Über den körperlichen Zugang können wir bereits in dieser Phase mit der Regulation dieser Erregungsmuster arbeiten. Unterstützt durch körperliche Ressourcen - alles, was sich schon im und mit dem Körper gut anfühlt - werden erste Möglichkeiten der Selbstberuhigung und Selbstregulation entdeckt. Ich führe in dieser Phase auch die sehr hilfreichen Methoden zur Distanzierung von bedrohlichen inneren Prozessen ein, die weniger Körperabwehr auslösen, wie z. B. der „Sichere Ort“, der „Tresor“, die „Bildschirmtechnik“ und imaginativ „Verletztes in Sicherheit bringen“. Das Entwickeln und Finden von „Inneren Helfern“, ressourcenvollen inneren Anteilen und dem „Inneren Beobachter“ ist ein enorm unterstützender und stabilisierender Prozess, hierauf kann immer wieder zurückgegriffen werden (Huber 2011; Peichl 2007; Reddemann 2001). Kreative Medien (es gibt Puppen und Stofftiere, Tücher, Decken, Malzeug und Musikinstrumente in meinem Praxisraum), Rollenspiele und Bewegungserfahrungen sind ebenfalls unterstützend bei der entlastenden Externalisierung der inneren Konflikte. Beispiel: Einem durch frühe und verletzende Beziehungserfahrungen komplextraumatisierten Mann mit einer sehr feindseligen Abwehr gegenüber dem eigenen Körper mache ich nach einem mehrere Monate dauernden Prozess der Stabilisierung den Vorschlag, einen guten Ort im Körper als Körperressource aufzusuchen. Er reagiert auf den Vorschlag, sich dem Körper zuzuwenden, mit Intensivierung von Hörsturzphänomenen, Bauchschmerzen und phobischen Ideen von schweren Erkrankungen. Während er sich aber, durch mich angeregt, deutlich macht, was er in seinem Leben beruflich und in seiner Familie erreicht hat, kann er zulassen, die Wirkung dieser Ressourcen im Körper zu fühlen. Er kann spüren, dass seine Füße warm werden, ein angenehmes Prickeln im Rücken und Hitze in den Händen. Wir übersetzen gemeinsam: Er fühlt Erdung in den Füßen, Kraft im Rücken und in den Händen die Fähigkeit zuzupacken. Im weiteren Prozess kann er immer mehr auf diese körperlichen Ressourcen zurückgreifen, er lernt sich hiermit selbst zu beruhigen und zu stabilisieren. Phase 2 In der Phase der Traumakonfrontation entwickelt der Patient in der sicheren therapeutischen Beziehung auf der Grundlage größerer Stabilität, den wieder entdeckten oder neu gefundenen Ressourcen und einer positiveren Körperwahrnehmung die Fähigkeit zur Konfrontation mit den traumatischen Erinnerungen oder den Symptomen, die darauf hinweisen. Ich gehe davon aus, dass jede psychische Dissoziation bis hin zu schweren dissoziativen Störungen eine physiologische Grundlage hat und sich im Verlust eines kohärenten Körpergefühls wiederspiegelt. Die besondere Herausforderung der von Empfindungen, Bewegungen und Emotionen ausgehenden Traumaverarbeitung (bottom up) im Unterschied zu eher kognitiv arbeitenden, Einsicht und Verstehen fördernden Traumathera- Der Körper als Ressource in der Traumabehandlung 3 | 2013 131 pieansätzen (top down) besteht meines Erachtens darin, die Empfindungsebene, den felt sense, zu nutzen, um den traumatischen Stress dahingehend zu regulieren, die subcortikal und im Körper noch vorhandene große Energie sehr verlangsamt wieder zu spüren, zu beruhigen und zu entladen. Hierbei ist das Pendeln ein ganz wesentliches Handwerkszeug. Das Pendeln wird im körperorientierten Ansatz des Somatic Experiencing als natürlicher, angeborener Rhythmus betrachtet, der uns hin und her führt zwischen verschiedenen Wahrnehmungsqualtäten, so auch zwischen unangenehmen, bedrohlichen und angenehmen, ressourcenvollen Empfindungen. Die Erfahrung, dass auch in der Erinnerung an den größten Schrecken, in dem alles zu erstarren scheint, Bewegung, Entwicklung und Veränderung pendelnd erlebt werden kann, führt zu der Erkenntnis, dass das körperliche Erleben nicht statisch bleiben muss. Das Nervensystem lernt, sich wieder flexibler zwischen Übererregung und Untererregung zu bewegen und sich immer wieder im mittleren Erregungsbereich einzupendeln. Bei diesem Vorgehen kann die pendelnde Aufmerksamkeit einerseits im Hier und Jetzt bleiben, z. B. vermittelt durch das Spüren einer Körperressource, und sich andererseits auf die implizit gespeicherten Erinnerungen, z. B. als Körpersymptom wahrgenommen, richten. Die Erregung durch den erlebten Schrecken und die nicht vollendeten und erstarrten Bewegungsimpulse - Kämpfen oder Fliehen - können dabei aus dem Körpergedächtnis auftauchen. Das wird bewusst gespürt und achtsam entladen im vegetativen Geschehen wie Zittern, Gähnen, Frieren, aber auch im Gefühl oder in einer neuen Einsicht oder wird in einer handelnden Bewegung vollendet. Dissoziierte, überwältigende Affekte werden bei diesem Vorgehen eher empfunden als gefühlt und verlieren so an Schrecken. Das braucht Zeit, passiert kleinschrittig und ressourcenorientiert, damit die Erinnerung an das traumatische Geschehen und die damit verbundenen intensiven Gefühle und die starke Erregung verarbeitbar sind und das Nervensystem sich wieder innerhalb einer Zone mittlerer Erregung, dem „Toleranzfenster“ (Siegel 2010, 212 ff ) einpendeln kann. Wenn der Organismus sich auf diese Weise beruhigt, können Hippocampus und Neocortex die traumatische Erfahrung verarbeiten und die fragmentierten, impliziten Erinnerungsstücke zusammensetzen. Die körperliche, zeitliche, sprachliche und sinnhafte Verknüpfung ist dann wieder möglich. Wenn der betroffene Mensch sagen und spüren kann „es ist vorbei“, ist ihm wieder klar, dass das Ereignis in der Vergangenheit liegt - ein ganz wesentlicher Schritt in jeder Traumtherapie. Diese Unterschiedsbildung zwischen den traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit und den Erlebnissen der Gegenwart wird durch achtsames Erspüren des gegenwärtigen Körpers unterstützt. In der Phase der Traumakonfrontation mit Menschen mit frühen und komplexen Beziehungs- und Bindungsverletzungen ist auch die Arbeit mit den traumabedingten dissoziativen Prozessen und den dadurch entstandenen inneren Anteilen, v. a. Täterintrojekten und verletzten kindlichen Anteilen, wesentlich (Peichl 2007). Ein Kind, welches fortlaufend Gewalt und Missbrauch erlebt, entwickelt für sein Überleben und den Erhalt der lebensnotwendigen Bindung die Fähigkeit zu dissoziieren. Das „gute Kind“ spaltet sich ab von dem Kind, was den Schrecken, die Verzweiflung und die Aggression in sich trägt. Täterintrojekte entstehen durch die Erfahrungen, die das Kind mit dem Täter gemacht hat. Vermutlich durch die unbewuste Aktivierung der Spiegelneuronen kommt es zur Verinnerlichung der Sicht des Täters auf das Opfer, die sich später z. B. als entwicklungshemmende, destruktive innere Stimme zeigen kann. Je traumatischer diese Erfahrungen waren, umso komplexere dissoziative Prozesse sind nötig, 132 3 | 2013 Anna Willach-Holzapfel um das Überleben in einer bedrohlichen Umgebung zu sichern (Huber 2011). Diese inneren Anteile werden, wenn möglich, auch in ihrer Verkörperung eingeladen, bewusst gespürt und ausgedrückt zu werden, um sie dann in ihrer Bedeutung für das innere Selbstsystem zu verstehen. Wenn das gelingt, können auch sehr destruktive innere Anteile gesehen werden in ihrer eigentlichen Absicht, nämlich das Überleben zu sichern. Die Beschäftigung mit Täterintrojekten und den inneren Kindanteilen kann ein herausfordernder und komplexer Prozess sein und braucht eine gute therapeutische Beziehung als haltgebende Basis. Die Stabilisierung der kompetenten erwachsenen Anteile des betroffenen Menschen wird körperlich unterstützt und ist in diesem komplexen Geschehen eine wichtige assoziativ wirkende Ressource. Beispiel: Eine Klientin hat seit der letzten Stunde einen Rückfall erlebt und verletzt sich wieder durch Kratzen und Kneifen, verbunden mit sehr negativen Gedanken über sich selbst, ein Auslöser ist ihr nicht bewusst. Wir arbeiten bereits seit zwei Jahren zusammen, und sie hat genug Stabilität entwickelt, um sich den traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit zuzuwenden. Indem sie sich in dieser Sitzung ihrer wichtigsten Körperressource, dem Bauch, zuwendet und hier die Empfindung von Wärme und angenehmer Fülle spürt, kann sie sich pendelnd auch den zerkratzten Händen und Armen zu wenden. Plötzlich wird ihr der Auslöser in der letzten Woche bewusst. Größere Kinder hatten auf dem Spielplatz ihren kleinen Sohn bedroht und eingeschüchtert, sie konnte ihn zwar schützen, aber fühlte sich seitdem sehr unruhig. In der Erinnerung an die Szene fallen mir verstärkte Bewegungen von ihren Händen und Füßen auf, die ich anspreche. Mit meiner Frage, was die Bewegung wohl vorhabe, nimmt sie eine zunehmende Aggressivität in sich wahr. Sie erinnert sich an den Vater, der oft alkoholisiert nach Hause kam und die Kinder aus dem Schlaf holte und schlug. Die Bewegungen werden von ihr als Impuls zu schlagen und zu treten wahrgenommen. Verbunden mit wütenden, abgrenzenden Sätzen zu ihrem imaginierten Vater kann sie die Bewegungen sich ausdrücken lassen. Sie fühlt sich danach sehr erleichtert und gekräftigt. Phase 3 Hier geht es um Betrauern, Neugestaltung, Sinnsuche. „Wie will ich leben und arbeiten, wie will ich fürsorglicher mit meinem Körper umgehen, was ist mir wichtig, was habe ich aus den belastenden und traumatischen Erfahrungen für mein Leben gelernt? “ Das sind Fragen, auf die jetzt Antworten gesucht werden. Sich an traumatische Erfahrungen zu erinnern, anzuerkennen, was passiert ist, kann sehr schmerzhaft sein. In dieser Phase ist auch wieder „normale“ körper- und konfliktzentrierte psychotherapeutische Arbeit sinnvoll, um negative Überzeugungen zu verändern, Scham- und Schuldgefühle zu verarbeiten, die traumatisch bedingten Verluste zu betrauern und mit Sinnfragen, Wut und Verzweiflung umzugehen und schließlich die eigene Geschichte anzunehmen. Die therapeutische Beziehung kann dabei ein Übungsfeld sein für das Erfahren eines positiveren Körpergefühls, für Experimente mit Ausdruck, Nähe, Distanz, Konflikten und für das Erproben neuer Handlungen und Möglichkeiten. Der betroffene Mensch kann lernen, sich wieder verstärkt der Gestaltung eines lebenswerten Alltags und der Verbesserung seiner Beziehungen zuzuwenden. Beispiel: Eine Frau, die nach mehrjährigem körper- und traumatherapeutischen Prozess den Zusammenhang zwischen ihrer Essstörung und dem dissoziierten schweren Missbrauch durch einen Großvater erkannt hat, geht durch eine Phase starker Wut und tiefer Trauer, die sie auch körperlich ausdrückt. Der Körper als Ressource in der Traumabehandlung 3 | 2013 133 Zu erinnern und anzuerkennen, dass „es“ ihr wirklich passiert ist, ist schmerzhaft und befreiend zugleich. Sie findet allmählich einen Weg aus der Essstörung. Für einen neuen Umgang mit ihrem weiblichen Körper und ihrer Sexualität sucht sie Unterstützung in einer körperorientierten Frauengruppe. Exkurs: Die Bedeutung der Aggression als positive Kraft Im Sinne des Ansatzes von Peter Levine (Somatic Experiencing, Levine 2010) gilt es im therapeutischen Prozess, unterbrochene Abwehrbewegungen im Sinne von unvollendeten Kampf- und Fluchtimpulsen zu entdecken, zu vollenden und neue und effektive Abwehrbewegungen zu finden. Es geht darum, vorsichtig einen bewussten Zugang zu dem Repertoire von Bewegungen zu finden, mit denen man sich schützen, kämpfen oder fliehen kann. Die mörderische, dissoziierte Wut, die oft in traumatherapeutischen Prozessen auftaucht, kann so verwandelt werden in eine verkörperte, konstruktive, geerdete und lebenserhaltende Kraft. Das körperliche Erleben von lustvoller Kraft, Aggression, Standvermögen, Beweglichkeit, Kompetenz, Abgrenzungsfähigkeit, vertiefter Atmung und Energie, aber auch von Lachen, Freude, Spiel und angstfreiem Kontakt hilft dem betroffenen Menschen, einen Weg aus dem Traumazustand zu finden. Das Nervensystem kann aus der traumabedingten Starre, der ständigen Kampf- und Fluchtbereitschaft, der Über- oder Untererregung herausfinden und wieder mehr Flexibilität entwickeln. Hierfür ist das Spezifische des körperbezogenen Ansatzes besonders wertvoll. Für neue Möglichkeiten positiv und körperlich erlebter Auswege aus dem Opferstatus ist die Einbeziehung des Körpers in die Bewegungserfahrung, in den Ausdruck und in spielerisches Üben von Raufen, Tollen, Rangeln, Mobilisieren u. a. heilsam. Aggression kann als positive Kraft entdeckt werden, mit der man sich behaupten, wehren und abgrenzen kann. Ich beschließe meinen Artikel mit einem anregenden und integrativen Zitat von van der Kolk: „Deshalb müssen wir Traumatisierten körperliche und sensorische Erlebnisse ermöglichen, die ihren Körper aufschließen und ‚entblockieren‘, die Funktionsfähigkeit ihrer Kampf- / Fluchtreaktionen wiederherstellen, ihren Empfindungen Raum geben, ihr inneres Erleben unterstützen und die Entwicklung neuer Handlungsmuster fördern.“ (van der Kolk 2011, 24) Literatur Brisch, K. H. (2010): Bindung und frühe Störungen. Klett-Cotta, Stuttgart Emerson, D., Hopper, E. (2011): Trauma-Yoga. Heilung durch sorgsame Körperarbeit. G. P. Probst, Lichtenau Hantke, L., Görges, H.-J. (2012): Handbuch Traumakompetenz. Junfermann, Paderborn Heller, L., LaPierre, A. (2012): Healing Developmental Trauma. North Atlantic Books, Berkeley, California Huber, M. (Hrsg.) (2011): Viele Sein. Ein Handbuch. Junfermann, Paderborn Levine, P. A. (2010): Sprache ohne Worte. Kösel, München Ogden, P. u. a. (2010): Trauma und Körper. Junfermann, Paderborn Peichl, J. (2007): Innere Kinder, Täter, Helfer und Co. Klett-Cotta, Stuttgart Porges, S. W.(2010): Die Polyvagal-Theorie - Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Junfermann, Paderborn Reddemann, L. (2001): Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Pfeiffer, Stuttgart Rothschild, B. (2002): Der Körper erinnert sich. Die Psychophysiologie des Traumas und der Traumabehandlung. Synthesis, Essen Shapiro, F. (1999): EMDR. Grundlagen und Praxis. Junfermann, Paderborn Sack, M. (2010): Schonende Traumatherapie. Schattauer, Stuttgart 134 3 | 2013 Anna Willach-Holzapfel Die Autorin Anna Willach-Holzapfel geb.1957, ist Körperpsychotherapeutin und Traumatherapeutin und arbeitet seit 1983 in eigener Praxis, Einzelu. Gruppentherapie sowie Fortbildung. Ihr berufliches Hauptinteresse gilt der Integration des Körpers in die psycho- und traumatherapeutische Praxis. ✉ Anna Willach-Holzapfel Deidesheimer Str. 1 | D-14197 Berlin www.willach-holzapfel.de (0049)-(0)30-8529894 Siegel, D. J.(2010): Die Alchemie der Gefühle. Kailash, München van der Kolk, B. A. (2011): Vorwort. In: Emerson, D., Hopper, E.: Trauma-Yoga. Heilung durch sorgsame Körperarbeit. G. P. Probst, Lichtenau, 13-25 Willach-Holzapfel, A., Dressler-Bellmund, M. (2009): Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen. In: Thielen, Manfred (Hrsg.): Körper - Gefühl - Denken. Psychosozial, Gießen Willach-Holzapfel, A. (2013): Körper - Gruppe - Trauma. Versuch einer Integration. In: Thielen, M. (Hrsg.): Körper - Gruppe - Gesellschaft. Neue Entwicklungen in der Körperpsychotherapie. Psychosozial, Gießen
