eJournals körper tanz bewegung 1/2

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2013.art07d
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2013
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Sich ausweitend, aufsteigend, voranschreitend

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2013
Sherry W. Goodill
Judith Raeke
Sabine C. Koch
Die Tanz- und Bewegungstherapie hat sich in den letzten drei Jahrzehnten zu einem globalen Phänomen mit bedeutsamen Entwicklungen in der Forschung, Theorie, Ausbildung und in der medizinischen Praxis entwickelt. Dieser Beitrag behandelt die medizinische Tanz- und Bewegungstherapie als einen relativ neuen Bereich des Feldes. Dabei handelt es sich um die Arbeitsfelder der Tanztherapie, die sich nicht mit primär psychischen Störungsbildern beschäftigen, sondern mit medizinischen Diagnosen (z. B. Onkologie, Schmerzbereich, kardio-vaskulärer Bereich, Palliativbereich etc.). Es wird gezeigt, wie Tanz- und Bewegungstherapie als psychosoziale Unterstützung für Personen mit medizinischen Erkrankungen und deren Angehörigen eingesetzt werden kann. Zusätzlich wird eine Übersicht zu Herausforderungen und Entwicklungen in der Ausbildung der Tanz- und Bewegungstherapie gegeben.
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66 Fachbeitrag körper - tanz - bewegung 1. Jg., S. 66-73 (2013) DOI 10.2378 / ktb2013.art06d © Ernst Reinhardt Verlag Sich ausweitend, aufsteigend, voranschreitend Entwicklungen in medizinischer Tanztherapie und Ausbildung 1 Sherry W. Goodill, Judith Raeke, Sabine C. Koch Die Tanz- und Bewegungstherapie hat sich in den letzten drei Jahrzehnten zu einem globalen Phänomen mit bedeutsamen Entwicklungen in der Forschung, Theorie, Ausbildung und in der medizinischen Praxis entwickelt. Dieser Beitrag behandelt die medizinische Tanz- und Bewegungstherapie als einen relativ neuen Bereich des Feldes. Dabei handelt es sich um die Arbeitsfelder der Tanztherapie, die sich nicht mit primär psychischen Störungsbildern beschäftigen, sondern mit medizinischen Diagnosen (z. B. Onkologie, Schmerzbereich, kardio-vaskulärer Bereich, Palliativbereich etc.). Es wird gezeigt, wie Tanz- und Bewegungstherapie als psychosoziale Unterstützung für Personen mit medizinischen Erkrankungen und deren Angehörigen eingesetzt werden kann. Zusätzlich wird eine Übersicht zu Herausforderungen und Entwicklungen in der Ausbildung der Tanz- und Bewegungstherapie gegeben. Schlüsselbegriffe Tanz- und Bewegungstherapie, Medizinische Indikationen, Evidenzbasierte Medizin, Gesundheitspsychologie, Ausbildungsprogramme Dance Movement Therapy: Widening, Advancing and Rising. Trends in Medical Dance Therapy and Education Dance Movement Therapy (DMT) has evolved rapidly in the last three decades as a global phenomenon, with pronounced growth in research, theory, education and clinical practice. This report will focus on a relatively new field known as Medical Dance Movement Therapy, covering the field of DMT with patients with no primary mental health disorder such as oncological patients, stroke patients or pain patients. We will discuss how Dance Movement Therapy is applied as a psychosocial support service for individuals with a primary medical illness and for their families. A review of issues and developments in Dance Movement Therapy training will address the challenges of professional preparation in this inherently interdisciplinary field, as well as the dynamic intersection of research and training priorities in DMT academic environments. Key words Dance Movement Therapy, medical indications, evidencebased medicine, health psychology, training programs 1 Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag von Sherry W. Goodill zur Eröffnung des Masterprogramms für Tanz- und Bewegungstherapie an der SRH Hochschule Heidelberg. 2 | 2013 67 Medizinische Tanztherapie I n vielen Ländern wird die Gesundheitsvorsorge und -versorgung paradoxerweise gleichzeitig technologischer und ganzheitlicher. Welche Rolle kann dabei die Tanz- und Bewegungstherapie einnehmen? Die Verfassung der WHO definiert Gesundheit als „einen Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens, und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit“ (apps.who.int/ gb/ bd/ PDF/ bd47/ EN/ con stitutionen.pdf, 08.12.2012). Dies ist eine Definition, die Tanz- und Bewegungstherapeuten aufgreifen, annehmen und mit der sie sich öffentlich identifizieren sollten. Die biopsychosoziale Prämisse, in welche die WHO-Definition eingebettet ist, verdeutlicht die Weise, in der wir Tanz- und Bewegungstherapeuten schon lange unsere Arbeit definiert haben, und zwar als „psychotherapeutischen Nutzen von Tanz und Bewegung zur Förderung der emotionalen, kognitiven, physischen und sozialen Integration einer Person“ (www.adta.org/ Default. aspx? pageId=378213, 08.12.2012). Als Spezialisten für psychische Gesundheit haben wir eine wichtige Rolle. Es besteht eine substantielle Komorbidität zwischen physischer und psychischer Gesundheit, und die WHO erklärt: „Es gibt keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit“ (www.who.int/ me diacentre/ factsheets/ fs220/ en/ index.html, 08.12.2012). Personen mit psychischen Störungen haben ein erhöhtes Risiko für schwere physische Krankheiten aufgrund eines geschwächten Immunsystems, mangelnden Selbstfürsorge-Fähigkeiten, und wir würden hinzufügen, aufgrund möglicher Probleme in der Kommunikation mit medizinischem Fachpersonal über ihre wahrgenommenen körperlichen Erfahrungen. Die reduktionistische Teilung zwischen Körper und Geist wird langsam Geschichte, die neueren Forschungsentwicklungen zeigen, dass der Zusammenhang zwischen Körper und Geist bidirektional ist - eine Prämisse, die immer ein Kernstück der Tanz- und Bewegungstherapie war. Diese Verän- Abb. 1: Sharon W. Goodill, ADTA-Präsidentin, beim verkörperten Demonstrieren des Vortragsmottos (hier in der Sagittalen) Foto: Julia Morozova-van Steenis derung hat die integrative Gesundheitsbewegung hervorgebracht, die wiederum sehr interessiert ist an künstlerischen Therapien. Die Tür ist offen für die Tanz- und Bewegungstherapie in konventionellen Gesundheitseinrichtungen. Sich ausweitend, aufsteigend, voranschreitend! Tanz- und Bewegungstherapie für Patienten mit medizinischer Diagnose Goodill war in der glücklichen Lage, ausreichend Zeit und eine erfahrene Anleitung zu haben, um einige Ideen in einem Subgebiet zu entwickeln, das als Tanz- und Bewegungstherapie bei medizinischer Indikation bekannt ist, und welches konzeptualisiert wer- 68 2 | 2013 Goodill, Raeke, Koch den kann als Tanz- und Bewegungstherapie für Personen mit primär medizinischen Erkrankungen 2 . In der Arbeit mit diesen Personengruppen nehmen wir nicht an, dass wir heilen oder Krankheitsprozesse direkt beeinflussen, sondern wir behandeln den psychosozialen Aspekt, helfen den Patienten, Ressourcen in sich selbst zu finden (in der Kreativität, im Verhalten, in Beziehungen), bearbeiten Schmerz- und Stressmanagement, Fähigkeiten zur Regulation des autonomen Nervensystems und verhelfen Personen zu positiven Erfahrungen mit ihrem Körper in einer Zeit, in der sich dieser teilweise fremdartig anfühlt. Die tanz- und bewegungstherapeutische Triade aus kreativem Ausdruck, Bewusstsein für die Bewegung und Aktivität sowie einer unterstützenden therapeutischen Beziehung kann Bedingungen zur Heilung schaffen, indem die Ressourcen des Körpers in Richtung Gesundheit gelenkt werden. Das ist die Domäne der Psychoimmunologie und in Bezug auf die Mechanismen der Tanz- und Bewegungstherapie nur eine Hypothese. Einer unserer internen Mitarbeiter führte eine Tanz- und Bewegungstherapie mit einer Frau durch, die durch Schmerzen geschwächt war. Die Patientin sagte: „Ich dachte immer, mein ganzer Körper würde schmerzen. Jetzt, nach der Tanztherapie, weiß ich, dass nur ein kleiner Teil meines Körpers schmerzt.“ Die Tanz- und Bewegungstherapie hat eine beträchtliche Anzahl von Arbeiten in der klinischen Praxis und der Forschung mit Krebspatienten durchgeführt, insbesondere bei Frauen mit Brustkrebs. Diese Arbeiten sind international angelegt, mit Studien z. B. in Hong Kong (Ho et al. 2009), den USA (Dibbell-Hope 2000; Sandel et al. 2005) und Deutschland (Mannheim / Weis 2004). Wir brauchen noch mehr und qualitativ hochwertigere Studien, aber haben schon jetzt eine Idee, wie Tanz- und Bewegungstherapie Personen bei der Überwindung 2 Z. B. Onkologie, Schmerzbereich, kardio-vaskulärer Bereich, Palliativbereich etc. von Krebs von Nutzen sein kann, besonders in der Zeit nach der medizinischen Behandlung, wenn sie sich an einen veränderten Körper, veränderte Prioritäten, Lebensziele und Beziehungen gewöhnen müssen. Betrachten wir zwei ernste und aktuell große gesundheitliche Probleme: Übergewicht und chronischen Schmerz. In den USA leben 100 Millionen Menschen mit chronischen Schmerzen, und das Problem von Übergewicht ist auf einem seuchenartigen Niveau. Auch in anderen Ländern kennt man die Häufigkeit und Auswirkungen dieser Gesundheitsprobleme. Beide Probleme beinhalten zentral die Themen Körperbild und Körperselbst. Der typische medizinische Ansatz für diese Krankheiten umfasst häufig jedoch nur die Medikamentierung oder Operationen. Neue Ansätze im medizinischgesundheitswissenschaftlichen Feld Tanz- und Bewegungstherapie ist eine nichtpharmazeutische Option, die weder die schädlichen Nebenwirkungen noch die hohen Kosten der Medikamenteneinnahme aufweist (z. B. Meropol/ Schulman 2007). Therapeuten sollten dies stärker äußern und neue theoretische Arbeiten zu Embodiment im medizinischen Kontext nutzen. Darüber hinaus konzeptualisiert die Körper-Selbst-Neuromatrix-Theorie, vorangetrieben durch den Schmerzforscher Robert Melzack, Schmerz in einer Weise, die mit der Tanz- und Bewegungstherapie kompatibel ist. Er beschreibt ein „anatomisches Substrat des Körper-Selbst […], ein großes, weit ausgebreitetes Netzwerk von Neuronen, welches aus Schleifen sowohl zwischen dem Thalamus und Cortex als auch zwischen dem Cortex und dem limbischen System besteht.“ (Melzack 2005, 86) Das Netzwerk spricht an auf sensorische, emotionale und kognitive Reize (einschließlich Gedächtnis und Bedeutung) und wirkt sich auf Stressregulation, 2 | 2013 69 Medizinische Tanztherapie Schmerzwahrnehmung und Verhaltensmuster aus (Melzack 2005). Das individuell charakteristische Muster der Verarbeitung und die Zusammenstellung aller Inputs und Outputs nennt Melzack „neurologische Unterschrift“. Er entwickelte diese Theorie zum Verständnis von Schmerz und zur Information für Personen in der interdisziplinären Schmerzbehandlung, doch diese Ideen können auch bei der Behandlung anderer Gruppen durch Tanz- und Bewegungstherapie nützlich sein, beispielsweise bei Übergewicht und Essstörungen, um nur zwei zu nennen. Tanz- und Bewegungstherapie bei medizinischer Indikation war nur eine der Erweiterungen dieser Arbeit im letzten Jahrzehnt. Mehr hierzu finden Sie in der Literatur zur Körper-Selbst-Neuromatrix-Theorie (Melzack 2005). Sich ausweitend, aufsteigend, voranschreitend in der Forschung Laban meinte, dass jede Bewegung gleichzeitig ein Zweck und ein Ausdruck von etwas ist (Laban 1960). Die allgegenwärtige Natur des menschlichen Ausdrucks bedeutet, dass potentiell im gesamten menschlichen Leben Platz für Tanz- und Bewegungstherapie ist. Es reicht allerdings nicht, das Offensichtliche - dass wir uns immer bewegen - als Begründung für die Anwendung von Tanz- und Bewegungstherapie als Dienstleistung für Individuen und Gruppen über die Lebensspanne hinweg heranzuziehen. Vielmehr sind wir dafür verantwortlich herauszufinden, wie die Tanz- und Bewegungstherapie wirkt, zu zeigen, dass sie wirkt und für wen sie am hilfreichsten ist. Es ist unsere Aufgabe, Annahmen über die heilende Wirkung der Tanz- und Bewegungstherapie aufzustellen, zu hinterfragen, auszuprobieren, zu vergleichen, zu testen und herauszufordern. Wir wissen, dass unser Medium der Tanz- und Bewegungstherapie sehr komplex ist und beeinflusst durch die Kultur; dass der Tanz als die schnelllebigste aller Künste fließend und lebendig ist und für Forschungszwecke schwer zu erfassen. Aber wir wissen auch, wie der Kommunikationswissenschaftler Birdwhistell (1970) schrieb, dass Bewegung strukturiert ist und somit Gegenstand der Forschung sein kann. Wir sehnen uns nach einem tieferen und klareren Verständnis dieser Therapie, und wir fühlen eine Dringlichkeit, der Verpflichtung nachzukommen, ihre Nützlichkeit und Vorteile denjenigen zu demonstrieren, die unsere Dienste in Anspruch nehmen. Zum Glück haben Forschende im Bereich der Tanz- und Bewegungstherapie diese Herausforderung angenommen. In Kooperation mit praktizierenden Therapeuten, Kollegen benachbarter Felder und durch den Austausch miteinander lernen wir täglich etwas dazu. Deutschland spielt im Moment eine führende Rolle in diesem Forschungsfeld (siehe Arbeiten von Bräuninger 2012; Hilf 2009; Koch et al. 2007; Röhricht/ Priebe 2006). Im Rahmen der evidenzbasierten Forschung wurden in den letzten Jahren einige Reviews und Metaanalysen zur Tanz- und Bewegungstherapie veröffentlicht (Xia / Grant 2010; Bradt et al. 2011), und einige weitere sind derzeit in Arbeit (Koch et al. 2013; Meekums et al. 2012). Die letzteren wurden von Tanz- und Bewegungstherapeutinnen in Großbritannien und Deutschland durchgeführt. Andere wurden von Personen aus anderen Gesundheitsberufen durchgeführt (z. B. Strassel et al. 2011). Dies ist schon ein Hinweis auf die Entwicklung des Feldes: Erstens besteht ein Interesse, die Effektivität der Tanz- und Bewegungstherapie festzustellen, und zweitens gibt es genügend Studien, die unter Nutzung systematischer Auswertungsmethoden zusammengefasst- und kombiniert werden können. Es ist zu wünschen, dass mehr wissenschaftliche Studien mit größeren Stichproben durchgeführt werden. Aber es zeigen sich schon jetzt die Vorteile der Tanz- und Bewegungstherapie: in den Bereichen Vitalität, Stimmung, 70 2 | 2013 Goodill, Raeke, Koch Angst, Depression, Beziehungsfähigkeit und Variablen, die das Körperselbst reflektieren, wie Körperbild und Selbstbewusstsein (Goodill 2005, 2006). Es ist empfehlenswert, dass Forschungsgruppen, welche die Wirkung der Tanz- und Bewegungstherapie systematisch untersuchen, Tanz- und BewegungstherapeutInnen einbeziehen: Ohne direktes Wissen über die Praxis ist es schwer, die Variable „Intervention“ richtig zu bewerten. So kann ein Tanz- und Bewegungstherapeut die Unterschiede zwischen therapeutischem Tanzen, somatischer Therapie und Tanz- und Bewegungstherapie anhand der Beschreibung von Interventionen einschätzen und feststellen, ob eine quasi-standardisierte Intervention die improvisierten und interaktionellen Anteile der Tanz- und Bewegungstherapie erfassen kann. Die Tanz- und Bewegungstherapie ist von Natur aus interdisziplinär. Der Tanz ist eine soziale Kunstform, und die Ausbildung bereitet auf eine respektvolle, wechselseitige Zusammenarbeit vor. Unsere kollegialen „Duette“ treten in der klinischen Praxis, im Bildungsbereich, als Vertreter für jene, denen wir helfen, und im theoretischen Diskurs auf. Meiner Meinung nach sollten wir uns stärker an der Diskussion zu Themen wie Resilienz und Selbstwirksamkeit beteiligen sowie die Zusammenarbeit mit den Bereichen der sozialen Gerechtigkeit, Traumabehandlung und Demenz suchen. Herausforderungen an die Trainingsprogramme Die Eröffnung des neuen Master-Studiengangs an der SRH Hochschule Heidelberg ist ganz sicher ein Wachstumsschub für die Tanz- und Bewegungstherapie in Deutschland. Sie bietet einen guten Anlass, einen Blick auf die Entwicklungen und Herausforderungen der Tanz- und Bewegungstherapieausbildung generell zu werfen. Tanz- und Bewegungstherapeuten bieten ihre Dienste in mindestens 40 Ländern weltweit an. Es gibt Ausbildungsprogramme zur Tanz- und Bewegungstherapie auf allen Kontinenten, mit Ausnahme von Afrika. Falls wir falsch liegen und es ein Programm in Afrika gibt, lassen Sie es uns bitte wissen, denn das wäre eine großartige Sache [Anm. d. Red.: Ein Programm in Uganda wurde 2004 eingestellt. In Südafrika ist bisher keine Ausbildung für Tanztherapie bekannt, jedoch wird dies vor Ort praktiziert. Mehr zu künstlerischen Therapien in Südafrika finden Sie unter http: / / www.sanato.co.za/ ]. Aus Ländern, in denen es keine Ausbildung gibt, reisen Personen für ihre Ausbildung an und passen die Arbeit dann den kulturellen Normen, den Tanzstilen, der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem ihres Landes an. Es gibt mehr als 200 Tanz- und Bewegungstherapeuten mit einem Doktortitel, welche ihre Ausbildung nutzen, um das Feld durch fortschrittliche klinische Anwendung, Administration, Führung und / oder Forschung zu stärken. International existieren derzeit drei Promotionsprogramme speziell für künstlerische Therapien und / oder Tanz- und Bewegungstherapie, welche die nächste Generation von Führungspositionen, Lehrern und Forschern hervorbringen. Sich ausweitend, aufsteigend, voranschreitend! Sich-Ausweiten wird ausgeglichen durch Sich-Verengen, Aufsteigen durch Absteigen, Voranschreiten durch Sich-Zurückziehen. Wir müssen manchmal innehalten, um genau auf die Herausforderungen zu schauen, die vor uns liegen. Diese Herausforderungen sind typisch für ein kleines Feld: Haben wir genug Personal, um alles zu erzielen, was wir uns vorgenommen haben? Unsere professionellen Organisationen in der Tanz- und Bewegungstherapie arbeiten meistens auf freiwilliger Basis, und in den meisten Organisationen bringen sich ungefähr 10 % der Mitglieder aktiv ein. Bei der American Dance Therapy Association (ADTA) liegt dieser Anteil etwas höher, 2 | 2013 71 Medizinische Tanztherapie nahe 15 %, und ich nehme an, dass es in anderen Organisationen der Tanz- und Bewegungstherapie weltweit ähnlich ist: Wir haben Ressourcen, sind leidenschaftlich und mobil. Dennoch - das Feld im öffentlichen Bereich zu positionieren, die Aufmerksamkeit der Regierung zu erreichen, die Öffentlichkeit zu informieren, um die Vergütung der Dienstleistungen für die Tanz- und Bewegungstherapie zu verhandeln, all das erfordert die Investition erheblicher Zeit, Energie und Geldes. Die Ausbilder müssen Trends im Gesundheitswesen verfolgen und die Studienpläne so modifizieren, dass die Absolventen der Ausbildungsprogramme der Tanz- und Bewegungstherapie qualifiziert sind für ihre zukünftige Beschäftigung und hohe Aussicht auf beruflichen Erfolg haben. Programme in Universitäten und in freien Instituten müssen eine qualifizierte Ausbildung ermöglichen, die nicht so teuer ist, dass sie den späteren Verdienst ihrer Absolventen übersteigt. Und die meisten Programme müssen mit mehr als einer Art der Systemanerkennung konform sein (professioneller Anerkennung / Akkreditierung, Universitätsregeln und staatlichen Regelungen). Ein Hauptteil der Tanz- und Bewegungstherapiestellen im akademischen Bereich beinhaltet einen großen Anteil an Lehre und administrativen Verpflichtungen und lässt wenig Zeit für Forschung. Man sieht außerdem häufig, dass Akademiker Führungs- oder Dienstleistungsrollen in den professionellen Organisationen ausfüllen, wahrscheinlich weil die akademischen Positionen im Allgemeinen flexibler sind als die Vollzeitstellen im klinischen Bereich, in dem die meisten Tanz- und Bewegungstherapeuten arbeiten. Beobachter des Gebietes stellten fest, dass Master- oder Promotionsarbeiten als Hauptanteil der veröffentlichten Studien im Bereich Tanz- und Bewegungstherapie die einzige Möglichkeit zur Durchführung wissenschaftlicher Studien darstellen. Dies ist problematisch und schränkt das Wachstum des Gebietes ein. David Read Johnson (2010), ein hervorragender Therapie- Forscher in den Künstlerischen Therapien, hat vorgeschlagen, unsere Forscher in Ruhe zu lassen und sie forschen zu lassen. Wir stimmen ihm zu. Dies bedeutet, dass wir für mehr Stellen in der Fakultät eintreten, die diese Forschungsfreiheit haben, sodass unsere besten Forscher ihren Fokus auf gut ausgearbeitete Forschungsprogramme legen können, die auf bisheriger Arbeit aufbauen und das Wissen über Tanz- und Bewegungstherapie weiter konkretisieren. Dies ist sowohl für die Theoriebildung als auch für die Outcome-Forschung wichtig. Diese Herausforderungen in der Ausbildung betreffen das amerikanische und das europäische Bildungssystem gleichermaßen. Das Gebiet könnte profitieren von einem internationalen Konsortium aus Ausbildern im Bereich Tanz- und Bewegungstherapie, die sich im Internet „treffen“ und einige der Herausforderungen gemeinsam angehen. Wir könnten auch die beste Anwendung der einzigartigen pädagogischen Ansätze der Tanz- und Bewegungstherapie besprechen: den Nutzen von erfahrungsbasiertem Lernen (engl. „Experientials“ / span. „Vivenciales“), intersubjektive Prozesse, Übungen zur Reflektion in der Ausbildung und die „Entwicklung der Person zum Therapeuten“ (ein Begriff, der durch den Ausbilder in der Ehe- und Paartherapie Harry Aponte geprägt wurde; s. Aponte / Winter 2000). Wir können profitieren von Diskussionen über theoretische Ansätze, die gelehrt werden. Eine Weisheit aus dem Talmud hält uns an, alle Theorien zu lieben, aber keine zu heiraten. Welche Theorien lieben wir heute? Neurowissenschaftliche? Holistische? Ästhetische? Multikulturelle? Bindungstheorien? Was sollen wir aus den aufregenden neuen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen lernen? Und wie wird sich die praktische Arbeit weiterentwickeln, wenn man diese Befunde in die Arbeit integriert? Interdisziplinäre Verbindungen sind wichtig, um eine größere und stärkere professio- 72 2 | 2013 Goodill, Raeke, Koch nelle Gemeinschaft zu bilden, und innerhalb dieser Verbindungen sind wir uns unserer Identität als Tanz- und Bewegungstherapeuten bewusst: Wir würdigen gemeinsame Ansichten, tanzen glücklich auf einem gemeinsamen Nenner und verpflichten uns vollkommen den gemeinsamen Aufgaben, während wir gleichzeitig die Grenzen des eigenen Arbeitsbereiches klären und das einzigartige Zentrum unserer Arbeit und Identität als Tanz- und Bewegungstherapeuten beibehalten. Selbstregulation ist ein dynamisches Wechselspiel zwischen Gleichgewicht und Ungleichgewicht, und wie Kestenberg es formuliert hat (sowohl in Bezug auf die Theorie als auch in Bezug auf die Bewegung), kann es kein Wachstum ohne Ungleichgewicht geben (1975). Für ein kleines Feld kann das erschreckend sein. Als kreative „Macher“ jedoch glauben wir, dass es Spaß machen kann, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Wir wissen, wie man improvisiert, und können unseren Weg atmen zu Lebendigkeit und Widerstandsfähigkeit. Dialog, Mobilität, Offenheit und gegenseitige Unterstützung werden uns in ein neues Gleichgewicht bringen, wenn sich die Tanz- und Bewegungstherapie in den kommenden Jahrzehnten in ihren Formen weiterentwickelt. Die neue Leiterin des Masterstudienganges für Tanz- und Bewegungstherapie in Heidelberg lebt ihren beruflichen Traum, das Ergebnis einer Vision, harter Arbeit und der Stärke der Gemeinschaft. Und die Studierenden des ersten Jahrgangs haben einen großartigen und inspirierten Lehrkörper und bekommen einen soliden Studienplan, der auf Belegen, Weisheit, Tradition und empirischen Untersuchungen aufbaut. Wenn sich die Tore des SRH-Studiengangs öffnen, können sie hindurch tanzen, gleichzeitig verankert und mobilisiert … Sich ausweitend, aufsteigend, und voranschreitend! Literatur American Dance Therapy Association (2013): About Dance / Movement Therapy. In: www.adta.org/ Default.aspx? pageId=378213, 08.12.2012 Aponte, H. J., Winter, J. E. (2000): The Person and Practice of the Therapist: Treatment and Training. In: Baldwin, M. (Ed.): The Use of Self in Therapy. 2nd ed. Haworth Press, New York, 127-165 Birdwhistell, R. L. (1970): Kinesics and Context: Essays on Body Motion Communication. Ballantine, Oxford Bradt, J., Goodill, S., Dileo, C. (2011): Dance / Movement Therapy for Improving Psychological and Physical Outcomes in Cancer Patients. Cochrane Database of Systematic Reviews (10) Bräuninger, I. (2012): The Efficacy of Dance Movement Therapy Group on Improvement of Quality of Life: A Randomized Controlled Trial. The Arts in Psychotherapy, 39(4), 296-303 Dibbell-Hope, S. (2000): The Use of Dance / Movement Therapy in Psychological Adaptation to Breast Cancer. The Arts in Psychotherapy, 27(1), 51-68 Goodill, S. W. (2005): Dance / Movement Therapy for Adults with Cystic Fibrosis: Pilot Data on Mood and Adherence. Alternative Therapies, 11(1), 76 f Goodill, S. W. (2006): Dance / Movement Therapy for People Living with Medical Illness. In: S. C. Koch, S. C., Bräuninger, I. (Eds.): Advances in Dance Movement Therapy: Theoretical Perspectives and Empirical Findings. Logos, Berlin, 52-60 Hilf, Z. (2009): Wirksamkeit von Tanztherapie bei Somatoformer Störung. Diplomarbeit, Technische Universität München Ho, R. T. H. et al. (2009): The Efficacy of the Body- Mind-Spirit Intervention and Social Support Groups on Chinese Breast Cancer Patients. In: Lee, M. Y., Chan, C. L. W., Ng, S. M., Leung, P. Y. (Eds.): Integrative Body-Mind-Spirit Social Work: An Empirically Based Approach to Assessment and Treatment. Oxford University Press, New York, 217-234 Kestenberg, J. S. (1975): Children and parents. Jason Aronson, New York Koch, S. C., Morlinghaus, K., Fuchs, T. (2007): The Joy Dance: Specific Effects of a Single Dance Intervention on Psychiatric Patients with Depression. The Arts in Psychotherapy, 34(4), 340-349 Koch, S. C. et al. (2013): Effects of Dance Movement Therapy and Dance on Health-Related Psychological Outcomes: A Meta-Analysis. Unpublished Manuscript Laban, R. (1960): The Mastery of Movement. 2nd ed. Mac Donald & Evans, London 2 | 2013 73 Medizinische Tanztherapie Mannheim, E. G., Weis, J. (2005): Tanztherapie mit Krebspatienten: Ergebnisse einer Pilotstudie. Musik-, Tanz- und Kunsttherapie, 16(3), 121-128 Meekums, B., Karkou, V., Nelson, E. A. (2012): Dance Movement Therapy for Depression (Protocol). Cochrane Database of Systematic Reviews (6) Melzack, R. (2005): Evolution of the Neuromatrix Theory of Pain. The Prithvi Raj Lecture: Presented at the Third World Congress of World Institute of Pain, Barcelona, 2004. Pain Practice 5(2), 85-94 Meropol, N. J., Schulman, K. A. (2007): Cost of Cancer Care: Issues and Implications. Journal of Clinical Oncology, 25 (2), 180-186 Johnson, D. R. (2010): Panel on Creative Arts Therapy Research. Paper presented at the 1st Expressive Therapies Summit, NYC Röhricht, F., Priebe, S. (2006): Effect of Body-Oriented Psychological Therapy on Negative Symptoms in Schizophrenia: A Randomized ControlledTtrial. Psychological Medicine, 36(5), 669-678 Sandel, S. L. et al. (2005): Dance and Movement Program Improves Quality-of-Life Measures in Breast Cancer Survivors. Cancer Nursing, 28(4), 301-309 Strassel, J. K. et al. (2011): A Systematic Review of the Evidence for the Effectiveness of Dance Therapy. Alternative Therapies, 17(3), 50-59 World Health Organization (2005): Verfassung der Weltgesundheitsorganisation. In: apps.who.int/ gb/ bd/ PDF/ bd47/ EN/ constitutionen.pdf, 08.12.2012 World Health Organization (2010): Mental Health: Strengthening our Response. In: www.who.int/ mediacentre/ factsheets/ fs220/ en/ index.html, 08.12.2012 Xia, J., Grant, T. (2009): Dance Therapy for Schizophrenia. Cochrane Database of Systematic Reviews (1) Die Autorinnen Dr. Sharon W. Goodill, Ph. D., BC-DMT, NCC, LPC Präsidentin der American Dance Therapy Association (ADTA), Tanz- und Bewegungstherapeutin und Ausbilderin seit 1980, Klinische Direktorin (Professorin) und Leiterin der Abteilung Künstlerische Therapien (Creative Arts Therapies) an der Drexel University. Sie ist im Editorial Board der Fachzeitschriften „Arts in Psychotherapy“ und „Journal of Creativity in Mental Health“ und im Forschungskommitee der Global Alliance for Arts and Health. ✉ Dr. Sharon W. Goodill, Ph. D., BC-DMT, NCC, LPC Email: sg35@drexel.edu Judith Raeke, B. A. B. A. der Psychologie, studiert Psychologie, M. A., an der Universität Heidelberg und Tanz- und Bewegungstherapie, M. A., an der SRH Hochschule Heidelberg. Erfahrung in der Arbeit mit Autisten und schizophrenen Patienten, Auslandserfahrung in Indien. ✉ Judith Raeke, B. A. Psych. Email: judith.raeke@hotmail.de Prof. Dr. Sabine C. Koch, PhD, BC-DMT Leiterin des Masterstudiengangs Tanz- und Bewegungstherapie an der SRH Hochschule Heidelberg, Forschungs- und Praxisprojekte in Zusammenarbeit mit der Universität Heidelberg und dem Universitätsklinikum. Editorial Board des „American Journal for Dance Therapy“ und im Forschungskommitee des BTD. ✉ Prof. Dr. Sabine C. Koch SRH Hochschule Heidelberg Fakultät für Therapiewissenschaften Maasstr. 26 | D-69123 Heidelberg Email: sabine.koch@fh-heidelberg.de