eJournals körper tanz bewegung 1/3

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2013.art10d
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Moving Gender - gendersensible Bewegungs- und Tanztherapie

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Auguste Reichel
Die ungleiche Geschlechterverteilung in tanz- und bewegungstherapeutischen Aus- und Weiterbildungen gibt Anlass, sich mit dem Genderthema zu beschäftigen. Eine gendersensible Bewegungs- und Tanztherapie fordert von den TherapeutInnen Genderwissen und Genderkompetenz. Es werden dazu einige grundlegende Gendertheorien skizziert. Gendersensible Interventionen und Reflexionen werden am Beispiel der Fortbewegung vom Liegen zum Gehen aufgezeigt. Der Beitrag ist ein Impuls für den Genderdiskurs in bewegungs- und tanztherapeutischen Aus- und Weiterbildungen.
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111 körper - tanz - bewegung 1. Jg., S. 111-119 (2013) DOI 10.2378 / ktb2013.art10d © Ernst Reinhardt Verlag Fachbeitrag Moving Gender - gendersensible Bewegungs- und Tanztherapie Ein Anstoß Auguste Reichel Die ungleiche Geschlechterverteilung in tanz- und bewegungstherapeutischen Aus- und Weiterbildungen gibt Anlass, sich mit dem Genderthema zu beschäftigen. Eine gendersensible Bewegungs- und Tanztherapie fordert von den TherapeutInnen Genderwissen und Genderkompetenz. Es werden dazu einige grundlegende Gendertheorien skizziert. Gendersensible Interventionen und Reflexionen werden am Beispiel der Fortbewegung vom Liegen zum Gehen aufgezeigt. Der Beitrag ist ein Impuls für den Genderdiskurs in bewegungs- und tanztherapeutischen Aus- und Weiterbildungen. Schlüsselbegriffe Bewegungs- und Tanztherapie, Genderkompetenz, gendersensible Interventionen und Reflexion, Fortbewegung Moving Gender - Gender-sensitive Movement and Dance Therapy The unequally participation of men and women in trainings for dance and movement therapy is the reason to deal with gender questions. Genderrelated movement and dance therapy demands from therapists gender knowledge and gender competence. Some basic gender theories are shortly described. Gender-related interventions and reflections are shown by the development of locomotion: from lying too walking. The article aims to promote the discussion about gender-related movement and dance therapy. Key words movement and dance therapy, gender competence, gender-sensitive interventions and reflections, locomotion T anz- und bewegungstherapeutische Aus- und Weiterbildungen werden vorrangig von Frauen besucht. In einem Forschungsprojekt zur Anwendung und Effektivität der Integrativen Bewegungstherapie (IBT) (Höfner 2008; Koschier 2009) wurde unter anderem auch die Geschlechterverteilung angesprochen: Die Teilnehmerstruktur war zu 87 % weiblich, 13 % männlich. 89 % der TeilnehmerInnen meinen jedoch, dass diese Bewegungstherapie für alle Geschlechter geeignet ist. Dem entgegen steht die Anwendung: 46 % der Befragten arbeiten bewegungs- und tanztherapeutisch vorrangig mit Mädchen und Frauen. 112 3 | 2013 Auguste Reichel Dieser „Gap“ zwischen Wunsch und Wirklichkeit sollte bewegungs- und tanztherapeutisch Tätige anregen, sich prinzipiell mit Genderfragen auseinanderzusetzen (Gienger / Peter-Bolaender 2001, Bender 2010). Methodischer Hintergrund meiner Überlegungen ist die Integrative Bewegungstherapie (IBT), eine Methode des psychotherapeutischen Verfahrens der Integrativen Therapie (Leitner 2010). Die IBT versteht Bewegung als Ausdruck des ganzen Menschen, seiner Erfahrungen und Lebensbezüge. Der Körper ist Leib und totales „Sinnes- und Ausdrucksorgan“ (Petzold 1988; Waibel/ Jakob-Krieger 2009). Tanztherapien orientieren sich ebenfalls an diesem Leibbegriff und an den Bewegungsqualitäten von Zeit, Raum, Kraft und Bewegungsfluss (Laban 1981; Bender 2007, 2010; Trautmann-Voigt/ Voigt 2009; Reichel 1999). Entlang dieser Bewegungsqualitäten können gendersensible Interventionen und Reflexionen gestaltet werden. Ein Ziel von Genderkompetenz wie auch von Bewegungs- und Tanztherapie ist unter anderem die Verbesserung von Kommunikations- und Handlungskompetenzen für alle Geschlechter. Genderkompetenz als Bedingung für Gendersensibilität Genderkompetenz erfordert Genderwissen (Braun / Stephan 2005): Wissen über Geschlechterverhältnisse und Entstehungsbedingungen von Geschlechterrollen. Die Anwendung von Genderkompetenz im Alltag soll allen Geschlechtern neue und vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen und so zur Geschlechtergerechtigkeit beitragen. Im Genderdiskurs werden folgende Positionen vertreten: „Gleichheit: ‚Frauen und Männer sind in ihren Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten gleich.‘ Differenz: ‚Frauen und Männer sind von Natur aus verschieden und haben daher unterschiedliche Kompetenzen und Bedürfnisse.‘ Konstruktivismus: ‚Weiblichkeit und Männlichkeit sind eher anerzogen und damit gesellschaftlich mitbestimmt.‘“ (Abdul- Hussein 2012, 171) Die Antworten können kein Entweder-Oder sein, widersprüchliche Emotionen und Meinungen werden in diesem Diskurs auftauchen. Höfner (2007, 294) spricht von gender vertigo, einem Gefühl der Verwirrung, das entsteht, wenn wir uns bemühen, „die Regeln der Geschlechterverhältnisse so lange zu ignorieren, bis uns richtig schwindlig wird.“ Das Ziel ist, stereotype Geschlechterordnungen zu destabilisieren, um „eine Gesellschaft zu schaffen, die auf gleichen Rechten beruht“ (S. 294). Ich lade Sie als Leser und Leserin ein, sich verunsichern zu lassen. Natur versus Kultur - der Sex- und Genderdiskurs Essentialistische Theorien erzeugen geschlechterstereotype Zuschreibungen auf der Basis von natürlichen Unterschieden. Diese prägen unsere Arbeits- und Kulturwelt, z. B. in der Zuschreibung bestimmter Berufe an Frauen oder Männer. Schigl merkt an, „dass die Gefahr der Statusminderung mit der Zuschreibung eines ‚Frauenberufs‘ auch finanzielle Einbußen mit sich bringt“ (2012, 71). Davon könnte auch bewegungs- und tanztherapeutische Arbeit betroffen sein. Eine Strömung des Feminismus brachte den weiblichen Körper mit seinen „natürlichen geschlechtsspezifischen“ Unterschieden in den Blickpunkt für Körperarbeit: Menstruation, Geburt, Stillen und Sexualität waren Themen in Frauengruppen der 1980er Jahre. Die Idee der natürlichen Mutterliebe wurde neuerlich zu einem Mythos (Reichel 2007), die positive Betonung der weiblichen Körperfunktionen brachte jedoch Frauen ein neues Selbstbewusstsein. Der Körper als Ort der natürlichen Wahrheit drückt sich auch in dem Satz „Der Körper lügt nicht“ aus. Auch wird die Suche nach dem 3 | 2013 113 Gendersensible Bewegungs- und Tanztherapie „wahren inneren Selbst“ in manchen humanistischen Psychotherapien vertreten. Die Gefahr dabei ist, dass gesellschaftlich erzeugte Konstruktionen als natürliche Gegebenheiten angenommen werden (Steins 2003). Konstruktivistische Theorien meinen, dass dem Körper Zugeschriebenes „inkarniert“ und verleiblicht wird (Macha / Fahrenwald 2003). „Doing Gender“ bedeutet, dass Geschlechtsrollen durch Zuschreibungen, Erwartungen, Kleidung und Verhalten sozialisiert werden, so dass sie scheinbar natürlich wirken. Frauen und Männerrollen entwickeln sich in leiblichen Interaktionen und sind daher kulturell tief verankert. Die „Konstruktion von Geschlecht“ im Leib wird auch im integrativen Leibbegriff (Leitner 2010) verdeutlicht: Der Mensch als Leibsubjekt ist mit seiner Lebenswelt verflochten und mit den Mitmenschen in Zwischenleiblichkeit verbunden (Petzold 2006b). Diese Wechselwirkung wird im Leibgedächtnis sichtbar und wird neurobiologisch bestätigt (Fuchs 2010). Dekonstruktivistische Theorien vertreten die Ansicht, dass nicht nur das soziale Geschlecht, sondern auch die körperliche Geschlechtsidentität konstruiert wird. Dekonstruktion soll das Denken aus traditionellen gesellschaftlichen Zwängen und Machtstrukturen befreien (Butler 1991) und dazu beitragen, eine grundsätzliche soziale Gleichheit von Geschlechterrollen zu ermöglichen. Gendersensible Therapie versucht nun, geschlechterstereotype Zuweisungen zu hinterfragen. „Stereotype Urteile sind eben nicht nur pauschal, sondern auch ausgrenzend; wird eine Eigenschaft dem einen Geschlecht zugewiesen, so wird sie dem anderen ebenso unterschiedslos abgesprochen.“(Bischof-Köhler 2004, 3) Genderkompetente Therapie soll ausgleichend auf allzu rigide Geschlechterstereotypen wirken, da flexiblere Rollengestaltungen allen Geschlechtern zugutekommt (Abdul Hussain 2012; Schigl 2012). Bewegungsverhalten - „moving gender“ „Doing gender“ zeigt sich im „moving gender“ - im Bewegungsverhalten und Körperausdruck: Von Mädchen wird noch immer harmonisches und weniger direktes aggressives Verhalten erwartet, Jungen wird mehr Autonomie, Dominanz, aggressives Verhalten, aber auch weniger Verletzlichkeit zugeschrieben. Jungen seien in der Bewegung raumgreifender und wilder (Schigl 2012). Die Entwicklung von Geschlechterrollen kann am Beispiel der menschlichen Fortbewegung und Raumerfahrungen reflektiert werden. Raumorientierung setzt sich aus einer Vielzahl von Strategien zusammen, die erlernt werden. Die meisten veröffentlichten Studien dazu verweisen auf die Differenz, Forschungen über Ähnlichkeiten zwischen den Geschlechtern werden kaum veröffentlicht (Schmitz 2006). Evolutionsbiologische Gründe werden häufig für die Entwicklung des geschlechtsspezifischen räumlichen Verhaltens angeführt. Die männliche, großraumorientierte Mentalisierung habe sich aus dem nach außen gerichteten, lokomotorischen Bewegungsstil durch Jagd und Eroberungen entwickelt (Petzold 2006a). Dem gegenüber stehe die „Innenraumorientierung“ der Frauen, die sich auf die Hütte und das Feuer konzentrierten. Frauen entfernten sich angeblich nicht weiter vom Haus als es für die Rückkehr am Abend notwendig war (Dux 1992). Der größere Aktionsradius der Männer habe Weitraumerfahrungen ermöglicht, die für Frauen nicht zugänglich waren. Für räumliche Strategien sind vor allem individuelle Erfahrungen in Kindheit und Jugend prägend. Der Umgang mit Angst und Sicherheitsgefühlen spielt dabei eine wesentliche Rolle. Für die Entwicklung von Selbstwert und Selbstwirksamkeit soll Explorationsfreude und Neugierverhalten gefördert werden (Osten 2000). Der Handlungsraum von Kindern 114 3 | 2013 Auguste Reichel und Jugendlichen ist kontextabhängig und wird von der Dynamik bestimmt, auf welche Umgebung Kinder und Jugendliche treffen und wie sie sich darin bewegen können (Bräuer 2006). Geschlechtsrollenkonforme Unterschiede zeigen sich in der Nutzung von öffentlichen Räumen: „Studien zum Geschlechterverhalten von Kindern im öffentlichen Raum zeigen, dass Mädchen Freiräume wie Parks, Wiesen oder Plätze viel weniger nutzen als Buben. Besonders die so genannten „Käfige“ (eingezäunte Spielflächen in Parks) werden von Bubengruppen dominiert, Mädchen sind dort kaum sichtbar.“ (Diketmüller 2007, o.S.). Gendersensible Bewegungs-und Tanztherapie fragt: Wie reagiert das soziale Umfeld auf das Explorationsverhalten des Kleinkindes? Wie sehr fördert oder hindert der reale Raum neugieriges und interessiertes Entdecken von Gegenständen, Menschen und Räumen? Wie werden Mädchen darin gefördert, und wie Jungen? Kinesphäre und räumliche Bewegung Bewegung geschieht in Beziehung zum Raum und im Raum. Gesellschaftlich adäquates Verhalten beruht auf dem richtigen Gebrauch des persönlichen und öffentlichen Raumes (Bender 2007). Die Räumlichkeit des Leibes (Kinesphäre) ist durch enge und weite Bewegungen erfahrbar, durch direkte und indirekte Bewegungsformen und in den verschiedenen Raumebenen: hoch, mittel, tief. Aus leiblichen Erfahrungen entwickelt sich das Bild des Körpers, des Leibes im und zum Raum und die Repräsentation der Körper-Raum-Beziehungen im Gehirn (Bender 2007; Trautmann-Voigt/ Voigt 2009). Raum drückt Freiheit und Macht aus und birgt Konfliktpotential. „Im Raum-Nehmen und Raum-Geben handelt es sich um das rivalisierende Verhältnis im menschlichen Entfaltungsdrang. In ihrem Raumbedarf stoßen die Menschen aufeinander, müssen sich den Raum teilen.“ (Bollnow 2000, 37) Bewegungs- und tanztherapeutische Interventionen können Mädchen und Frauen anregen, raumgreifende Bewegungen zu probieren, im öffentlichen Raum zu spielen, ihre persönlichen Grenzen zu schützen und auch auszuweiten. Jungen können lernen, sich mit den eigenen Grenzen und Revierverhalten zu beschäftigen, um auch die Grenzen anderer zu respektieren. Die angeführten Übungen sollen an die Ziel- und Altersgruppe angepasst werden. Übung „Mein Raum“: JedeR sucht sich einen Platz im Raum, bildet mit ausgestreckten Armen den „Eigenraum“ (Kinesphäre) und stellt sich am Boden eine imaginäre Grenze vor. Diese wird mit den Füßen und Schritten markiert: „Gehe und tanze entlang deiner Grenze und stelle dir vor, du kannst mit deinen Füßen Spuren hinterlassen. Betanze deinen Platz und besetze ihn dabei. JedeR soll deine Grenzen und deinen Platz erkennen. Beachte dabei deine Gefühle. Stell dich dann in die Mitte deines Raumes und spüre deinen eigenen Bewegungsraum! “ Reflexion: Wie viel Bewegungs- und Handlungsraum hast du in deinem Leben? Wie viel Ausdehnung gestehst du deinem Körper zu? Wie wirkt sich ein enger, kleiner Raum auf deine Befindlichkeit aus? Die Übung kann nun fortgesetzt werden, indem die TeilnehmerInnen die eigenen Räume ausweiten, Grenzen überschreiten und verteidigen. Spätestens bei dieser Intervention werden Konflikte sichtbar und können mit dem alltäglichen Verhalten verglichen werden. Wo gelingt Abgrenzung? Wo kann sich wer durchsetzen? Was hat das mit der Geschlechterrolle zu tun? 3 | 2013 115 Gendersensible Bewegungs- und Tanztherapie Bewegungsentwicklung entlang von Liegen, Sitzen, Stehen, Gehen Liegen, Sitzen, Stehen, Gehen: Die „vier Würden“ (Brooks 1984; Reichel 2012) beschreiben die Aufrichtung vom Liegen zum bipedischen Gang. In diesen vier basalen Bewegungs- und Haltungserfahrungen spiegeln sich Lebenserfahrungen wider und sind für die gendersensible bewegungstherapeutische Bearbeitung ergiebig. Geschlechtsspezifische Verhaltensnormen werden auch durch mediale Darstellungen von Körperhaltungen und Bewegungsmustern beeinflusst. Diese sollen grundsätzlich in die Reflexion einbezogen werden (Mühlen- Achs 1998). Liegen Liegen bedeutet häufig Ruhe, Rückzug, Erotik, Krankheit und auch Tod. Das Gefühl des „Ausgeliefert-Seins“ kann bei liegenden Entspannungsübungen entstehen. Respektvolles Sprechen und Schauen ist gefordert, vor allem wenn es um gegengeschlechtliche AnleiterInnen geht. Übung: Sich liegend viel und wenig Raum nehmen, zusammenrollen und ausdehnen und dabei die Körperwahrnehmung beobachten. Reflexion: Welche Voraussetzungen sind notwendig, um sich entspannt ausbreiten zu können? Welche Kleidung ermöglicht es? Welche Szenen und Botschaften zum Liegen tauchen auf? Sitzen Sitzen braucht die Aufrichtung der Wirbelsäule. Der Blick bekommt einen größeren Radius, und die Kommunikationsmöglichkeiten werden erweitert. Sitzen beeinflusst den Körperausdruck durch die Nutzung der Sitzfläche, die Ausdehnung der Beine und Arme. „Sitz ordentlich“ ist eine häufig gehörte erzieherische Anweisung. Mühlen-Achs meint: „Weibliche Sitzhaltungen sind wesentlich unbequemer als männliche. Frauen nehmen ihre Unterlagen nicht in vergleichbarer Weise voll in Besitz, sondern begnügen sich häufig bescheiden mit deren Ecken und Kanten.“ (Mühlen-Achs 1998, 54) Übung: Sitzen eignet sich für bewegte Improvisationen: Mehrere Stühle werden im Raum verteilt. Die TeilnehmerInnen tanzen um die Stühle, bleiben bei einem Signal stehen und setzen sich auf den nächsten Stuhl. Sie nehmen verschiedene emotionale Haltungen ein: schüchtern, forsch, gelangweilt, offen, geschlossen, breit, eng. Die Improvisation wird Abb. 1: Aufrichtung 116 3 | 2013 Auguste Reichel dann im „Sitzdialog“ mit einem Gegenüber fortgesetzt. Reflexion: Woran erinnern die Szenen und Dialoge? Welche Haltungen nimmst du gerne ein, wie reagierst du bei einem männlichen oder weiblichen Gegenüber? Stehen Stehen kommt in alltäglichen Redewendungen vor: einen Standpunkt einnehmen, zu etwas oder jemandem stehen, etwas durchstehen. Stehen ist Kraftaufwand und verbindet Ruhe und Bewegung (Höhmann-Kost 2002). Stehen ist ebenso kontextabhängig: Stehen vor einer Autorität, in der Warteschlange, auf der Bühne. Gutes Stehen drückt auch Sicherheit und Selbstwert aus. Mühlen-Achs beschreibt die mediale Darstellung von männlicher und weiblicher Haltung: Männer stehen meist mit dem Ausdruck von Selbstbewusstsein, „Frauen werden hingegen zerbrechlich und labil dargestellt und durch schräge, vielfach verbogene oder abgeknickte Haltungen wird diese Unsicherheit verstärkt.“ (Mühlen- Achs 1998, 47) Die medialen Vorbilder eignen sich gut für Improvisationen, Szenen und Reflexion von Körperhaltungen mit dem Genderblick. Übung „Vom Liegen zum Gehen“: Die TeilnehmerInnen (TN) liegen auf Decken am Boden und werden angeregt, den Kontakt des Körpers zum Boden wahrzunehmen. Die Fortbewegung beginnt am Boden, die TN rollen, krabbeln, sitzen, stehen und gehen. Die Übergänge zwischen den Positionen sollen beachtet werden. Wenn nun alle TN stehen, kann die Bedeutung des Gehens erarbeitet werden: Über die Gewichtsverlagerung bei jedem Schritt wird der Wechsel zwischen stabiler und labiler Position wahrgenommen. Selbstreflexive Fragen können sein: Wie löse ich mich aus einer stabilen, sicheren und vielleicht stagnierten Situation, was lockt mich auf neue Wege? Wie wurde meine Eigenständigkeit und Expansionsfähigkeit unterstützt oder verhindert? Wie wurde mit meiner Geschlechterrolle umgegangen? Gehen Gehen ist eine Form der Mobilität und ermöglicht Freiheit und Eigenständigkeit. Man kann Standorte und Plätze wählen. Im aufrechten Gang zeigen sich auch die Würde und der Selbstwert des Menschen. Gehen ist wesentlich mit der Beschaffenheit der Schuhe verbunden: Auch hier beeinflusst die geschlechterstereotype Mode die Gangart. Highheels verhindern den festen Bodenkontakt, und mit eingeschnürten Füßen kann man nicht weglaufen. Übung: Bei jedem Schritt wird der Wechsel zwischen stabiler und labiler Position wahrgenommen. Gangarten zeigen persönliche Verhaltensmuster auf: Gehen mit breiter oder enger Körperhaltung, zielgerichtet oder ziellos, langsam oder schnell, direktes Zugehen auf ein Ziel, langsames Bewegen ohne Ziel, schnell durch den Raum gehen ohne Rücksicht auf andere, ängstliches oder offenes Gehen. Reflexion: Gibt es typisch männliche oder weibliche Gangarten? Welche sind erwünscht, welche nicht? Was bedeuten die verschiedenen Arten zu gehen aus dem Genderblick? Tanzende Männer Tanzende Männer sind in unserer mitteleuropäischen Kultur eine Seltenheit. Jungwirth (2012) beschreibt ihre Arbeit mit einer Tanzgruppe für Männer im Rahmen eines öffentlich geförderten Gesundheitsprojekts. Widerstand wurde zur Freude: „Durch die Gruppentänze konnte das Gefühl der Verbundenheit und der stärkenden Männersolidarität verankert werden. Die Teilnehmer zeigen sich in einer aufrechten Körperhaltung und Präsenz, die Zentrierung der eigenen Mitte wird mehr und mehr 3 | 2013 117 Gendersensible Bewegungs- und Tanztherapie sichtbar. In den Gesichtern der Männer und im leiblichen Ausdruck lässt sich Freude, Offenheit, Kraft, Verbundenheit und Zuversicht erkennen und interpretieren.“ (Jungwirth 2012, 96) Die Scheu der Männer, einander an der Hand zu nehmen, wurde durch die vertrauensvolle Atmosphäre überwunden, und es wurden entspannende Berührungen und einfache Massagen möglich. „Anfängliche Abwehr- und Widerstandsreaktionen vor dem Neuland Männertanz werden durch Empathie und geeigneten Methodeneinsatz in Fluss gebracht. Widerstand zeigt sich im Prozessverlauf immer wieder, nämlich dann, wenn die Teilnehmer aufgefordert werden, eine weitere Entwicklungsstufe in der tanz- und leibtherapeutischen Arbeit zu leisten.“ (Jungwirth 2012, 109) „Ein neuer Blick auf die Männlichkeit wurde frei, wenn auch zwischen Neugierde und Skepsis.“ (Höfner 2007, 292) Gendersensible Bewegungs-und Tanztherapie - Zusammenfassung ● Gendersensibilität setzt Genderwissen voraus: Therapeuten und Therapeutinnen erwerben diese über Literatur, Forschungen und Reflexion. ● Mittels Bewegungs- und Tanzinterventionen werden Geschlechterrollen reflektiert und neue Verhaltensmöglichkeiten erprobt. ● Geschlechterstereotype Zuschreibungen werden vermieden: „männlich ist stark“ oder „weiblich ist zart oder weich“. ● Frauen und Mädchen werden ermutigt, raumgreifende und kraftvolle Bewegungserfahrungen zu machen, und Männern und Jungen wird ermöglicht, zarte, weiche und körpernahe Bewegungen zu versuchen. ● Gendersensible Bewegungs- und Tanztherapie schafft Erfahrungsräume für geschlechtshomogene wie auch heterogene Gruppen, um auf der Basis der jeweiligen Sozialisation angstfreie Kommunikation und neue Ausdrucksformen zu finden. Gendersensiblität sollte in bewegungs- und tanztherapeutischen Aus- und Weiterbildungen reflektiert und geübt werden. In welchem Ausmaß sich dieses Umdenken auf die Berufs- und Anwendungsfelder auswirkt, ist noch abzuwarten. Literatur Abdul-Hussain, S. (2012): Genderkompetenz in Supervision und Coaching. Mit einem Beitrag von Ilse Orth und Hilarion G. Petzold zu „Genderintegrität“. VS Verlag, Wiesbaden Bender, S. (Hrsg.) (2010): Bewegungsanalyse in Interaktionen. Movement Analysis of Interaction. Logos, Berlin Bender, S. (2007): Die Psychophysische Bedeutung der Bewegung. Logos, Berlin Bischof-Köhler, D. (2004): Von Natur aus anders. Kohlhammer, Stuttgart Bollnow, O. F. (2000): Mensch und Raum. Kohlhammer, Stuttgart Bräuer, U.-C. (2006): Die Autonomieentwicklung aus körpertherapeutischer Sicht. In: Marlock, G., Weiss, H. (Hrsg.): Handbuch der Körperpsychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 383-391 Braun, C. von, Stephan, I. (2005): Gender@wissen. Ein Handbuch der Gendertheorien. Böhlau, Köln Brooks, C. V. W. (1984): Erleben durch die Sinne (Sensory awareness). In der deutschen Bearbeitung von Charlotte Selver. 3. Aufl. Junfermann, Paderborn Butler, J. (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp, Frankfurt Diketmüller, R. (2007): Mädchen flanieren, Buben spielen Fußball. In: http: / / www.dieuniversitaet-online.at/ beitraege/ news/ madchen-flanieren-bubenspielen-fussball/ 10/ neste/ 186.html, 11.07.2011 Dux, G. (1992): Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter. Suhrkamp, Frankfurt Fuchs, T. (2010): Das Gehirn - ein Beziehungsorgan. Kohlhammer, Stuttgart Gienger, S., Peter-Bolaender, M. (Hrsg). (2001): Frauen Körper Kunst. Frauen und Geschlechterforschung bezogen auf Musik, Tanz, Theater und Bildende Kunst. Furore, Frankfurt a. M. / Kassel 118 3 | 2013 Auguste Reichel Höfner, C. (2008): Der Berufsalltag Integrativer BewegungstherapeutInnen. Ergebnisse der Fragebogenerhebung mit AbsolventInnen und Studierenden der IBT-Weiterbildung. In: http: / / www.donau-uni. ac.at/ de/ department/ psymed/ forschung/ evaluationalternativertherapieformen/ projekt/ id/ 11052/ index.php, 3.12.2011 Höfner, C. (2007): Gender vertigo. Eine Verführung. Integrative Therapie 33 (3), 279-298 Höhmann-Kost, A. (2002): Bewegung ist Leben. Integrative Leib- und Bewegungstherapie - eine Einführung. Hans Huber, Bern Jungwirth, C. (2012): Vom Widerstand zur Freude. Tanz und Leibarbeit in Männergruppen im Rahmen von Gesundheitsprojekten. Masterthesis Integrative Therapie, Donau Universität Krems Koschier, A. (2009): Effektivität Integrativer Bewegungstherapie. Ergebnisse der TherapeutInnen- und KlientInnenbefragung. In: http: / / www.donauuni.ac.at/ de/ department/ psymed/ forschung/ evaluationalternativertherapieformen/ projekt/ id/ 11052/ index.php, 3.12.2011 Laban, R. von (1981): Der moderne Ausdruckstanz. Heinrichshofen, Wilhelmshaven Leitner, A. (2010): Handbuch der Integrativen Therapie. Springer, Wien / New York Macha, H., Fahrenwald, C. (Hrsg.) (2003): Körperbilder zwischen Natur und Kultur. Leske und Budrich, Opladen Mühlen-Achs, G. (1998): Geschlecht bewusst gemacht. Frauenoffensive, München Osten, P. (2000): Die Anamnese in der Psychotherapie. Ernst Reinhardt, München Petzold, H. (2006a): Homo migrans. Der bewegte Mensch - Frauen und Männer in Bewegung durch die Zeit. Transversale Überlegungen zur Anthropologie aus der Sicht Integrativer Therapie. In: Kühn, R., Witte, K. H. (Hrsg.): psycho-logik: Jahrbuch Psychotherapie, Philosophie und Kultur. Verlag Karl Alber, Freiburg / München, 256-285 Petzold, H. (2006b): Der informierte Leib: „embodied and embedded“ - ein Metakonzept für die Leibtherapie. In: Marlock, G., Weiss, H. (Hrsg.): Handbuch der Körperpsychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 100-118 Petzold, H. (1988): Integrative Bewegungs-und Leibtherapie. Ein ganzheitlicher Weg leibbezogener Psychotherapie. Band 1 und 2. Junfermann, Paderborn Reichel, A. (2012): Wie geht’s? Wie steht’s? Der Bewegungsbegriff der Integrativen Bewegungs- und Leibtherapie (IBT) in Theorie, Lehre und Praxis in Österreich. Masterthesis Integrative Therapie, Donau Universität Krems Reichel, A. (2007): Ist Mutterglück Frauenleid? Integrative Therapie 33(3), 323-342 Reichel, A. (1999): Tanz dich ganz. Ökotopia, Münster Schigl, B. (2012): Psychotherapie und Gender. Konzepte. Forschung. Praxis. VS Verlag, Wiesbaden Schmitz, S. (2006): Frauen und Männergehirne. Mythos und Wirklichkeit? In: Ebeling, S., Schmitz, S.: Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 189-234 Steins, G. (2003): Identitätsentwicklung. Die Entwicklung von Mädchen zu Frauen und Jungen zu Männern. Pabst Publikationen, Lengerich Trautmann-Voigt, S., Voigt, B. (2009): Grammatik der Körpersprache. Körpersignale in Psychotherapie und Coaching entschlüsseln und nutzen. Schattauer, Stuttgart Waibel, M., Jakob- Krieger, C. (2009): Integrative Bewegungstherapie. Störungsspezifische und ressourcenorientierte Praxis. Schattauer, Stuttgart 3 | 2013 119 Gendersensible Bewegungs- und Tanztherapie Die Autorin Auguste Reichel MAS, Msc, St. Pölten, geb. 1948, Psychotherapeutin (Integrative Therapie) in freier Praxis, Lehrtherapeutin für Integrative Therapie im Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität Krems. Supervisorin, Lehrende für Kreativen Tanz, Autorin, Projektleitung „Visionen in Bewegung“. ✉ Auguste Reichel, MAS, Msc Radlberger Hauptstraße 27 | A-3100 St.Pölten www.reichel-reichel.at auguste.reichel@gmail.com Tel. (0043)-(0)6763510088 Bewegte Weiterbildungen unter www.oegit.at