körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2013.art13d
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Der unerhörte Blick im Körper der Frau
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Helga Krüger-Kirn
Der erste Teil dieses Beitrags beleuchtete die Bedeutung der weiblich-affektiven Spiegelung der Mutter / Therapeutin für die Entwicklung eines stabilen weiblichen Körper- und Selbstbildes. In diesem Teil stehen die Erfahrungen, die nicht sinnstiftend in das Körper- und Selbstkonzept eingeordnet werden können, und ihre Implikationen für das psychische Körpererleben im Fokus. Diese Erfahrungen gehen mit entsprechenden Abwehrbewegungen und Symptombildungen einher, die an einem Fallbeispiel erläutert werden. Es wird dafür plädiert, ausschließlich diagnostisch pathologisierende Betrachtungsweisen kritisch zu beleuchten und stattdessen die Symptome als Inszenierungen des verkörperten Unbewussten zu lesen und mit einer Genderperspektive zu reflektieren. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, körpertherapeutische Behandlungsmethoden um den Geschlechterdiskurs zu ergänzen und auch auf die Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung zu beziehen.
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Fachbeitrag körper - tanz - bewegung 1. Jg., S. 146-152 (2013) DOI 10.2378 / ktb2013.art13d © Ernst Reinhardt Verlag 146 Der unerhörte Blick im Körper der Frau Teil 2: Überlegungen zu Interaktionen und Abwehrformen mit dem weiblichen Körper 1 Helga Krüger-Kirn Der erste Teil dieses Beitrags beleuchtete die Bedeutung der weiblich-affektiven Spiegelung der Mutter / Therapeutin für die Entwicklung eines stabilen weiblichen Körper- und Selbstbildes. In diesem Teil stehen die Erfahrungen, die nicht sinnstiftend in das Körper- und Selbstkonzept eingeordnet werden können, und ihre Implikationen für das psychische Körpererleben im Fokus. Diese Erfahrungen gehen mit entsprechenden Abwehrbewegungen und Symptombildungen einher, die an einem Fallbeispiel erläutert werden. Es wird dafür plädiert, ausschließlich diagnostisch pathologisierende Betrachtungsweisen kritisch zu beleuchten und stattdessen die Symptome als Inszenierungen des verkörperten Unbewussten zu lesen und mit einer Genderperspektive zu reflektieren. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, körpertherapeutische Behandlungsmethoden um den Geschlechterdiskurs zu ergänzen und auch auf die Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung zu beziehen. Schlüsselbegriffe weibliche Symptome, körperliche Übertragung- Gegenübertragung, Gender Considerations on Interacting and Forming Defense with the Female Body To what extend is a mother’s or a female therapist’s affective reflection crucial for women to develop a stable image of the female body and self? This issue was illuminated by the first part of this article. The second part focuses on such experiences which cannot be sensibly integrated into a concept of body and self and which therefore result in the formation of defense and symptom mechanisms, as will be shown in a case study. It will be argued that all approaches which evaluate these symptoms as solely pathological, rather than reflecting on them from a gender perspective as enactments of the embodied unconscious, should be questioned. Consequently, the author proposes that procedures of body therapy require a widening of their perspective by taking into consideration both gender issues and the concept of transference and countertransference. Key words female symptoms, concept of embodied transference and countertransference, gender 1 Den ersten Teil dieses Artikels (Überlegungen zum körpersprachlichen Übertragungsraum in Frau-Frau- Therapien) finden Sie in Ausgabe 3 / 2013, online unter www.reinhardt-journals.de 4 | 2013 147 Der unerhörte Blick im Körper der Frau - Teil 2 D er Körper gilt als Referenzpunkt der Selbstentwicklung und der Bewertung eigener Erfahrungen (Joraschky 2013, 20). Er wird als der Ort konzeptualisiert, an dem sowohl die Identifizierungen wie auch die Abwehr verkörpert werden. Auf der körperlichen Ebene übernehmen die Abwehrstrukturen Selbstregulierungsfunktionen und dienen der Emotionsabwehr, wenn auch oft mit pathologischen und entwicklungshemmenden Auswirkungen auf die weitere Entwicklung. Der ursprüngliche emotionale Ausdruck findet sich in muskulären, hormonellen und vegetativen Ebenen sowie auf der Handlungsebene wieder (Geuter / Schrauth 2001). Er manifestiert sich im Habitus, der Mimik, Gestik und der Körperhaltung und in psychosomatischen Erkrankungen. So bilden sich nach Stern auf der Basis des affect attunement Vitalitätsaffekte, womit spezifische charakterliche Reaktionsweisen gemeint sind, d. h. wie jemand sich bewegt, verhält, spricht, atmet. Ein Rig (Abkürzung für „representation of interaction that has been generalized“) bezieht sich auf Erfahrungen, Wahrnehmungen, Affekte und Handlungen sowie im weitesten Sinne Gedanken als Gesamterleben und bildet eine Grundlage für das Erkennen und Bewerten späterer Erfahrungen. Diese frühe Ausbildung von Repräsentanzen erfolgt averbal in körpersprachlichen und lautlichen Dialogen und wird Teil eines prozeduralen Unbewussten. Dabei werden die vitalen Dimensionen von Affekten und Ereignissen schon von kleinsten Kindern wahrgenommen und tragen dazu bei, dass sich ein breites Spektrum von fein nuancierten Gefühlen und Empfindungen ausbilden kann (Stern 1985). Da die Affekte nicht bewusst gefühlt werden, können sie später auch kaum ohne therapeutische Unterstützung transformiert werden, selbst wenn sie sich körperlich äußern. Das verfehlte Begehren nach affektiv-spiegelnder Anerkennung habe ich in meinem Beitrag mit dem Adjektiv „unerhört“ codiert, um dabei auf die doppelte Bedeutung von Nichtbeachtung sowie „unverschämt“ und „verboten“ anzuspielen. Denn ergänzt mit einer geschlechterkritischen Perspektive können geschlechtsspezifische Codierungen in ihrer regulierenden und unterdrückenden Wirkung auf die weibliche Entwicklung herausgearbeitet werden. Viele für eine gelingende psychosomatische Entwicklung notwendige Handlungsimpulse müssen unterdrückt werden und können nicht ausreichend sprachlich repräsentiert und symbolisiert werden. Sie führen zu Leerstellen in der Aneignung der weiblichen Körperlichkeit und tragen zu entsprechenden Defiziten in der Subjektkonstituierung bei. Der weibliche Rückzug der Vitalität und des Begehrens bezieht sich nicht nur auf sexuell erotische Körpergefühle, sondern weitet sich auf eine - die gesellschaftlichen Reglementierungen aufnehmende- -- Körperkontrolle aus und realisiert sich in verschiedensten Formen psycho-physiologischer Ausdrucksweisen. Eine unzureichende Symbolisierung des Körpers geht in der Regel mit spezifischen Körperpraxen einher, die in der klinisch-medizinischen Sprache als Objektverwendung des Körpers beschrieben werden. Dabei wird der Körper vom Gesamtselbst abgespalten und wie ein Gegenüber, wie ein äußeres Objekt erlebt und kann auch im Agieren und in der Fantasie so behandelt werden. Eine Spaltung bzw. Dissoziierung des Körpers vom Selbst kann sich auf den gesamten Körper oder bestimmte Körperteile beziehen. Gerade bei Frauen nehmen diese Umgangsweisen mit dem Körper einen großen Raum ein. Der weibliche Körper wird demzufolge einem Gegenstand gleich eher wie eine Puppe oder Marionette behandelt denn als subjektiv gefühlter Leib. Gleichwohl repräsentiert der Körper auch die nicht verarbeiteten Erfahrungen mit den dazugehörenden Affekten und wird zum Austragungsort psychischer Konflikte. Die klinische Erfahrung zeigt, dass sich die unverarbeiteten Erfahrungen in speziellen 148 4 | 2013 Helga Krüger-Kirn Körperinszenierungen und Körpersensationen äußern. Sie werden als Hinweis auf den Konflikt gelesen, der ehemals in der Interaktion und Beziehung mit den Bezugspersonen stattfand und nun in und mit dem Körper inszeniert wird. In dieser Symptomatik scheinen die jeweilige subjektive Entwicklungsgeschichte und die unverarbeiteten interaktionellen Erfahrungen verborgen. Mit Hirsch (1989) wird das psychosomatische Agieren und Reagieren als Rückzug der Objekte auf das Selbst verstanden. Der Konflikt findet nicht mehr in der Interaktion und Beziehung mit den Bezugspersonen, sondern mit und am Körper statt, so dass die Körperebene häufig als Hauptmitteilungsebene genutzt wird (Plassmann 1993; Heisterkamp 1993; McDougall 1985). Fallbeispiel Martha, 32 Jahre, kommt aufgrund von Depressionen und einer prämenstruellen Symptomatik in die Therapie. Neben den bekannten Leitsymptomen wie depressive Verstimmungen, Kopfschmerzen, innere Leere und Angstgefühle leidet sie vor Beginn der Menstruation häufig an einem brennenden Schmerz in der Mund- und Rachengegend sowie heftigem Schwitzen. Bereits seit der Pubertät tragen diese Beschwerden zu einer Ablehnung ihres Körpers bei und gehen mit Scham, Ekel und Selbsthass einher. Martha ist eine beeindruckende weibliche Erscheinung mit dunklen langen Haaren. Erst ihre leise, zurückhaltende und wenig modulierte Stimme unterlegt ihren Wunsch, „am liebsten eine Frau ohne Unterleib“ zu sein. In der Behandlung kommt es zu folgender Szene: Während Martha emotional unbeteiligt von ihren Körpersymptomen und diversen Arztbesuchen berichtet, fühle ich mich in einen Vergleich mit den Ärzten hineingezogen und zunehmend bedeutungslos. Ich werde sprachlos und fühle mich bedrängt. Ob von ihrem monotonen Bericht, ihrer Körperfülle, die mir plötzlich so drastisch vor Augen steht oder ihrem aufdringlichen Geruch - der gemeinsame Dialog ist abgebrochen. Ich tauche ab in eine stumpf-monotone Atmosphäre, versuche dem bedrängenden Geruch auszuweichen und flach zu atmen. Parallel bemerke ich, dass ich begonnen habe, an meinen Fingernägeln zu knubbeln, gleichzeitig wird der Drang, aufzustehen und das Fenster zu öffnen, sehr dominant. Nur meine Sorge, Martha dadurch zu beschämen, hält mich zurück. Neben den Fluchtfantasien realisiere ich, dass ich Martha am liebsten maßregeln und ihr eine umfangreiche Hygienelektion erteilen würde. Innerlich bin ich in der komplementären Gegenübertragung in die Position der strengen, ablehnenden Mutter geraten. Die Patientin dagegen wirkt ruhig und scheint ganz in ihren Berichten aufzugehen, man könnte auch sagen, ihre Erzählblase und Duftwolke fließen nahtlos ineinander über. Ein selbstreflexives Nachdenken über meine somatischen Gegenübertragungsempfindungen, insbesondere das Fingernägelkauen, öffnet mir einen Zugang zu meiner autoaggressiven Spannungsabfuhr. Doch greift die Sicht auf die Aggressionen insofern zu kurz, als dass das Fingernägelkauen auch autoerotische Aspekte verbirgt. Assoziationen an die frühe Säuglingszeit meiner Kinder, in welcher der wohlriechende, beglückende Babygeruch eingewoben ist in eine haltende und zugewandte Mutter-Kind-Beziehung, gehen mir durch den Kopf und stehen in auffälliger Diskrepanz zu Marthas abstoßendem Geruch und meinem Impuls, sie zu maßregeln. Diese ambivalenten Tendenzen in meiner Gegenübertragung helfen mir zu verstehen, dass die Paradoxie der Dynamik mit Martha gerade darin liegt, dass der Geruch meine Wahrnehmung zwar direkt auf ihren Körper lenkt, aber gleichzeitig eine 4 | 2013 149 Der unerhörte Blick im Körper der Frau - Teil 2 uneingeschränkt sinnliche Hinwendung verhindert. Diese Interaktion deute ich als szenische Verdichtung der Abwehr, in der sich gleichzeitig Marthas Selbstablehnung sowie ihre Sehnsucht nach Nähe und Sinnlichkeit zu ihrem Körper realisieren. Nun erschließt sich mir auch Marthas Aussage, am liebsten eine Frau ohne Unterleib zu sein, als sinnhafte Abwehr und offenbart zugleich dessen Aufforderungscharakter. Denn trotz bzw. gerade über die induzierte Ablehnung dominiert das Begehren (wie mein Fingernägelkauen eindrücklich zeigt). Martha sucht in mir ein Gegenüber, dem sie ihren Körper zeigen und anvertrauen kann. Dabei geht es ihr um einen zugewandten, interessierenden und einfühlsamen, nicht aber kritisch beurteilenden Blick, der ihr hilft, ihren Körper und besonders auch ihren genitalen Körper zu erkunden. Während wir uns diesen Zusammenhängen annähern und darüber austauschen, versucht Martha mit einer heftigen Handbewegung sich des Lärms, der von der Straße hereindringt, zu erwehren. Der Handbewegung folgt eine resignierte Kopfbewegung, woraufhin sich wieder Schweigen und Spannung zwischen uns ausbreitet. Als ich nach der Handbewegung frage, bemerkt sie, dass sie nicht mehr sehen und fühlen wolle, zu schmerzhaft fühle sich die Wut in ihrem Bauch an. Mit der vorgestellten Behandlungssequenz wird der Fokus auf die Inszenierung des Zusammenhangs der körperlichen und psychischen Abwehr gelegt, daher wird die nachfolgende Bearbeitung der biographisch erlebten Zurückweisungen und Beschämungen und deren Integration in die aktuellen Abwehrbewegungen und Sehnsüchte nicht weiter ausgeführt. Hier soll gezeigt werden, wie sehr frühe Beeinträchtigungen der basalen Erfahrungen des Selbstgefühls und der Selbstwirksamkeit bis in die Gegenwart wirksam sind und immer auch auf die körperliche Geschlechtlichkeit übertragen werden. Dabei zeigen die weiblichen Körperinszenierungen eine enge Verbindung mit der Scham sowie der Angst vor Beschämung auf. Bei den Frauen geht dies häufig auch mit einer verzerrten Wahrnehmung ihres Körpers einher. Dementsprechend erleben sie ihren Körper z. T. befremdend und beängstigend. Die Symptomatik des Geruchs, die in dieser Behandlung phasenweise besonders aufdringlich im Vordergrund stand, findet sich in abgemildeter Form bei vielen Patienten, besonders, wenn es um abgewehrte Themen der oralen Gier, der Abgrenzung oder Erotik und Sexualität geht, und eröffnet einen Zugang zu basalen entwicklungspsychologischen und geschlechterrelevanten Zusammenhängen. Gerüche und die damit verbundenen Affekte haben entwicklungspsychologisch eine besondere Bedeutung für den Aufbau des Körper- Selbst. Später werden diese im Rahmen der Reaktionsbildung beim Erwachsenen abgewehrt. Vergleichbar der akustischen Hülle durch die stimmlichen Affekte der Mutter gibt es eine Geruchshülle, einen gemeinsamen sinnlichen Raum zwischen Mutter und Kind (Krause 2006, 87 f ). Dieser ist in besonderem Maße von den lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Eltern mit ihrer Körperlichkeit und Sexualität beeinflusst. Steht der Ekel im Zusammenhang mit Ausscheidungen oder der Genitalregion, so ist auch die Pflege mit Signalen des Ekels begleitet. In der Position des Kindes spielt die Erfahrung mit dem eigenen Körper und das Erleben der eigenen Körpersäfte und des Geruchs während der Entwicklung der genitalen Psychosexualität eine herausragende Rolle. Im Zuge der physiologischen Körperentwicklung in der Adoleszenz werden diese erneut besonders bedeutsam. Spätestens mit dem Beginn der Menstruation begegnet Frau expliziten gesellschaftlich etablierten, ambivalenten Zuschreibungen auf ihren Körper. Obwohl wir heute einen vergleichsweise aufgeklärten Umgang mit dem weiblichen Körper pflegen oder 150 4 | 2013 Helga Krüger-Kirn es zumindest versuchen, reicht ein kurzer Blick in die aktuellen Werbespots, um festzustellen, dass weibliche Körperausscheidungen auch heute noch der Spaltung sauber versus schmutzig folgen. Besonders die mit der Zyklizität des weiblichen Körpers verbundenen Erfahrungen werden tabuisiert und letztlich mit Schweigen belegt. Die den weiblichen Körper auszeichnende Eigenschaft - nämlich Kinder zu zeugen, zu tragen und zu gebären - bleibt so weiterhin assoziativ dem Raum des zu Verbergenden, des Unheimlichen zugeordnet. Hier taucht die ehemals von Freud als „dunkler Kontinent“ beschriebene und längst überholt geglaubte weibliche Körperlichkeit wieder auf. Gerade der medizinische Fortschritt der Verhütungsmethoden trägt gegenwärtig mit dazu bei, dass der „Kontinent nicht nur dunkel, sondern leer“ bleibt. So wird beispielsweise die Pille den Mädchen zu Beginn ihrer Frauwerdung nicht etwa nur zur Verhütung, sondern auch zur Auslöschung ihrer körperlichen Erfahrungen mit dem weiblichen Zyklus und der gesamten Spannbreite menstrualer und prämenstrualer Körperveränderungen verordnet. Auf diese Weise wird eine positive Besetzung der Zyklizität des weiblichen Körpers nicht nur erschwert, sondern reiht sich in eine problematische und konflikthafte Aneignungsgeschichte des weiblichen Körpers insgesamt ein. Dass sich diese Zusammenhänge implizit über negative, d. h. abwertende sowie schmerzhaft erlebte Symptome realisieren- -- wie das prämenstruelle Syndrom bzw. depressive Verstimmungen (Springer-Kremser et al. 2006)- -- spannt einen Bogen zwischen den weiblichen Körperinszenierungen der Gegenwart und den historisch tradierten Weiblichkeitsvorstellungen. Was bleibt also abgewehrt? Oder anders gefragt: Warum kann Frau in ihrem Entwicklungsprozess nicht ihr volles Potential entfalten? Unser heutiges entwicklungspsychologisches Wissen zeigt, dass erst eine Aneignung unseres Körpers uns dazu befähigt, selbstbestimmt zu fühlen und zu entscheiden, wie wir leben möchten. Insofern muss aus der Tatsache, dass bestimmte Körperzonen gehemmt werden, die spezifisch weiblich sind und mit Lust und weiblicher Potenz zu tun haben, der Schluss gezogen werden, dass Frauen immer noch bestimmten Formen von Unterdrückung unterworfen sind. Mit Bezug auf den „unerhörten Blick“ in der weiblichen Körperaneignung zeigt sich hier eindrücklich, wie tief verankert traditionelle Geschlechterbilder zum Tragen kommen und sich nonverbal mit den frühen Körpersensationen, Gefühlen und Vorstellungen verbinden. Konsequenzen für die Behandlungstechnik Mit der intersubjektiven Wende erfolgte im allgemeinen psychotherapeutischen Diskurs ein Paradigmenwechsel, der auch das körpertherapeutische Behandlungsspektrum weiter ausdifferenzierte. Eine vermehrte Rezeption von Befunden aus den Humanwissenschaften, v. a. der Säuglingsforschung und den Neurowissenschaften, präzisieren auch die körpertherapeutische Praxis (Thielen 2013, 309 ff ). Auffallend ist hierbei allerdings, dass die Erkenntnisse des soziologischen Körper- und Geschlechterdiskurses bisher kaum Beachtung finden, und das, obwohl doch jede Interaktion zwischen zwei Menschen - so auch die therapeutische - eine geschlechtliche ist. Gerade wenn wir die körperliche Fühl-, Empfindungs- und Bewegungsebene als verkörperte Übertragung und Gegenübertragung als wertvolles Instrument zur Erweiterung unseres kognitiv-bildhaften und emotionalen Wahrnehmungsraumes und gleichermaßen auch als Basis (Downing 1996) ansehen, bleibt unverständlich, weshalb die geschlechtliche Ebene der Intersubjektivität bis heute kaum eine Rolle spielt. Dies wiegt umso folgenrei- 4 | 2013 151 Der unerhörte Blick im Körper der Frau - Teil 2 cher, als darüber hinaus auch die Differenzierung der biographischen Zeitachsen - die der kindlichen Vergangenheit und der erwachsenen Gegenwart - nur mental und kaum körperlich erfolgt (dies sicherlich, da eine erotische Übertragungsdynamik gefürchtet wird). Mit Blick auf den vorgestellten Behandlungsausschnitt und die referierten Überlegungen zeigt sich, dass für die weibliche Körperaneignung ein „Erhören“ des Begehren nach Spiegelung der körperlich-leiblichen Erfahrungen und Empfindungen notwendige Bedingung ist. Hier wird eine Position in der weiblichen Körper- und Subjektkonstituierung erkennbar, die nicht nur für die präödipale Phase charakteristisch ist, sondern altersübergreifend gilt (Krüger-Kirn 2013, 411). Bleibt allerdings dieses Begehren „unerhört“ und fällt mit Blick auf die weibliche Körperaneignung unter das kollektive Körper- und Homosexualitätstabu, setzt dies der weiblichen Entwicklung bis heute folgenreiche Grenzen. Gerade geschlechterkritische Reflexionen auf die körper-psychoanalytischen Praxen können hier einen bedeutsamen methodischen Beitrag leisten. Wenn unsere körpertherapeutische Arbeit also mehr darstellen soll, als gesellschaftlich etablierte geschlechtliche Repräsentationen zu wiederholen, und Formen von „Unerhörtheit“ entschlüsseln möchte, müssen wir mit Blick auf die weiblichen Symptome die Abwehr des Sexuellen und insbesondere des Homosexuell-Sinnlichen reflektieren. Gerade dort, wo uns die subjektiven Körpererfahrungen und sinnlich-erotischen Übertragungen zunächst als namenlose Räume begegnen und Frau auf der Körperebene ihr Begehren zwar agiert, aber wie Martha keine Worte und Bilder dazu hat, dann spätestens müssen wir uns selbstkritisch fragen, ob unsere bisherigen Kompetenzen zum Verstehen von weiblichen Erfahrungsräumen ausreichen. Wenn wir bedenken, dass unser Sprachraum an männlichen Strukturen orientiert und aufgebaut ist und dementsprechend die Repräsentanz der weiblichen Köpererfahrungen und psychischen Verarbeitungsweisen in den bisher männlich kodierten Symbolismen unserer kulturellen Ordnung nicht ausreichend repräsentiert sind, ist es gerade für die körpertherapeutische Arbeit notwendig, eine selbstreflexive, geschlechterkritische Perspektive einzunehmen. Denn die Verwicklungen in kollektive Beschränkungen und Tabuisierungen betreffen alle Beteiligten gleichermaßen. Um also das Begehren der Frauen auf die weiblich homosexuelle Entwicklungsposition (Krüger-Kirn 2013, 410 ff ) beziehen zu können, müssen wir bereit sein, ihre körperlichen Ausdrucksformen als sinnstiftende semantische Codes, die den Symbolisierungen vorausgehen, anzunehmen und anzuerkennen, dass auch „[…] wenn das Wort fehlt, deshalb nicht die Sache selbst [fehlt]“ (Laplanche 2008, 117). Insofern stellt erst eine geschlechterkritische Bezugnahme auf die Körperinszenierungen der Frauen die Basis für eine Transformation des „unerhörten weiblichen Begehrens“ dar. Denn der Ursprung der Körperpsychotherapie ist und bleibt bekanntlich eine Entwicklung vom Körper zur Sprache und steht in direkter Verbindung mit einer Perspektive auf den Körper im Allgemeinen und den geschlechtlichen Körper im Besonderen (Benjamin 2002). Hier liegt aus meiner Sicht das prominenteste, innovative und emanzipatorische Potenzial der Körperpsychotherapie, um die Grenzen des gegenwärtigen emanzipatorischen Begriffs- und Diskursrahmens über eine funktionelle Ebene hinaus zu erweitern. Literatur Benjamin, J. (2002): Der Schatten des Anderen. Intersubjektivität, Gender, Psychoanalyse. Stroemfeld, Frankfurt / Main Downing, G. (1996): Körper und Wort in der Psychotherapie. Kösel, München Geuter, U., Schrauth, N. (2001): Emotionen und Emotionsabwehr als Körperprozess. Psychotherapie Forum 9, 4-19 152 4 | 2013 Helga Krüger-Kirn Heisterkamp, G. (1993): Heilsame Berührungen. Pfeiffer, München Hirsch, M. (1989): Der Körper als Objekt. Psychosozial, Gießen Joraschky, P. (2013): Zur Diagnostik des Körpererlebens. Projekt Psychotherapie 12 (1), 19-21 Krause, R. (2006): Der „eklige“ Körper in der Analyse. Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie 129(1), 75-91 Krüger-Kirn, H. (2013): Zum Verhältnis von Körperinszenierungen und weiblicher Körperlichkeit. In: Thielen, M. (Hrsg.): Körper - Gruppe - Gesellschaft. Psychosozial, Gießen Laplanche, J. (2008): Gender, Geschlecht, Sexuales. Forum der Psychoanalyse 24 (2) 111-124 McDougall, J. (1985): Plädoyer für eine gewisse Anormalität. Suhrkamp, Frankfurt Plassmann, R. (1993): Organwelten. Grundriss einer analytischen Körperpsychologie. Psyche 47(3), 261-281 Springer-Kremser, M., Fischer-Kern, M., Leithner-Dziubas, K., Löffler-Stastka, H. (2006): Depressionsbehandlung - Was brauchen Frauen? Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 52, 161-171 Stern, D. (1985): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Klett-Cotta, Stuttgart Thielen, M. (2013): Neue Entwicklungen in der Wissenschaft und ihre Bedeutung für die körperpsychotherapeutische Praxis. In: Ders. (Hrsg.): Körper - Gruppe - Gesellschaft. Neue Entwicklungen in der Körperpsychotherapie. Psychosozial, Gießen, 309-318 Die Autorin Helga Krüger-Kirn Diplompsychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Lehranalytikerin (DGPT), Dozentin für Paar- und Familientherapie, Körperpsychotherapie. Lehrbeauftragte der Philipps-Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Genderkritischer weiblicher Körper- und Identitätsdiskurs, Mutterschaft. ✉ Helga Krüger-Kirn Wilhelmstr. 42 | D-35037 Marburg
