körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Stichwort: Embodiment
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Ulfried Geuter
In den letzten Jahren geht der Begriff des Embodiment zunehmend in die Diskurse der Psychotherapie ein (Koch 2011; Leuzinger-Bohleber et al. 2013; Storch et al. 2006). Embodiment lässt sich nur schwer übersetzen. Denn es meint nicht nur, dass etwas eingekörpert oder verkörpert ist, sondern auch dass geistige Prozesse ein Teil der Natur eines körperlichen Wesens sind. Koch (2011) übersetzt Embodiment mit Leiblichkeit.
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125 körper - tanz - bewegung 2. Jg., S. 125-127 (2014) DOI 10.2378 / ktb2014.art20d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Stichwort Stichwort: Embodiment Ulfried Geuter I n den letzten Jahren geht der Begriff des Embodiment zunehmend in die Diskurse der Psychotherapie ein (Koch 2011; Leuzinger- Bohleber et al. 2013; Storch et al. 2006). Embodiment lässt sich nur schwer übersetzen. Denn es meint nicht nur, dass etwas eingekörpert oder verkörpert ist, sondern auch dass geistige Prozesse ein Teil der Natur eines körperlichen Wesens sind. Koch (2011) übersetzt Embodiment mit Leiblichkeit. Der Begriff Embodiment wird auf unterschiedlichen Ebenen verwendet: 1. Leuzinger-Bohleber und Pfeifer (2013) verstehen Embodiment als ein revolutionäres grundwissenschaftliches Konzept und setzen den Begriff so mit der Theorie des Embodied Mind gleich. Auf dieser Ebene steht Embodiment für einen wissenschaftlichen Denkansatz, der davon ausgeht, dass Geistiges immer nur in einem Körper und in einem Bezug dieses Körpers zu der ihn umgebenden Welt existiert: „embodied and embedded“ (Thompson / Varela 2001, 425; siehe auch Varela et al. 1992). Die Theorie des Embodied Mind hat in den Kognitionswissenschaften weitgehend das alte Paradigma vom Geist als einer Rechenmaschine abgelöst (Adams 2010; Heiner 2008). Nach ihrer Theorie bringen Lebewesen Bewusstsein als Teil lebendiger Prozesse des Handelns in der Welt hervor. Dabei gibt der Körper vor, wie ein Mensch wahrnehmen und handeln kann (Gallagher 2005; Noë 2010). 2. Phänomenologisch steht Embodiment für die verkörperte Wahrnehmung von Menschen. Von Disembodiment wird gesprochen, wenn ein Mensch nicht fähig ist, sich selbst über den eigenen Körper wahrzunehmen und zu fühlen (Giummarra et al. 2008). Auf dieser Ebene liegt die Arbeitsdefinition des Begriffs von Koch, die unter Embodiment „Leibphänomene“ versteht, „bei denen dem Körper als lebendigem Organismus, seinen Bewegungen und Funktionen sowie der Interaktion von Leib und Umwelt eine zentrale Rolle im Rahmen der Erklärung von und den Wechselwirkungen mit Denken, Wahrnehmen, Lernen, Gedächtnis, Intelligenz, Problemlösen, Affekt, Einstellungen und Verhalten zugewiesen wird“ (2011, 22). 3. Klinisch wird von Embodiment als einem Prozess gesprochen, in dem sich der Patient seiner selbst körperlich gewahr wird (Aposhyan 2004; Levine 2011) oder sensorische, emotionale und geistige Aspekte des Selbst integriert (Bloom 2006). Aposhyan bezeichnet auch die körperliche Präsenz des Therapeuten als dessen Embodiment. Da sich der Begriff des Embodiment sehr verbreitet hat, wird er auch als modisches Accessoire benutzt. Bohne (2012) bezeichnet seine Klopfakupressur mittlerweile als eine „embodimentfokussierte Psychotherapie“ (S. 21), obwohl er an keiner Stelle einen Bezug zum theoretischen, phänomenologischen oder klinischen Konzept des Embodiment herstellt. 126 3 | 2014 Ulfried Geuter Als Embodiment-Forschung wird ferner eine Richtung empirischer Forschung in Psychologie, Kognitionswissenschaften und in der interdisziplinären Forschung zur Körpererfahrung und zur körperlichen Interaktion bezeichnet, in der die Verankerung von Kognitionen und Emotionen in sensomotorischen Prozessen untersucht wird (Adams 2010; De Preester / Tsakiris 2009). Barsalou et al. (2003) beschreiben zum Beispiel, welche Bedeutung Haltungen, Armbewegungen oder Gesichtsausdrücke in sozialen Interaktionen spielen. Eine Untersuchung von Briñol et al. (2009) ergab, dass Menschen, die während eines Experimentes aufrecht sitzen, mehr Zuversicht in ihre Gedanken haben als Menschen, die in gebeugter Haltung sitzen. Wer die Haltung eines anderen nachmacht, bekommt nachweislich dessen Gefühle und Absichten besser mit (Reed / McIntosh 2008). Als Körperpsychotherapeut wundert man sich, dass die Forscher manchmal zu glauben scheinen, die experimentelle Psychologie hätte mit solchen Studien völlig Neues herausgefunden. Dass Versuchspersonen Ärger erzeugende Passagen eines Textes, den sie vorher gelesen haben, eher erinnern, wenn sie die Stirn runzeln (Barsalou et al. 2003), entspricht der körperpsychotherapeutischen Technik, Erinnerungen und Affekte durch willentliches Herstellen eines emotionalen Ausdrucks zu triggern. Wenn Winkielman et al. (2008) vorschlagen, zur Induktion von Ärger einen finsteren Gesichtsausdruck aufzusetzen oder die Muskeln zu aktivieren, mit denen man eine Faust ballt, beschreiben sie eine klassische Methode der Affektinduktion aus der Körperpsychotherapie, die sie embodied simulation nennen. Die Theorie des Embodied Mind unterstützt den grundsätzlichen Ansatz der Körperpsychotherapie, das menschliche Subjekt als Ganzes in seiner Leiblichkeit, d. h. in all seinen Erlebens- und Lebensbereichen und lebendigen Äußerungsformen zu sehen (Geuter i. Vorb.; Röhricht et al. i. Dr.). Die empirische Embodiment-Forschung liefert eine Evidenz für die Auffassung, dass Kognitionen, Emotionen, körperliche Empfindungen, Haltungen, Bewegungen und motorische Impulse untrennbar miteinander verbunden sind. Dies entspricht dem klinischen Denken der Körperpsychotherapie. Daher zählt eine Auseinandersetzung mit dem Embodiment-Ansatz zu den fruchtbaren Perspektiven theoretischer Arbeit in diesem Feld. Literatur Adams, F. (2010): Embodied cognition. Phenomenology and the Cognitive Sciences 9, 619-628, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ s11097-010-9175-x Aposhyan, S. (2004): Body-mind psychotherapy. Principles, techniques, and practical application. Norton, New York Barsalou, L. W., Niedenthal, P. M., Barbey, A. K., Ruppert, J. A. (2003): Social Embodiement. In: Ross, B. H. (Hrsg.): The psychology of lerning and motivation. Academic Press, Amsterdam, 43-92 Bloom, K. (2006): The embodied self. Movement and psychoanalysis. Karnac, London Bohne, M. (2012): Bitte klopfen! Kommunikation & Seminar 3, 20-23 Briñol, P., Petty, R. E., Wagner, B. (2009): Body posture effects on self-evaluation: A self-validation approach. European Journal of Social Psychology 39, 1053-1064, http: / / dx.doi.org/ 10.1002/ ejsp.607 De Preester, H., Tsakiris, M. (2009): Body-extension versus body-incorporation: Is there a need for a body-model? Phenomenology and the Cognitive Sciences 8, 307-319, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ s11097-009-9121-y Gallagher, S. (2005): How the body shapes the mind. Oxford University Press, New York, http: / / dx.doi. org/ 10.1093/ 0199271941.001.0001 Geuter, U. (i. Vorb.): Körperpsychotherapie. Grundriss einer Theorie für die klinische Praxis. Springer, Heidelberg (erscheint demnächst) Giummarra, M. J., Gibson, S. J., Georgiou-Karistianis, N., Bradshaw, J. L. (2008): Mechanisms underlying embodiment, disembodiment and loss of embodiment. Neuroscience and Biobehavioral Reviews Stichwort: Embodiment 3 | 2014 127 32, 143-160, http: / / dx.doi.org/ 10.1016/ j.neubiorev.2007.07.001 Heiner, B. T. (2008): Guest editor’s introduction. The recorporealization of cognition in phenomenology and cognitive science. Continental Philosophy Review 41, 115-126, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ s11007-008-9076-7 Koch, S. C. (2011): Embodiment: Der Einfluss von Eigenbewegung auf Affekt, Einstellung und Kognition. Logos, Berlin Leuzinger-Bohleber, M., Emde, R. N., Pfeifer, R. (Hrsg.) (2013): Embodiment. Ein innovatives Konzept für Entwicklungsforschung und Psychoanalyse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Leuzinger-Bohleber, M., Pfeifer, R. (2013): Embodiment: Den Körper in der Seele entdecken-- Ein altes Problem und ein revolutionäres Konzept. In: Leuzinger-Bohleber et al. (Hrsg.): Embodiment. Ein innovatives Konzept für Entwicklungsforschung und Psychoanalyse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 14-35 Levine, P. (2011): Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt. Kösel, München Noë, A. (2010): Du bist nicht dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des Bewusstseins. Piper, München Reed, C. L., McIntosh, D. N. (2008): The social dance: On-line body perception in the context of others. In: Klatzky, R. L., Behrmann, M., MacWhinney, B. (Hrsg.): Embodiment, ego-space, and action. Erlbaum, Hillsdale, NJ, 79-111 Röhricht, F., Gallagher, S., Geuter, U., Hutto, D. (i. Dr.): Embodied cognition and body psychotherapy: the construction of new therapeutic environments. Journal of Applied Psychology Storch, M., Cantieni, B., Hüther, G., Tschacher, W. (2006): Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Huber, Bern Thompson, E., Varela, F. J. (2001): Radical embodiment: neural dynamics and consciousness. Trends in Cognitive Sciences 5, 418-425, http: / / dx.doi. org/ 10.1016/ S1364-6613(00)01750-2 Varela, F. J., Thompson, E., Rosch, E. (1992): Der Mittlere Weg der Erkenntnis. Scherz, Bern Winkielman, P., Niedenthal, P. M., Oberman, L. (2008): The embodied emotional mind. In: Semin, G. R., Smith, E. R. (Hrsg.): Embodied Grounding. Cambridge University Press, Cambridge, NY, 263-288, http: / / dx.doi.org/ 10.1017/ CBO9780511805837.012 Der Autor Prof. Dr. Ulfried Geuter Psychologischer Psychotherapeut in freier Praxis in Berlin, Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeut, a. pl. Professor im Masterstudiengang Motologie der Universität Marburg, Studienschwerpunkt Körperpsychotherapie. Lehrtherapeut, Lehranalytiker und Dozent am Institut für Psychotherapie Potsdam, Institut für Psychologische Psychotherapie und Beratung Berlin und Institut für Körperpsychotherapie in Berlin. Frühere Tätigkeiten in der psychologiegeschichtlichen Forschung und als Wissenschaftsjournalist. Zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen. Mitherausgeber von „körper-- tanz-- bewegung“. ✉ Prof. Dr. Ulfried Geuter Otto-von-Wollank-Str. 57 | D-14089 Berlin u.geuter@gmx.de
