eJournals körper tanz bewegung 2/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2014.art05d
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2014
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Unter der Lupe: Körperpsychotherapie und ­Bewegungstherapie

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2014
Gerd Hölter
Ulfried Geuter hat in der vierten Ausgabe (2013) dieser Zeitschrift den dankenswerten Versuch einer Präzisierung des Begriffs Körperpsychotherapie unternommen. Er steht damit in der Kontinuität seiner zahlreichen Veröffentlichungen zur Klärung eines psychotherapeutischen Ansatzes, der im engeren und weiteren Sinne mit Leib, Bewegung und Körper zu tun hat (u. a. 2000, 2006). Die Präzision, mit der dem Begriff Körper nachgespürt wird, einschließlich einer schematischen Begriffsdefinition von Körper-Psycho-Therapie als Kompositum von Psychotherapie und Körpertherapie (2013, 163), erstaunt insofern, da es wissenschaftsgeschichtlich - zumindest in Deutschland - viel eher Begriffe wie Leib und Bewegung waren, die eine Nähe zur psychosomatischen Medizin sowie zur psychotherapeutischen Behandlung hatten.
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27 körper - tanz - bewegung 2. Jg., S. 27-33 (2014) DOI 10.2378 / ktb2014.art05d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Unter der Lupe Körperpsychotherapie und Bewegungstherapie Plädoyer für eine terminologische und inhaltliche Umzentrierung Gerd Hölter U lfried Geuter hat in der vierten Ausgabe (2013) dieser Zeitschrift den dankenswerten Versuch einer Präzisierung des Begriffs Körperpsychotherapie unternommen. Er steht damit in der Kontinuität seiner zahlreichen Veröffentlichungen zur Klärung eines psychotherapeutischen Ansatzes, der im engeren und weiteren Sinne mit Leib, Bewegung und Körper zu tun hat (u. a. 2000, 2006). Die Präzision, mit der dem Begriff Körper nachgespürt wird, einschließlich einer schematischen Begriffsdefinition von Körper-Psycho-Therapie als Kompositum von Psychotherapie und Körpertherapie (2013, 163), erstaunt insofern, da es wissenschaftsgeschichtlich- - zumindest in Deutschland- - viel eher Begriffe wie Leib und Bewegung waren, die eine Nähe zur psychosomatischen Medizin sowie zur psychotherapeutischen Behandlung hatten. So bemerkt u. a. Viktor von Weizsäcker: „Die Hauptsache beim Verhältnis von Leib und Seele besteht nicht darin, dass sie zwei Dinge sind, welche nebeneinander da sind und aufeinander wirken, sondern dass sie einander wechselseitig erläutern.“ (1946, 23) Um die untrennbare Einheit von Körperlichem und Seelischem auszudrücken, wählt er den Begriff des Leibes. Ähnlich Merleau- Ponty, der den „Leib als etwas Drittes sieht, in dem Physiologisches und Geistiges in eins sind: Dem Physischen werden nicht psychische Begleitprozesse oder umgekehrt hinzugefügt, sondern beide Aspekte sind als eins zu denken. Bewegung bezeichnet er als die ‚Realisierungsform des Leiblichen‘. Hiermit verbindet sich die Vorstellung, dass es im Leiblichen so etwas wie ein präreflexives Verstehen und Erfahren gibt, das nicht ohne Weiteres sprachlich vermittelt werden kann. Ein Wissen ‚ohne Sprache‘, ein ‚Embodiment‘ oder ein ‚Embodied Mind‘.“ (Waldenfels 2000, 150) Mit Embodiment nennt Waldenfels einen Begriff, der in der Psychologie aktuell eine Wiederbelebung erfährt, allerdings häufig ohne dass die Nähe zu einer älteren leibphänomenologischen Tradition erkannt oder gesucht wird (Storch et al. 2006; Tschacher / Storch 2010). Bei den Autoren, die im Deutschland der Nachkriegszeit die klinische Verbindung von Psychotherapie und Leib / Körper / Bewegung prägend beeinflusst haben (u. a. Stolze, Blankenburg, Petzold, Fuchs), dominiert als Bezeichnung für das hiermit verbundene therapeutische Verfahren der Begriff Bewegungstherapie. Hierzu zwei Beispiele: Unter Bezug auf Lucie Heyer, die in den 30er Jahren die Anfänge einer „Bewegungstherapie bei neurotischen Erkrankungen“ beschrieb (1931), sucht Stolze als Begründer der Lindauer Psychotherapiewochen in den 50er Jahren einen Weg, die Bewegungstherapie als „medizinische Hilfsmethode“ im psychothe- 28 1 | 2014 Gerd Hölter rapeutischen Sinne hoffähiger zu machen. Bei seinen grundsätzlichen Überlegungen für eine Bezeichnung stellt er schnell fest, dass die Bewegungstherapie als Bezeichnung für eine Form des Verfahrens, so wie er sie verwendet, unzureichend sei, aber er auch die Schwierigkeit erkennt, „so zu formulieren, dass das Ergebnis kein sprachliches Monstrum wird. Insofern liegen nur einstweilig erörtert Bezeichnungen vor: ‚(Körper-)erspürende Bewegungstherapie‘-- ‚erspürte Bewegungstherapie oder Behandlung durch erspürte Bewegung‘- - ‚Konzentrative (oder meditative) Bewegungs- Sinn-Therapie‘- - ‚Bewegungs-Besinnungs- Therapie‘- - ‚Ganzheitliche Bewegungstherapie‘.“ (1958, 16) Es fällt auf, dass Stolze den Begriff „Körper“ bei der Suche nach einer passenden Bezeichnung für die von Elsa Gindler und im Weiteren von Gertrud Heller und Miriam Goldberg in Lindau vermittelte „Spür- und Bewegungsarbeit“ nicht in Erwägung zieht. Auch der Marburger Psychiater und Psychoanalytiker Blankenburg, der u. a. als einer der Ersten in Deutschland einen Beitrag zu Tanz und Schizophrenie veröffentlicht hat (1969), wählt für seine ausführliche Beschreibung der klinischen Anwendung von Leiblichkeit und Bewegung den Begriff Bewegungstherapie (1983). Sein Konzept fußt-- ähnlich wie bei Merleau- Ponty-- auf dem Leib als „Durchformung und Überformung der Körperlichkeit durch höherstufige Prinzipien“. Er weist „über den Körper hinaus, der Gegenstand von Anatomie, Physiologie, Pathologie und Patho-Physiologie ist“, und impliziert als seine Facetten „1. Organisches Leben (‚belebte Körper‘), 2. Seelisches Leben (‚beseelter Leib‘), 3. Geistiges Leben (‚durchgeistigter Leib‘ = Person als Individualität), 4. Soziales Leben (‚sozialisierter Leib‘ = Person als Sozialwesen).“ Blankenburgs Leibbegriff umschließt also nicht nur die naturwissenschaftlich zugängige Basis, „sondern auch die-- bislang noch nicht hinreichend erforschten-- Formprobleme des Organischen und insbesondere die seelische, geistige und soziale Einbindung bzw. Durchdringung der Leiblichkeit des Menschen.“ (Blankenburg / Haltenhof 1993, 35) Uns mögen die „leibphänomenologischen Sprachspiele“ heutzutage vielleicht etwas ungewohnt erscheinen, aber im Kern beschreiben Blankenburg und Haltenhof eben nicht nur eine Differenzierung des Leibbegriffs, sondern sie weisen auf das Problem der Durchformung und Überformung des Organischen hin. Was ist hiermit gemeint? Die vielfältigen Arten und Weisen, sich zu bewegen, bedürfen im Bildungs- und Therapiekontext als Drittes, in dem Physiologisches und Geistiges in eins sind, einer Formung, d. h. einer professionellen Arbeit mit den verschiedenen Bewegungsqualitäten. Dies ist ein zentrales Thema von Ausbildungskonzepten und Forschungsarbeiten, die sich dem Potential der Bewegungstherapie nicht von der Psychotherapie, sondern von der Bewegung her nähern (u. a. Kohler / Kiesel 1972; Wallbott 1982; Hölter 1995; Kestenberg- Amighi et al. 1999; Skjaerven et al. 2008). An dieser Stelle verfolge ich die Spur der Bedeutung von Bewegungsqualitäten in Diagnostik und Therapie nicht weiter, sondern befasse mich im Weiteren näher mit der von Geuter in einer Abbildung einleuchtend skizzierten Definition der Körperpsychotherapie (2013, 163). In ihr werden zwei zunächst unabhängig dargestellte therapeutische Mittel mit jeweils eigenen Theorien und Praxen miteinander verbunden, was durchaus einem modernen integrierten Denken in der Psychotherapie entspricht. Ähnlich hat dies Rümmele für die von ihm favorisierte Bewegungs-Psycho-Therapie (1990) getan. Ich frage mich an dieser Stelle jedoch, ob die „Mittel des Körpers“ in der dargestellten Zweck-Mittel-Relation nicht zu verkürzt und instrumentalisiert gesehen und vorschnell mit den „psychischen Mitteln“ verbunden werden. Körperpsychotherapie und Bewegungstherapie 1 | 2014 29 Das Eigentümliche und Besondere eines Zugangs über Leib und Bewegung- - die ich als Begriffe favorisiere- - sind therapeutische Potentiale, die nicht einer zusätzlichen psychotherapeutischen Anreicherung bedürfen. Eine eigenständige klinisch orientierte Bewegungstherapie lässt sich zumindest durch zwei zentrale Wirkpotentiale beschreiben. Das erste Potential ist die polyvalente Ausdeutbarkeit des Phänomens Bewegung, die sich darin zeigt, dass diese sich für ganz unterschiedliche Zwecke therapeutisch nutzen lässt. Dies kann Psychotherapie sein, wie es Geuter thematisiert, aber auch Trainingstherapie, Psychoedukation, Sporttherapie, Spürarbeit etc. Die wichtigsten Deutungsdimensionen lassen sich dabei unter dem Stichwort der „Mehrperspektivität des Bewegungshandelns“ als physiologisch / motorische, sensible, soziale und symbolische Funktionen zusammenfassen (Funke-Wieneke 2004; Hölter 2011). Das zweite Potential hängt mit der anthropologischen Bedeutung der Bewegung als „elementare Vitalitätsform des Menschen“ (Stern 2011) zusammen. Und hier unterscheiden sich die sogenannten Kreativitätstherapien und auch die Bewegungstherapie von anderen therapeutischen Mitteln: Denn sie haben einen eigenen Gegenstand, der-- und hier bin ich als empirisch orientierter Wissenschaftler vorsichtig- - möglicherweise eine eigene therapeutische Wirkung in sich entfaltet. Rituelle Tänze, die choreografischen Arbeiten von Maldoom, die „Heilenden Kräfte im kindlichen Spiel“, die Zulliger (2007) beschreibt, Meditatives Laufen, die Tanzaufführungen von Marian Chace in der Psychiatrie oder das Ringen um sportliche Leistung und Bewegungsqualität dokumentiert in dem aktuellen Film von Glasow „Mein Weg nach Olympia“ haben eine eigene Würde und Berechtigung. Neben Lebenslust und Freude sind sie in der Lage, auch eine Wirksamkeit im psychotherapeutischen Sinne zu entfalten. Polyvalente Ausdeutung akzentuiert in Hinblick auf - physiologisch-motorische Funktionen - sensible Funktionen - soziale Funktionen - symbolische Funktionen Bewegung Bewegungstherapie Elementare Vitalitätsformen Entfaltung therapeutischer Kräfte durch die Aktivität „an sich“; ähnlich wirksam auch in: - Kunst - Musik - Poesie - Tanz Abb. 1: Quellen und Potentiale der Bewegungstherapie Abbildung: Gerd Hölter 30 1 | 2014 Gerd Hölter Dies hat neben Stern auch Antonovsky in seiner Zusammenstellung von Widerstandsressourcen zur Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit deutlich benannt: Eine der von ihm beschriebenen Ressourcen nennt er „Magie“. Ich glaube, dass Musik, Kunst, Tanz und auch Bewegung tatsächlich eine magische Kraft innewohnt, die bisher nur ansatzweise entschlüsselt worden ist. Dies haben in der Psychotherapieforschung schon Frank und Frank (1961) frühzeitig durch ihre faszinierenden Vergleiche zwischen der Tätigkeit von Schamanen, Heilern und modernen Psychotherapeuten erkannt. Was bedeutet nun dieses zweifache Potential von Bewegung für die therapeutische Anwendung? Es ist zum einen denkbar-- und so schlägt es Geuter vor- - das Behandlungsmittel Körper (und Bewegung, G. H.) mit einem anderen Behandlungsmittel, der Psychotherapie, zu verbinden, was so in den letzten 20 Jahren zunehmend geschehen ist: mit dem Vorteil einer allgemein größeren klinischen Anerkennung und mit dem Nachteil, dass wesentliche Merkmale des Mittels selbst, wie die genannte „Magie“, Gefahr laufen, in Vergessenheit zu geraten. Zum anderen-- und dies ist ein Weg, für den ich plädiere-- verlangt die therapeutische Anwendung von Bewegung, Leiblichkeit und Körper eigene Bewegungskompetenzen, sei es in künstlerischer, sportlicher, rhythmischer oder gymnastischer Hinsicht, sowie auch eigene Wege der Versprachlichung, die ernsthaft nur in einer diesbezüglichen eigenen Ausbildung angeeignet werden können. Wenn es um die Anwendung in psychiatrischen und psychotherapeutischen Kontexten geht, ist es dabei allerdings unverzichtbar, die Grundkonzepte und Mittel anderer Formen der Beeinflussung zu kennen und damit die Fähigkeit zu entwickeln, mit anderen Berufen in einen professionellen Dialog zu treten. Mein Plädoyer ist eine konstruktive Arbeitsteilung von Bewegungs- und Psychotherapie im gegenseitigen Respekt und gemeinsamen Bewusstsein, dass der Mensch letztlich nicht teilbar ist. Für eine solche Arbeitsteilung gibt es in der Geschichte von Psychosomatik und Psychotherapie eine Reihe von gut reflektierten Beispielen. Einer der ersten, der konsequent in der praktischen Behandlung psychischer Erkrankungen körper- und bewegungsorientierte Verfahren angewendet hat, ist Groddeck (1866-1934), einer der Pioniere der Psychosomatischen Medizin. In seinen Überlegungen zum Leib-Seele-Problem und zur psychischen Bedingtheit organischer Erkrankungen konstatiert er, dass man „unter den Bedingungen der Behandlung um des methodischen Angriffspunktes willen durchaus psychisch und somatisch voneinander trennen müsse; die theoretische Unterscheidung sei hingegen eine ‚unerträgliche Anmaßung‘.“ (1933, zit. n. Will 1987) Auch bei den sogenannten „Müttern der Tanztherapie“ wie Marian Chace, Liljan Espenak und Trudi Schoop, aber auch bei Elsa Gindler, Charlotte Selver und Miriam Goldberg findet sich eine deutliche Zentrierung ihrer Arbeit auf Tanz oder „Spürarbeit“. Dies war allerdings mit der Einsicht verbunden, dass man sich Sprache und Konzepte der Psychiatrie und Psychotherapie aneignen müsse, um in diesem Arbeitsfeld kollegial wirken zu können (Hölter 1991, 459). Dies erklärt vielleicht, warum es bis heute in den USA Dance / Movement Therapy (u. a. Lewis-Bernstein 1979) und nicht wie in England Dance Movement Psychotherapy heißt. Ein weiteres Beispiel für ein arbeitsteiliges Vorgehen ist die Behandlungsweise des Psychoanalytikers Tilmann Moser. Trotz seines Plädoyers für eine Verbindung von Psychotherapie und Körperarbeit trennt er deutlich zwischen Behandlung auf der Couch und bewegungs- und körperorientierten Interventionen in einer nahe gelegenen Krankengymnastikpraxis. Dabei hat er die Problematik dieser Zweiteilung erkannt und reflektiert (z. B. die Konsequenzen für den Übertragungsprozess) Körperpsychotherapie und Bewegungstherapie 1 | 2014 31 und sie über einen ständigen professionellen Dialog zu lösen versucht. Als letztes Beispiel weise ich auf eine von mir vor einigen Jahren mitverantwortete empirische Untersuchung in einer bekannten Psychosomatischen Klinik (Gelderland-Klinik, Leitung: G. Paar) hin (Hölter et al. 2004). Dabei ging es u. a. um die Evaluation einer miteinander thematisch verbundenen, aber personell und räumlich getrennten Intervention durch Gruppenpsychotherapie und Bewegungstherapie, die jeweils dreimal die Woche stattfand. Zwischen den TherapeutInnen fand ein intensiver thematischer Austausch statt, wobei Themen wie z. B. Nähe / Distanz, Macht/ Ohnmacht etc. jeweils nach den „Regeln der eigenen Kunst“ bearbeitet wurden. Die Unterschiede zeigten sich dabei nicht an der Trennungslinie von z. B. verbal/ nonverbal, sondern in der Orientierung an unterschiedlichen theoretischen und praktischen Referenzsystemen. Bevor ich zum Fazit komme, noch eine zusätzliche Anmerkung. Bis jetzt sind in Deutschland im klinischen Bereich Stellenangebote mit der Denomination Körperpsychotherapie äußerst rar. Nach bundesweit erhobenen empirischen Daten in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken sowie in Einrichtungen der Suchtbehandlung (sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche) ist der Grundberuf der meisten im Bewegungsbereich tätigen MitarbeiterInnen ein bewegungsbezogener- - sei es PhysiotherapeutIn, Sport- oder GymnastiklehrerIn oder verwandte Berufe (u. a. Welsche et al. 2005). Dabei haben die dort tätigen Fachpersonen häufig zusätzlich eine Weiterbildung in unterschiedlichen körperpsychotherapeutischen Verfahren oder in Tanz-, Bewegungs- und Sporttherapie absolviert. Eine sinnvolle Arbeitsteilung für unterschiedliche therapeutische Verfahren ist demnach in Deutschland strukturell vorgegeben, womit noch nichts über ihre unterschiedliche Wertigkeit im meist hierarchisch gegliederten Klinikalltag gesagt ist. Fazit Ulfried Geuters Forumsbeitrag hat bei mir die spontane Reaktion ausgelöst, mich noch einmal näher mit der Besonderheit und Eigenständigkeit eines Zugangs zum Menschen zu befassen, in dessen Mittelpunkt sein Körper, sein Leib und seine Bewegung steht. Dieser Zugang ist allerdings als therapeutisches Mittel m. E. nur unzureichend beschrieben. Leiblichkeit und Bewegung sind mehr: Sie sind entwicklungspsychologisch elementarer als die Sprache; darüber hinaus sind sie in vielen Kulturen eine eigenständige Vitalitätsform mit hedonistischen und Ausdrucksqualitäten, die ohne Deutung ein großes bildendes und therapeutisches Potential in sich bergen. Zur Entfaltung dieses Potentials ist eine Auseinandersetzung mit der Bewegungsqualität, ein Ringen um eine „Formung des Organischen“ (Blankenburg), unabdingbar. Für die weitere Entwicklung von verschiedenen Therapien in der Behandlung psychischer Erkrankungen wie u. a. die Bewegungs- und die Psychotherapie wünsche ich mir eine fruchtbare Arbeitsteilung und einen konstruktiven Dialog zwischen den in ihrer Entwicklung, ihren Theorien und Methoden unterschiedlichen Konzepten und Praxen. Literatur Blankenburg, W. (1983): Grundlagen für die Bewegungstherapie in der Psychiatrie. In: Cotta, H. (Hrsg.): Krankengymnastik-- Taschenlehrbuch (Vol.-10). Thieme, Stuttgart, 1-58 Blankenburg, W. (1969): Tanz in der Therapie Schizophrener. In: Psychotherapy and Psychosomatics 17, 336-342 Blankenburg, W., Haltenhof, H. (1993): Leibphänomenologische Grundlagen für die Bewegungstherapie. In: Hölter, G. (Hrsg.): Mototherapie mit Erwachsenen. Hofmann, Schorndorf, 34-42 Frank, J. D., Frank, J. (1961): Persuasion and healing (dt. 1981: Die Heiler. Wirkungsweisen psychothera- 32 1 | 2014 Gerd Hölter peutischer Beeinflussung. Vom Schamanismus bis zu den modernen Therapien). Johns Hopkins University Press, Baltimore Fuchs, T. (2000): Leib-Raum-Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Klett-Cotta, Stuttgart Funke-Wieneke, J. (2004): Bewegungs- und Sportpädagogik. Schneider Hohengehren, Baltmannsweiler Geuter, U. (2013): Körperpsychotherapie und Körpertherapie. Versuch einer Definition. körper-- tanz-- bewegung 1 (4), 161-168 Geuter, U. (2006): Körperpsychotherapie. Der körperbezogene Ansatz im neueren wissenschaftlichen Diskurs der Psychotherapie. Psychotherapeutenjournal 5 (2 / 3), 116-122 und 258-264 Geuter, U. (2000): Wege zum Körper. Zur Geschichte und Theorie des körperbezogenen Ansatzes in der Psychotherapie. Krankengymnastik-- Zeitschrift für Physiotherapeuten 52, 1175-1183 und 1346-1351 Heyer, L. (1931): Gymnastik bei Neurosen und Psychosen. In: Kretschmer, E. (Hrsg.): Bericht über den VI. Allgemeinen Ärztlichen Kongreß für Psychotherapie in Dresden: 14. bis 17. Mai 1931. 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Klotz, Eschborn Körperpsychotherapie und Bewegungstherapie 1 | 2014 33 Der Autor Prof. Dr. Gerd Hölter Philologe (Leibeserziehung / Romanistik). 1983-1984 Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an der Loyola-Marymount University in Los Angeles im ADTA MA-Studiengang Dance / Movement Therapy. 1984-2011 zunächst Professor im Aufbaustudiengang Motologie an der Philipps-Universität Marburg und anschließend Professor für Bewegungserziehung und Bewegungstherapie in der Rehabilitation an der Universität Dortmund. Als approbierter Psychotherapeut leitete er dort auch das Fakultätszentrum für Beratung und Therapie. Zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen zu Konzepten und zur Evaluation von bewegungsorientierten Interventionen bei unterschiedlichen Patientengruppen. Mitherausgeber bzw. im Wissenschaftlichen Beirat von mehreren Fachzeitschriften, u. a. bei „Body Movement and Dance in Psychotherapy“ und „körper-- tanz-- bewegung“. ✉ Prof. Dr. Gerd Hölter Bergkreuzweg 7 | D-53332 Bornheim gerd.hoelter@tu-dortmund.de