körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2014.art18d
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‚Tanz die Resonanz‘
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Ursula Löwe
In der Tanztherapie wird Musik zur Anregung von Bewegung und Verstärkung von Stimmungen eingesetzt. Eine methodische, über die funktionale Bedeutung der Musik hinausreichende Reflektion wird selten geleistet. Die Medien Musik und Tanz sind in hohem Maße synergetisch. Eine differenzierte Auswahl und Gestaltung mit musikalischen Elementen und deren spezifischen Erlebnisqualitäten erweitern die Interventionsmöglichkeiten in der Tanztherapie. Das hier vorgestellte Praxisbeispiel „Tanz die Resonanz“ nutzt die besonderen Qualitäten der Renaissancemusik. Der Ansatz betont die Aufrichtung, unterstützt das bewusste Gehen und Schreiten und wird zur Ressourcenstärkung eingesetzt.
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109 körper - tanz - bewegung 2. Jg., S. 109-116 (2014) DOI 10.2378 / ktb2014.art18d © Ernst Reinhardt Verlag Fachbeitrag „Tanz die Resonanz“ Zur Bedeutung von Musik in der Tanztherapie am Beispiel Renaissancemusik Ursula Löwe In der Tanztherapie wird Musik zur Anregung von Bewegung und Verstärkung von Stimmungen eingesetzt. Eine methodische, über die funktionale Bedeutung der Musik hinausreichende Reflektion wird selten geleistet. Die Medien Musik und Tanz sind in hohem Maße synergetisch. Eine differenzierte Auswahl und Gestaltung mit musikalischen Elementen und deren spezifischen Erlebnisqualitäten erweitern die Interventionsmöglichkeiten in der Tanztherapie. Das hier vorgestellte Praxisbeispiel „Tanz die Resonanz“ nutzt die besonderen Qualitäten der Renaissancemusik. Der Ansatz betont die Aufrichtung, unterstützt das bewusste Gehen und Schreiten und wird zur Ressourcenstärkung eingesetzt. Schlüsselbegriffe Tanztherapie, Musiktherapie, künstlerisch-kreative Medien, Aufrichtung, Ressourcenstärkung, therapeutische Intervention “Dance the Resonance”. On the Use of Music in Dance Therapy with Renaissance Music In dance therapy music is used to stimulate movement and amplify moods. A methodological reflection on the effect of music beyond a purely functional perspective is rarely done. The media of music and dance are highly synergistic. The scope of dance therapeutic interventions is broadened by the differentiated selection and composition of musical elements and their specific qualities. The presented practical example “dance the resonance” takes advantage of the special qualities of Renaissance music. The approach emphasizes straightening and uplifting in alignment, supports mindful walking, striding and standing upright and is used therapeutically for strengthening resources. Key words dance therapy, music therapy, artistic creative media, straightening and mindful walking, strengthening of resources, therapeutic interventions A us anthropologischer Perspektive sind Tanz und Musik kaum voneinander zu trennen, und es ist davon auszugehen, dass Singen, Percussion, Tanzen, wie auch Malerei elementare Bestandteile von Gemeinschaftsritualen- - möglicherweise bereits bei den Neandertalern- - waren (Mithen 2006). Traditionelle Gesellschaften erlebten und erleben sowohl Tanz als auch Musik ritualisiert im Zusammenhang mit wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen wie Geburt, Initiation, Heirat, Tod und Neubeginn. „Tanzri- 110 3 | 2014 Ursula Löwe tuale werden von der Gemeinschaft getragen und finden in einem klar definierten Rahmen statt, der durch Bewegungsabfolgen, Struktur, Rhythmus und begleitende Instrumente und Gesänge festgelegt ist.“(Hitzeler 2012, 77) In der therapeutischen Welt trennen wir zwischen Tanz- und Musiktherapie, doch verbinden diese künstlerisch-kreativtherapeutischen Disziplinen gemeinsame Anliegen und Arbeitsweisen (Stegemann et al. 2012; Jansen- Osmann 2008; Heimes 2010; Baer / Frick-Baer 2009a). Mit Hilfe künstlerischer Medien wie Tanz und Musik wird „der Erfahrungsraum zum individuellen Erkenntnisraum, zum symbolischen Explorationsraum, in dem Probehandeln möglich ist. Er wird zum Begegnungsraum für Menschen, die sich persönlich wie künstlerisch in Beziehung setzen und bei jedem Aufeinandertreffen Neues gestalten“ (Heimes 2010, 44). Im therapeutischen Prozess kommt es oft zum gemeinsamen Einsatz mehrerer künstlerischer Medien. Gerade der vielfältige Einsatz verschiedener Medien kann im Hinblick auf die Individualität jedes Menschen und mit der Perspektive, eine Veränderung der Lebensmuster zu bewirken, von zentraler Bedeutung sein (Baer / Frick-Baer 2009a). Musik in der Tanztherapie In der Praxis der Tanztherapie wird Musik selbstverständlich verwendet, und nur wenige tanztherapeutische Methoden, wie z. B. die Authentische Bewegung, verzichten gänzlich darauf. „In der Tanztherapie dient die ausgewählte Musik der Unterstützung oder Stimulierung von Bewegungen. Der Aufforderungscharakter der Musik soll die Klienten animieren, dem eigenen Inneren und den Musikimpulsen körperlichen Ausdruck zu geben (…) Die unterstützende Wirkung der Musik ist beispielsweise beim Ausdruck spezifischer Stimmungen von Bedeutung, z. B. Aggression für bestimmte Themen.“ (Klein 2007, 146) Werden wir damit der Bedeutung der Musik im tanztherapeutischen Prozess gerecht? Evident ist, dass TherapeutInnen für ihre Arbeit mit den KlientInnen sehr differenzierte musikalische Angebote brauchen. „Wichtig ist, welche Musik halte ich für welche Stimmungen für geeignet? Welche Musik öffnet nach meinem Erleben für welche Stimmung? (…) Und dann braucht es Intuition und Resonanzbereitschaft im Umgang mit den KlientInnen, um genau zu entscheiden, was passt.“ (Baer / Frick-Baer 2009b, 57) Why Music Matters Fe Reichelt zeigt die intensive Komplementarität der Medien Tanz und Musik auf: „Der Körper nimmt die Musik auf, wie ein Schwamm Wasser aufnimmt. So geschieht gewissermaßen eine Musikaufnahme und Reflexion durch den Körper. Die Musik bewegt den Körper, dieser stellt gewissermaßen die gehörten Stimmen dar. Eigene Möglichkeiten können ausprobiert werden, beispielsweise aktiv nach der Musik zu tanzen (wie gewohnt). Durch die Hingabe an das Gehörte ändert sich der Tanz in das passive Bewegt-Werden. Und schließlich: durch das Gehörte (die Klänge dringen durch das Ohr in den Körper) strömt der Klang / Ton aus den verschiedenen Körperzonen hinaus. Es ist so, als wenn aus dem bewegten Körper die Töne, die Stimmen entströmten. Dadurch entsteht eine absichtslosausdrucksstarke Bewegung durch die Musik (als sei die Musik im Körper entstanden). Es kann zeitweise aus der Vielfalt der gehörten Stimmen eine ausgewählt und verkörpert werden. So wie viele verschiedene Stimmen gleichzeitig im Raum zu hören sind, ist auch die Bewegung eine vielfach verkörperte.“ (Reichelt 2005, 61) Reichelt betont die individuelle Autonomie im Umgang mit der Musik und nennt dieses Geschehen „Reflexion durch den Körper“. Der 3 | 2014 111 „Tanz die Resonanz“ am Beispiel Renaissancemusik Mensch verkörpert die Musik, oder die Musik verkörpert sich im Menschen. Neue Dimensionen der Erfahrung des Selbst können sich eröffnen (Baer/ Frick-Baer 2009b; Mössler 2014). Wissenschaftliche Literatur zu den spezifischen Wirkfaktoren von Musik im tanztherapeutischen Prozess lässt sich kaum finden. Bezugnehmend auf die Musiktherapie gibt es nach Mössler (2014) auch wenig Evidenz darüber, welche Faktoren den musiktherapeutischen Prozess wirkungsvoll machen. Mössler führt aus, dass bedeutungsvolle Momente oft musikalische Momente sind und dass musiktherapeutische Wirkstudien gezeigt haben, dass Musiktherapie als Verfahren an sich effektiv ist. „Orientieren wir uns an den Ergebnissen der Psychotherapieforschung, so sind es vor allem die unspezifischen Wirkfaktoren, die einen Therapieprozess wirksam werden lassen.“ (Mössler 2014, 104) Die Wirkung des jeweiligen Mediums im therapeutischen Prozess ist verbunden mit dem individuellen Erleben (Baer / Frick-Baer 2009a), dies wiederum mit den biografischen und kulturellen Vorstellungen des Patienten (Stegemann 2012). Erlebnisqualitäten Zum besseren Verständnis von Musik, Tanz und Erleben entwickelten Baer / Frick-Baer (2009b, 165 ff ) das Konzept der Erlebnisqualitäten von Musik: ● Musik wirkt leiblich: Jede leibliche Regung kann durch Musizieren und Musikhören verstärkt werden. ● Musik bewegt: Die Intensität des Körper- Selbst kann verstärkt werden; Gefühle werden berührt, Bilder, Stimmungen, Atmosphären geschaffen. ● Musik intensiviert Gefühle: Musik kann das emotionale Empfinden verändern, auch widersprüchliche Gefühle können auftauchen. ● Musik erinnert: Das Gedächtnis des Erlebens kann durch Musik aktiviert und dadurch eine Brücke zwischen dem Heute und der Vergangenheit hergestellt werden. ● Musik führt weg: Musik kann eine Flucht sein, aber auch Ersehntes spürbarer machen. ● Musik transzendiert und kann Wege zum spirituellen Erleben eröffnen. ● Musik verbindet: Gemeinsam Musik zu hören, schafft einen gemeinsamen Raum des Erlebens und Möglichkeiten der Identifikation und Gruppenzugehörigkeit. ● Musik ist machtvoll: Musik kann verändern und z. B. im politischen Kontext befreiend wie auch verführend, manipulierend und verletzend eingesetzt werden. Die Autoren schließen: „All dies fordert von denen, die Musizieren und Musikhören in der Arbeit mit Menschen einsetzen, ein Wissen um die Macht der Musik und eine besondere Verantwortlichkeit im Umgang damit.“ (Baer / Frick-Baer 2009b, 178) Mein Anliegen ist es, auf die Bedeutung der Musik im tanztherapeutischen Prozess aufmerksam zu machen- - ein meiner Meinung nach wenig reflektiertes Thema in der Tanztherapie- - und Anregungen zur weiteren Forschung und Gestaltung zu geben. Musikauswahl und Gestaltung Im alltäglichen tanztherapeutischen Setting erfolgt die Musikauswahl, die Entscheidung über den Einsatz und die Frequenz der Musik zumeist durch die TherapeutIn. Die Verschiedenheit musikalischer Richtungen ist therapeutisch nutzbar mit Bezug auf spezifische psychologische Fragestellungen (beispielsweise wird afrikanische Trommelmusik oft mit Themen wie Erdung verbunden). Jedoch ist auch hier die individuelle Stimmigkeit einer Musik in einem therapeutischen Prozess zu überprüfen. Die Idee, dass eine bestimmte Art von Musik auf alle Menschen gleichermaßen wirkt, zerbricht an der Realität, in der es sowohl kulturelle als auch individuelle musikalische Prägungen gibt (Tucek 2014). Dennoch können spezifische Musikarten (bzw. Musik- 112 3 | 2014 Ursula Löwe stücke) spezifische Erlebnisqualitäten unterstützen, die als Grundlage für die therapeutische Arbeit mit Musik genutzt werden können (Baer / Frick-Baer 2009a; Klein 2007). Gesungene Texte transportieren verbale Botschaften, die durch Rhythmus und Klang intuitiv verstärkt werden, und sind dementsprechend nur sehr bewusst und dosiert einzusetzen. Ikonische Melodien und Lieder sollten eher vermieden werden, es sei denn, ein bestimmtes Lebensgefühl soll im Interesse des therapeutischen Prozesses hervorgerufen werden (wie zum Beispiel Hymnen der Rock- Ära). In der Praxis der TherapeutIn ist die Erarbeitung einer eigenen individuellen Musiksammlung im Sinne einer „musiktherapeutischen Hausapotheke“ sinnvoll. Gemeinsames musikalisches Gestalten mit KlientInnen Der Prozess der Musikauswahl kann auch gemeinsam gestaltet werden. So gibt es die Möglichkeit, KlientInnen einzuladen, eigene Musikstücke einzubringen. Im weiteren Verlauf können musikalische Bezüge zur Biografie für den therapeutischen Prozess nutzbar gemacht werden. „Biografisch werden Schlüsselerlebnisse oftmals mit Musik verknüpft, was die Erinnerung an den musikalischen Reiz kodiert. Auf diese Weise wird biografisch bedeutsame Musik oft zum Schlüssel für den Zugang zur Erinnerung früherer Erlebnisse.“ (Tucek 2014, 137) Eine andere Option ist es, KlientInnen zum aktiven Musizieren anzuregen (tönen, singen, improvisieren oder Lieder einbringen). Im musikalischen Ausdruck mit der Stimme und ihrem Klang kann ein weiterer leiblicher Zugang zum Erleben eröffnet werden. „Jede Stimmung beeinflusst meine Stimme. Mit meiner Stimme kann ich Stimmungen erzeugen (…) Die Arbeit an der eigenen Stimme soll dazu verhelfen, das Besondere, das Eigene erklingen zu lassen, das bei vielen Menschen verstummt ist, weil es zu wenig gehört, bzw. unterdrückt wurde.“ (Baer / Frick-Baer 2009a, 36) Zur vertiefenden Wahrnehmung können auch bewusst Stille und der Raumklang als akustische Medien verwendet werden. Tanztherapeutisches Angebot mit Renaissancemusik zur Ich- und Ressourcenstärkung Im Folgenden möchte ich das Praxisprojekt „Tanz die Resonanz“ aus eigener Forschung vorstellen, in dem die spezifischen Qualitäten der Renaissancemusik für den tanztherapeutischen Prozess eingesetzt und nutzbar gemacht werden. Die Renaissance (etwa 15. / 16. Jahrhundert) war ein Zeitalter der Veränderung. Der Mensch der Renaissance wurde sich seiner Freiheit und seiner schöpferischen Möglichkeiten bewusst, entdeckte die Qualitäten des Individuums. Mit dem Humanismus verband sich Diesseitsfreude und ein neues Denken, das auf Vernunft und Erfahrung basierte. Der gesellschaftliche Aufbruch spiegelte sich auch in der Musik wieder. War diese im Mittelalter primär auf das Lob Gottes ausgerichtet, so erweiterte sie sich jetzt auch zum Medium geselliger Unterhaltung. Neben der Kirchenmusik entwickelte sich eine Vielfalt höfischer Musik, weltlicher Vokal- und Instrumentalmusik wie auch Volksmusik. An verschiedensten Orten Europas entstand die Polyphonie (Mehrstimmigkeit). Die Melodik wurde freier, es gab keine dominanten Stimmen. Formenstrenge und freie Wechsel des Rhythmus ließen Neues entstehen (Morbach 2009). Von großer Bedeutung waren nun auch neue Themen: die Intensität elementarer Gefühle von Liebe und Verlust, Tod und Vergänglichkeit, aber auch insbesondere der emanzipatorische Anspruch des Menschen, Verantwortung für das Dasein im Hier und Jetzt zu übernehmen. Es gab 3 | 2014 113 „Tanz die Resonanz“ am Beispiel Renaissancemusik eine neue Freiheit des Ausdrucks, gleichzeitig wurde der Ruhe und Ausgewogenheit größte Bedeutung beigemessen. Rezeption und spezifische Erlebnisqualitäten von Renaissancemusik heute Alte Musik ist derzeit Kult: Das boomende Interesse an Alter Musik manifestiert sich in zahlreichen Festivals, die eine immer breitere Öffentlichkeit erreichen. Was ist für uns heute das Besondere an Renaissancemusik? Im Rahmen meiner Forschungstätigkeit habe ich KlientInnen befragt, welche Empfindungen diese Musik bei ihnen auslöst. Eine Trainerin aus der Erwachsenenbildung, 46 Jahre, beschreibt ihre Wahrnehmung: „Für mich öffnet die Renaissancemusik Räume und Möglichkeiten. Ich spüre, dass die Musik aus einer Zeit kommt, die nach Öffnung strebt. Ich spüre Hauch und Atem, eine durchscheinende Struktur. Die Struktur bildet einen Rahmen, sie zeigt Wege auf. Diese Musik eröffnet nicht den Weg in die Beliebigkeit, sondern zeigt eine Spur auf im positiven Sinne. Ich spüre Freiheit und Struktur.“ Eine Lehrerin, 57 Jahre, betont: „Renaissancemusik wirkt insgesamt harmonisierend auf mich. Wenn ich Verspannungen habe, spüre ich diese bewusster und kann mich an eine Lösung herantasten. Die Zellen richten sich auf Harmonisierung ein. Es ist wie eine warme Decke. Die Musik gibt mir Ideen, ich kann den Bewegungsimpulsen nachgehen, mich ausdrücken. Ich weiß noch nicht, wo es hinführt, aber ich gehe.“ Eine Sozialarbeiterin, 52 Jahre teilt mit: „Es ist wunderbar, sich auf diese Musik zu bewegen und in einer Art innerer Andacht Teil davon zu werden. Ich fühle beschwingte Leichtigkeit und Zutrauen-- ich kann mich öffnen.“ Ein Informatiker, 34 Jahre, äußert sich wie folgt: „Die Wirkung ist zentrierend und gleichzeitig erweiternd. Aufrichtend, Aufbruchsstimmung.“ Fokus Aufrichtung, Gehen und Schreiten Renaissancemusik lädt ein zum Gehen und Schreiten. Viele Tänze der Zeit wie Pavane und Gaillarde waren Schreittänze. Basse Dance war ein Prozessionstanz mit würdevollen, zeremoniellen Bewegungen, strebend nach Klarheit und Linearität des Ausdrucks- - nach stolzer Aufrichtung (Morbach 2009). Auch heute hat diese Musik eine suggestive Kraft, die den Bewegungsausdruck zur Aufrichtung unterstützt. Die Nutzung dieser spezifischen Qualitäten des Stehens und Gehens in spielerisch-tänzerischer Erfahrung erlaubt KlientInnen, sich auf die Wahrnehmung des Selbst zu fokussieren. Höhmann-Kost führt aus, dass die leibtherapeutische Arbeit am Stand stützende und Ichstärkende Möglichkeiten bietet: „In der senkrechten Haltung kann ich bewusst erleben: Abb. 1: Gewahrsein in der Aufrichtung Foto: Ida Kielmansegg 114 3 | 2014 Ursula Löwe Dies ist mein Platz, kein anderer Mensch auf der Welt nimmt ihn ein. Ich stehe auf meinen eigenen zwei Beinen, ich habe die Kraft, aufrecht dazustehen.“ (Höhmann-Kost 2002, 100) Eine Vielzahl tanztherapeutischer Themen zur Stärkung des Selbst sind mit der Aufrichtung und dem Gehen verbunden: Richtung finden, Kontinuität, Klarheit, Stolz, Gewichts- und Raumwahrnehmung, Selbstrepräsentanz in der Vertikalen und Sagittalen sowie der Umgang mit Zeit und Gleichgewicht. Lilian Espenak erfasst die Bedeutung des Gangs als zentrales Ausdruckselement des Menschen, das seinen Charakter wiederspiegelt (zitiert nach Bertolaso 2009). Bertolaso (2009) arbeitet mit dem handlungsaktivierenden Potential der Pavane aus der Renaissancemusik. Die therapeutisch gehaltvollen Schritte und Schrittkombinationen seien prädestiniert, um auf künstlerische und non-verbale Art das Medium „Gehen“ in musikalisch-tänzerisch sublimierter Form einzusetzen. Bertolaso erachtet dabei das Erlernen und die Einhaltung der Choreografie gemäß den klassischen Schritten als unerlässlich. Umsetzung Mit meinem Konzept „Tanz die Resonanz“ mit Renaissancemusik versuche ich, aufbauend auf der schöpferischen freien Bewegungsentfaltung andere Wege zu gehen. Die Idee hat sich aus meiner Liebe zu Alter Musik, meiner langjährigen Erfahrung als Querflötenspielerin mit klassischer Kammermusik und meiner tanzpädagogischen / therapeutischen Erfahrung entwickelt. Ich forsche und arbeite seit 2010 in eigener Praxis im Gruppen- und Einzelsetting mit Renaissancemusik. „Was ich heute Abend erfahren habe-- das ist Lebendigkeit und Ruhe = Orientierung.“ Feedback Patientin F. Zentrales Element des Konzeptes ist hörende Achtsamkeit: empathisches Hören, Ruhe und Bewusstwerdung in einer liegenden Position. Zu Beginn der Sitzung geht es um die Wahrnehmung der Musik im Körper und den damit verbundenen Emotionen. Im weiteren Prozess wird ein Entwicklungsweg vom Boden oder aus der mittleren Ebene in die Aufrichtung gestaltet, in den Stand und die Vertikale akzentuierend. Polare Antriebe können erfahren werden: Ruhe und Bewegtheit, direkter und Abb. 2: Angebot „Tanz die Resonanz“ Grafik: Alexandra della Toffola unter Verwendung eines Gemäldes von Orazio Gentileschi 3 | 2014 115 indirekter Raumfokus, Spannungsfluss gebunden und ungebunden. Der Ebenen-Wechsel erlaubt neue Wahrnehmungsperspektiven. Integriert sind Übungen zur Bewusstwerdung im Stehen, Gehen und Schreiten und im freien Tanz. Ziel ist es, neben der Stärkung des Selbst Spielräume zu erkennen und zu erweitern. Intuitiv wird der schreitende Charakter der Musik individuell aufgenommen und mit dem persönlichen Bewegungsbedürfnis verbunden. Die Erarbeitung einer Choreografie ist meines Erachtens nicht notwendig. In meiner Arbeit steht der kreative individuelle Ausdruck des Menschen im Mittelpunkt. Die Musik der Renaissance bietet eine Vielfalt von Rhythmen: neben der schreitenden Pavane (4er- oder 3er Takt) finden wir Springrhythmen in Gaillarden und Couranten (6/ 4 oder 6/ 8), elegische Lieder mit überraschenden Taktwechseln und nicht zuletzt die pulsierende Tarantellen-Musik mit Gesang und Schlaginstrumenten, wobei z. B. das Tamburin zu alternierenden Triolen einen Zweierrhythmus, mal schneller, mal langsamer, spielt- - eine traditionelle Drehtanz- und Trancemusik. Ausgehend von diesen musikalischen Impulsen können folgende persönliche Themen bearbeitet werden: Wege gehen und wieder verlassen, Klarheit, Altes und Neues, Fokussierung und Auflösung der Spannung, Balance und Präsenz im Hier und Jetzt. Psychologische Fragestellungen tauchen auf: Wie viel Struktur brauche ich? Welchen Weg will ich gehen? Wie ist meine Ausrichtung? Meine Erfahrungen aus eigener Praxis zeigen, dass dieser Ansatz positiv aufgenommen und therapeutisch zur Ressourcenstärkung und im Weiteren zur Stärkung des Selbst erfolgreich eingesetzt werden kann. Voraussetzung ist, dass Renaissancemusik individuell berührt und die KlientInnen damit in Resonanz zu eigenen Themen kommen. „Das ist Medizin, raus aus dem Hamsterrad und bei mir sein … endlich.“ Feedback Patientin H. Fazit Das Potential der Anwendung von Renaissancemusik in der Tanztherapie liegt in der Vielfalt der Erlebnisqualitäten und in der Balance zwischen Freiheit und Struktur. Übungen Abb. 3: Balance und Präsenz Foto: Ida Kielmansegg „Tanz die Resonanz“ am Beispiel Renaissancemusik 116 3 | 2014 Ursula Löwe Die Autorin Mag. Ursula Löwe Tanz- und Ausdruckstherapeutin in eigener Praxis, integrale Tanzpädagogin, Anthropologin, Trainerin und Moderatorin, systemische Supervisorin, Gastlektorin Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien. ✉ Mag. Ursula Löwe Klosterneuburgerstr. 60 / 42 | A-1200 Wien Tel. (0043)-(0) 650 4809 165 loewe@tanzklang.at www.tanzklang.at des bewussten Gehens verhelfen zum Ausdruck und zur Entfaltung der eigenen Ressourcen. Im Mittelpunkt meines Angebotes stehen daher die Aufrichtung und der Gang als symbolische Erfahrung beim Beschreiten des eigenen Weges. „Music matters“ in der Tanztherapie- - mit diesem Artikel möchte ich TanztherapeutInnen dazu einladen, Musik in ihrer täglichen Arbeit bewusster zu nutzen. Sicher besteht in diesem Themenbereich noch weiterer Forschungsbedarf, und ich würde mich freuen, mit interessierten KollegInnen in Austausch zu treten. Literatur Baer, U., Frick-Baer, G. (2009a): Klingen, um in sich zu wohnen. Methoden und Modelle leiborientierter Musiktherapie (Teil 1). Affenkönig, Neukirchen Baer, U., Frick-Baer, G. (2009b): Klingen, um in sich zu wohnen. Methoden und Modelle leiborientierter Musiktherapie (Teil 2). Affenkönig, Neukirchen Bertolaso, Y. (2009): Resilienz in Pädagogik und künstlerischer Tanztherapie. Begriffsklärung und Praxis. Pabst Science, Lengerich Heimes, S. (2010): Künstlerische Therapien. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Hitzeler, M. (2012): Tanztherapie. In: Stegemann, T., Hitzeler, M., Blotevogel, M. (Hrsg.): Künstlerische Therapien mit Kindern und Jugendlichen. Ernst Reinhardt, München / Basel, 76-104 Höhmann-Kost, A. (2002): Bewegung ist Leben-- Integrative Leib- und Bewegungstherapie-- eine Einführung. Huber, Bern Jansen-Osmann, P. (2008): Die künstlerischen Therapien im Zeitalter der Neurowissenschaften. Musik-, Tanz- und Kunsttherapie 19, 1-10, http: / / dx.doi. org/ 10.1026/ 0933-6885.19.1.1 Klein, P. (2007): Tanztherapie-- Ein Weg zum ganzheitlichen Sein. Dieter Balsies, Kiel Mithen, S. (2006): The singing Neanderthals. Harvard University Press, Cambridge, USA Mössler, K. (2014): Spezifische und unspezifische Wirkfaktoren in der Musiktherapie. In: Stegemann,-T., Fitzthum, E. (Hrsg): Wiener Ringvorlesung Musiktherapie. Grundlagen und Anwendungsfelder der Musiktherapie-- ein Kurzlehrbuch. Preasens, Wien, 97-111 Morbach, B. (2009): Die Musikwelt der Renaissance, Bärenreiter, Kassel Reichelt, F. (2005): Tanz der Wandlungen. Brandes und Apsel, Frankfurt / M. Stegemann, T., Hitzeler, M., Blotevogel, M. (2012): Künstlerische Therapien mit Kindern und Jugendlichen. Ernst Reinhardt, München / Basel Tucek, G. (2014): Der Wandel von einer Altorientalischen Musiktherapie über die Ethnomusiktherapie hin zum „Kremser Studienkonzept“. In: Stegemann, T., Fitzthum, E. (Hrsg): Wiener Ringvorlesung Musiktherapie. Grundlagen und Anwendungsfelder der Musiktherapie-- ein Kurzlehrbuch. Preasens, Wien, 131-145
