körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2014.art19d
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Aus der Praxis: Traumatherapie - Ground Zero betreten
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Karin Wild
Wie hilft der ressourcen-lösungsorientierte, systemische Ansatz traumatisierten PatientInnen, sich trotz Furcht und Misstrauen auf einen intensiven Prozess im stationären Rahmen zur Bearbeitung traumatischer Erlebnisse einzulassen? Im schweizerischen Winterthur setzen TraumatherapeutInnen der ipw Integrierte Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland seit zwei Jahren auf Psychoedukation im Gruppensetting zur Vorbereitung auf einen Therapieprozess. Ein Arzt, eine Psychologin, ein Pflegefachmann und eine Bewegungstherapeutin der Spezialstation für Traumafolgestörungen vermitteln PatientInnen bereits vor Klinikeintritt, wie therapeutisch mit Traumafolgestörungen umgegangen werden kann.
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117 körper-- tanz-- bewegung 2. Jg., S. 117-124 (2014) DOI 10.2378 / ktb2014.art19d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Aus der Praxis Traumatherapie-- Ground Zero betreten Wege zur Abgrenzung zwischen Körpererinnerung und körperlichen Ressourcen Karin Wild Wie hilft der ressourcen-lösungsorientierte, systemische Ansatz traumatisierten PatientInnen, sich trotz Furcht und Misstrauen auf einen intensiven Prozess im stationären Rahmen zur Bearbeitung traumatischer Erlebnisse einzulassen? Im schweizerischen Winterthur setzen TraumatherapeutInnen der ipw Integrierte Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland seit zwei Jahren auf Psychoedukation im Gruppensetting zur Vorbereitung auf einen Therapieprozess. Ein Arzt, eine Psychologin, ein Pflegefachmann und eine Bewegungstherapeutin der Spezialstation für Traumafolgestörungen vermitteln PatientInnen bereits vor Klinikeintritt, wie therapeutisch mit Traumafolgestörungen umgegangen werden kann. Schlüsselbegriffe Traumafolgestörungen, Tanz- und Bewegungstherapie, Therapie-Vorbereitung, Abstrahiertes Körperbild, Ressourcen auf Körperebene Trauma therapy-- Entering Ground Zero. Ways to differentiate between body memories and bodily resources How can the resourceand solution-focused, systemic approach help fearful and distrustful traumatized patients engaging in an intensive clinical process that is aiming to work on traumatic experiences? Trauma therapists of the ipw Integrated Psychiatry in Winterthur near Zurich / Switzerland, prepare patients for the therapeutic process through psychoeducation in groups. In a specialized ward for trauma therapy a medical practitioner, a psychologist, a nurse specialist and a movement therapist convey to patients prior to admission how different therapeutic methods can be utilized to deal with post-traumatic stress disorders. Key words post-traumatic stress disorders, dance / movement therapy, therapy preparation, abstract body image, body as resource D er Umgang mit dem eigenen Körper ist für TraumapatientInnen eine große Hürde. Gerade im Rahmen körperlicher Phänomene erleben traumatisierte Menschen Kontrollverlust unmittelbar und deutlich spürbar. Schweißausbrüche, Zittern, Harndrang mit oder ohne Urinverlust, plötzliche Erschöpfung mit unaufhaltsamer Schläfrigkeit und seltsame Empfindungen im Körper von Taubheit bis zu willentlich nicht aufzulösenden Krämp- 118 3 | 2014 Karin Wild fen bilden nur einige der Körpererfahrungen, mit denen sie sich konfrontiert sehen (van der Kolk et al. 2000). Kein Wunder, dass sie den Körper lieber ab- oder ausschalten möchten, als sich auf die achtsame Wahrnehmung sensomotorischer Abläufe einzulassen. Teil der Vorbereitung auf die stationäre Therapie an der ipw Integrierten Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland bildet deshalb noch vor Klinikeintritt der Aufbau eines Arbeitsbündnisses, das die Zustimmung der PatientInnen enthält, mit unterschiedlichen therapeutischen Methoden zu arbeiten. Der Weg über Körpererfahrung und Bewegung im Rahmen einer Vorbereitungsgruppe ist darin eingeschlossen. Schwierige Erfahrungen prägen die Rahmenbedingungen Wer sich stationär traumatherapeutisch behandeln lässt, hat zumeist schon jahrelange Therapieerfahrung. Angesichts schwerer Traumatisierung fokussiert diese häufig auf stabilisierende Techniken. Ambulant stehen mehrheitlich Symptome wie etwa selbstverletzendes oder die soziale Integration gefährdendes Verhalten im Zentrum der therapeutischen Bemühungen. Das ist leider oft nicht anders möglich. Jedoch fördert auf Stabilisierung und Alltagsbewältigung ausgerichtete Therapie bei den Betroffenen auch das Gefühl, etwas ändern zu müssen. Die Grunderfahrung, den Alltag nicht gut genug zu bewältigen, wird genährt: Letztlich kann sie das Selbstbild unterstützen, nicht in Ordnung zu sein (Hanswille / Kissenbeck 2010). Doch die traumatischen Erinnerungen können in schweren Fällen ohne sicheren Rahmen oft nur vorsichtig angegangen werden, weil die Konfrontation die Betroffenen destabilisiert. Das Traumagedächtnis von PatientInnen mit komplexer posttraumatischer Belastungsstörung gleicht deshalb in vielen Fällen einem unaufgeräumten Ground Zero. Nicht selten finden sich unter Schutt und Asche gehörige Brocken, derer sich weder die Betroffenen noch ihre Therapeuten bislang bewusst waren. Zum nachhaltig verstörten inneren System gesellt sich in der Regel ein belastetes, häufig einseitiges oder instabiles äußeres System. Dazu gehören Kontaktabbrüche mit Familienmitgliedern genauso wie übermäßige Unterstützung mit gegenseitiger Abhängigkeit. Beschimpfungen bis hin zur Anwendung körperlicher Gewalt können die Beziehungen verstricken. Im verzweifelten Versuch, all das zu stoppen, ziehen sich viele Betroffene zurück und vereinsamen zusehends. Dabei beeinflusst gerade der soziale Kontext entscheidend, ob eine traumatische Erfahrung zur Entwicklung von Symptomen der Traumafolgestörung führt oder nicht. Hanswille und Kissenbeck (2010) nennen emotionale Sicherheit und Unterstützung als wesentliche Faktoren dabei. Auch der Bezug zum eigenen Körper ist fast immer nachhaltig gestört oder so weit depersonalisiert, dass der Körper als „Ort des Grauens“ wahrgenommen wird. Das ist nachvollziehbar. Gewalt und Missbrauch sind körperliche Geschehnisse. Entsprechend benennt die DSM-V der American Psychiatric Association die körperlich-existentielle Bedrohung als A1-Kriterium für ihre Traumadefinition: „ein Ereignis oder Ereignisse, die eine Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod oder ernsthafter Verletzung oder Gefahr für die eigene oder fremde körperliche Unversehrtheit beinhalten“ (Maercker 2009, 14). Selbst wenn Gewalt und Missbrauch auf emotionaler Ebene stattgefunden haben, muss davon ausgegangen werden, dass der Körper deutlich wahrnehmbar darauf reagiert hat. Levine verweist auf die aktivierte Energie, welche das Nervensystem angesichts von Gefahr bereitstellt. Kann diese nicht genutzt werden, um die Bedrohung abzuwehren, verbleibt sie im Körper und signalisiert Gefahr, unabhängig davon, ob diese noch da oder längst vorüber ist (Levine 1998). Traumatherapie-- Ground Zero betreten 3 | 2014 119 Arbeit unter der Voraussetzung von gebundener Energie und Aufmerksamkeit Traumatische Erfahrungen binden also sehr viel Energie. Levine (2012) hebt die Stressreaktion hervor, in deren Folge es oft zu plötzlichem Ansteigen und Abfallen des Erregungsniveaus kommt. Dies lässt sich zum Beispiel an Puls, Hautfarbe und Muskeltonus ablesen. Die Reiz- / Reaktionsbereitschaft ist generell erhöht (Maercker 2009). Traumatische Erinnerungen ziehen die Aufmerksamkeit der Betroffenen und ihres Umfeldes auf sich. Betroffene werden von Albträumen und Flashbacks bedrängt. Erinnerte Sinneswahrnehmungen durchkreuzen gegenwärtige Empfindungen, als fände das traumatisierende Ereignis hier und heute statt (van der Kolk et al. 2000). Beispielsweise werden bei vorbeifahrenden Autos plötzlich quietschende Bremsen gehört. Die Begrüßung eines Mannes per Händedruck löst das Riechen der Alkoholfahne des Täters aus. Wird die bewusste Aufmerksamkeit auf einen Körperteil gelenkt, kommt es zu sensitivem Wiedererleben. Bisweilen werden plötzlich blutunterlaufene Stellen oder aufgeplatzte Haut gespürt. Schmerzen können exakt lokalisiert an Stellen auftreten, auf die Schläge geprallt sind. Schmidt verweist auf die tiefe kognitive Unstimmigkeit, die erlebt wird, wenn Empfindungen auftreten, die scheinbar nichts mit der gegenwärtigen Situation zu tun haben (Schmidt 2008). Auch TherapeutInnen können in den Sog des Traumas geraten. Im Rahmen der Therapie miterlebtes, unermessliches Leid kann dazu führen, dass zu schnell zu viel Veränderung gewollt, das Trauma letztlich aber nur reaktiviert wird. Systemisch gesprochen führt das in eine Problemtrance und verhindert die Verbesserung des Umgangs mit dem Erlebten (Schweitzer / von Schlippe 2007). Die klinische Erfahrung zeigt jedoch, dass Information über die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen auf körperlicher, emotionaler und kognitiver Ebene Betroffene sehr interessiert. Die Auseinandersetzung damit holt sie an Themen ab, die sie über die meiste Zeit des Tages beschäftigen. „Ich spürte, dass ich selber erlebte, was mir im Rahmen der ambulanten Vorbereitungsgruppe erzählt wurde“, sagte dazu ein Patient. Er nannte die psychoedukative Arbeit vor Klinikeintritt „Annäherung in homöopathischer Dosierung an einen tiefen therapeutischen Prozess“. Was gilt es also aufzubauen? In der vorbereitenden Gruppe in Hinblick auf die stationäre Traumatherapie an der ipw Integrierten Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland sind die Auswirkungen von Stress, neurologischen Veränderungen und vermeidender Selbstorganisation manchmal weder sichtnoch spürbar. Wir wissen jedoch, dass PatientInnen mit posttraumatischen Symptomen in der Regel sehr wenig Sachinformation aufnehmen können (Maercker 2009). Hilfreicher als das Erreichen von Lernzielen ist deshalb, festgeschriebene Wirklichkeitskonstruktionen bezüglich Krankheit und Symptombildung aufzurütteln (Hanswille / Kissenbeck 2010). Um das zu erreichen, sitzen PatientInnen zu Beginn der bewegungstherapeutischen Gruppenarbeit auf Stühlen und beschäftigen sich mit der Frage, weshalb Körperarbeit einen wesentlichen Teil der Traumatherapie darstellt. Widerstände dagegen werden zur Sprache gebracht und gewürdigt im Sinne von ressourcenorientierten Impulsen, sich zu schützen. Im Ausblick auf die spätere Therapie werden Kampf und Flucht als überlebenswichtige Mechanismen angesichts von Bedrohung beleuchtet. Angefügt wird der Wunsch, die Hauptverteidigungsstrategien aus der Blockade durch die Traumatisierung zu befreien. Die bewegungstherapeutischen Methoden dafür werden aufgezeigt (z. B. Erkennen, 120 3 | 2014 Karin Wild Würdigen und im Sinne von Probehandlungen Nutzen von Abwehrbewegungen, Entwicklung eindeutig gerichteter Bewegung, imaginierte Flucht, kontrolliertes und reflektiertes Ausagieren von Kampf- und Fluchtimpulsen). Erste Übungen im Rahmen von Bewegung und Körperarbeit führen erst jetzt weg von den Stühlen in den Raum. Sie beinhalten an dieser Stelle gerichtete Bewegung und Schutz- oder Abwehrbewegungen. All das geschieht prozessorientiert mit Blick auf die Gruppenkonstellation. Ziel ist, die Informationen und die Erfahrungsangebote möglichst anschlussfähig zu gestalten. Aufgrund von Fluktuationen in der Gruppe und unterschiedlichen Zuständen der Teilnehmenden sind Wiederholungen in Varianten sinnvoll. Im Dialog können Zusammenhänge geklärt und Bezüge zum eigenen Erleben hergestellt werden. Eine zentrale Rolle spielen dabei Bewertungen körperlicher Reaktionen oder innerer Abläufe. Es werden Reframings angeboten, auch wenn diese meistens etwas weniger radikal formuliert werden als Hanswille und Kissenbeck es zusammenfassen: „Die entsprechende Erklärung zeigt den Teilnehmenden, dass ihr Verhalten, die Traumafolgestörung, eine sinnvolle physiologische und psychologische Reaktion ist (…).“ (Hanswille / Kissenbeck 2008, 48) Das Hauptaugenmerk gilt jedoch nicht der Wissensvermittlung und dem Ausprobieren, sondern dem Aufbau einer sicheren, therapeutischen Beziehung als grundlegende Voraussetzung für die PatientInnen, Raum einnehmen zu können und sich verbal oder in Bewegung zu zeigen (Levine 2012). Es ist für die Gruppenleitung schwierig, ein Gefühl von Sicherheit entstehen zu lassen, wenn ungewiss ist, was den Menschen alles widerfahren ist. Kleine Impulse verbal oder auf Körperebene können im inneren System traumatisierter Menschen große Reaktionen auslösen: Auf Ground Zero sind unerwartete, bedrohliche Einbrüche immer möglich. Die Lösung liegt im inhaltlich flexiblen Aufbau der Gruppenstunden und im strukturierten Wechsel zwischen körperlichem Ausprobieren und Erklären theoretischer Grundlagen. Die therapeutische Beziehung baut mit der Zeit die Brücke, die es ermöglicht, die innere Verwundung zu sehen, bereits erfolgte Heilungsschritte anzuerkennen und weitere Verbesserungen einleiten zu können. Im Rahmen des beschriebenen Therapiekonzepts der ipw bedeutet das, sich auf die stationäre Therapie einzulassen. „Es half mir sehr beim Eintritt auf der Station, dass ich schon einige TherapeutInnen kannte. Noch wichtiger war mir, mich nicht ganz allein an einem fremden Ort zu fühlen“, erklärte dazu eine Patientin. Die psychoedukative Vorbereitung bildet also vor allem eine Einstiegshilfe: ● Sie schafft Sicherheit. Das Gegenüber kann mit allen zur Verfügung stehenden Sinnen geprüft werden. ● Es können im Rahmen des gemeinsamen Themas neue Wirklichkeitskonstruktionen angestoßen werden. ● Mit Blick auf Ressourcen werden stabilisierende Techniken eingeführt, und das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten wird erweitert. ● Den Therapieeinstieg verhindernde, vorgefasste Meinungen können überprüft werden. Konkrete Arbeitsbeispiele Die Stresskurve und ihre Anwendung Mit Blick auf Hyperarousal und traumatischen Stress wird im bewegungstherapeutischen Teil der ambulanten Gruppentherapie vor Klinikeintritt in Anlehnung an Ogden und Minton (2006) sowie Levine (2012) und Porges (2003) die Stresskurve aufgezeichnet und farblich illustriert. Die Diskussion in der Gruppe zeigt häufig, dass auch unter großem Stress mehr möglich ist als gedacht. Der akute Erregungs- Traumatherapie-- Ground Zero betreten 3 | 2014 121 anstieg wird von Seiten der Leitung als Überlebensmechanismus gewürdigt, und es wird benannt, dass häufige, starke Stressreaktionen in der Gegenwart belastend sind. Fast immer sind die Teilnehmenden nach dieser Sequenz aktiviert. Die Veränderung wird skaliert und auf der Stresskurve nachvollzogen. Im Sinne des Pendelns von Levine (2012) folgt eine Sammlung der bekannten Techniken zur Selbstberuhigung. Genannt werden zumeist das Setzen kurzer, mehr oder weniger heftiger Schmerzimpulse oder taktiler Reize, die Aktivierung von nicht in Flashbacks einbezogenen Sinneserfahrungen, Kontakt mit Haustieren oder Übergangsobjekten wie Fellen oder Erinnerungsstücken sowie Aufenthalte in der Natur. Als Abwechslung und zur Verstärkung des Körperbezugs bilden dazu einfache bis mittelschwere Koordinationsübungen peripher mit Händen oder Füßen einen psychoedukativen Input auf Körperebene. Auf Interpretation der Vorschläge durch die Teilnehmenden wird grundsätzlich verzichtet. Bei offensichtlich selbstschädigenden Ideen erfolgt ein kurzer Hinweis mit Ausführungen zur lebenslänglichen Lernfähigkeit von Hirn und Nervensystem. Es wird angeregt, die Palette von Skills und Entspannungstechniken so zu erweitern, dass Wahlmöglichkeiten bestehen und die individuell nützlichen Regulationsmethoden angepasst an den Spannungszustand genutzt werden können. Abstrahiertes Körperbild zur Ressourcenaktivierung Davon ausgehend, dass der Bezug zum Körper mindestens konflikthaft ist, hat sich der Einsatz eines stark abstrahierten Körperbildes als gut brauchbar erwiesen. Dabei wird die Form des Körpers weggelassen. Das bewirkt, dass die Teilnehmenden sich aus großer Distanz mit ihrem Körper auseinandersetzen können. Statt auf Form und Umfang mit sofort aufkommenden Assoziationen wie etwa „das ist zu viel und zu geschlechtlich“ mit begleitenden Gefühlen von Schuld und Scham zu fokussieren, unterteilen die Teilnehmenden ein A4-Blatt in Räume, weit weg vom vertrauten Bild eines Körpers. Auf dem Blatt entstehen geometrisch aufgeteilte Plätze für Kopf, Hals, Arme mit Händen sowie Rumpf, Ober- und Unterkörper, Beine und Füße. Danach werden Ressourcen auf Körperebene abgetastet durch die Frage, welcher Körperteil als dienlich erlebt wird. Ausführend dazu wird über Körperteile gesprochen, die im Leben nützlich sind, weil sie etwas ermöglichen, was geschätzt wird-- und wenn sie noch so klein und unbedeutend erscheinen. Die Teilnehmenden werden gebeten, diese Körperteile mit einer Farbe zu markieren und auf der Rückseite eine Legende anzulegen, Abb. 1: Die erweiterte Stresskurve zeigt Anstieg und Abfall der Spannung. Die Querlinien markieren den Bereich der bestmöglichen Funktionalität. Die inneren Linien rechts machen deutlich, wann Hilfe von außen und intensive Skills erforderlich sind und wann diverse Entspannungsmethoden greifen. 122 3 | 2014 Karin Wild beginnend mit: „Was gelb markiert ist, dient mir, dass ich damit mein Hobby ausübe.“ Es folgt die Frage, wo zumeist keine oder kaum Schmerzen auftreten. Eine neue Farbe markiert die daraufhin gefundenen Stellen am Körper. Die Legende erhält eine neue Farbe, und ihre Aussage wird benannt. Weiter beantworten die Teilnehmenden in anderer Farbe, welche Bereiche ihres Körpers sich oft angenehm anfühlen. Auch dabei können stützende Hinweise hilfreich sein. Da, wo es sich irgendwie gut anfühlt, da, wo manchmal Kraft spürbar wird, etc. Den Abschluss der Aufgabe bildet die Frage, was gefällt. Fast immer sind darauf empörte Blicke zu erwarten. Vermutlich gesellt sich bei den Teilnehmenden dazu die still gestellte Frage, ob diese Therapeutin weiß, wovon sie spricht. Doch noch nie hat jemand nichts gefunden! Auch wenn es „nur“ der Schwung der Augenbraue ist oder die Form der Füße, heißt dies, dass der betroffene Mensch danach gesucht hat. Und es bedeutet, dass er etwas gefunden hat. Sehr oft sind es die Füße, die Augen oder die Haare, welche von traumatisierten Menschen in Selbstreflektion das Attribut „schön“ erhalten. Die Frage, weshalb sie auch in der Wahrnehmung der Autorin überdurchschnittlich oft besonders schöne Haare haben, wäre einen weiteren Artikel wert. Um es vorweg zu nehmen, die Antwort darauf bleibt vorderhand hypothetisch. Das Ergebnis zeigt komplex traumatisierten Menschen, dass Farbe auf dem Blatt ist, d. h. Gutes, Schönes, Schmerzfreies. Allein das ist eine Überraschung. Fast immer sind die Farbklekse peripher lokalisiert. Mehrfache Einfär- Abb. 2: Skizze der räumlichen Aufteilung des menschlichen Körpers im Sinne einer Distanzierungstechnik Abb. 3: Beispiel eines ressourcenorientierten Körperbildes eines komplex traumatisierten Patienten Traumatherapie-- Ground Zero betreten 3 | 2014 123 bung bildet die Ausnahme. Die Darstellung spiegelt die fragmentierte Körperwahrnehmung traumatisierter Menschen. Sie sehen selbstverständlich viele blanke Stellen. Diese Konfrontation mit dem Fehlenden ist heftig, weshalb das Körperbild erst erarbeitet wird, wenn eine stabile, therapeutische Beziehung besteht. Im Gegensatz dazu sind im gleichen Verfahren erarbeitete Körperbilder nicht traumatisierter Menschen nach dieser Arbeit fast vollständig eingefärbt, oft mehrfach übermalt. BewegungstherapeutInnen hätten vielleicht ein Blatt vor sich mit vier Farben fast überall auf dem Blatt. Das lässt sich ja individuell ausprobieren. Sehr oft gestaltet sich durch das abstrahierte Körperbild im Rahmen der psychodedukativen Vorbereitung auf die stationäre Traumatherapie ein Anhaltspunkt, den Körper nicht nur als „Ort des Grauens“ zu sehen. Es vermittelt die Vermutung, dass er auch Quelle von Ressourcen sein könnte. Das kann den Weg ebnen, Ground Zero zu betreten. Ein schwer kriegstraumatisierter Mann aus Ex- Jugoslawien findet über das Körperbild seine Brust als einzigen Ort ohne Schmerz: „Nicht betroffen“, sagt er und assoziiert mit der Entdeckung, dass er immer noch lieben kann. Dass er anderweitig unsäglich betroffen ist, zeigt die stationäre Arbeit mit ihm sehr deutlich. Die Abbildung, wo unversehrtes Leben übrig geblieben ist, kann er auf seinem therapeutischen Weg verwerten. Er verwandelt seine Identifikation eines Opfers in diejenige eines Kämpfers. Seine Worte dazu: „Ich habe den Krieg überlebt, jetzt habe ich erkannt, dass ich wieder leben kann.“ Literatur Hanswille, R., Kissenbeck, A. (2010): Systemische Traumatherapie. Konzepte und Methoden für die Praxis. Carl-Auer Verlag, Heidelberg van der Kolk, B. A., McFarlane, A. C., Weisaeth, L. (2000): Traumatic Stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Junfermann, Paderborn Levine, P. (2012): Sprache ohne Worte. Kösel, München Levine, P. (1998): Trauma-Heilung. Synthesis, Essen Maercker, A. (2009): Posttraumatische Belastungsstörung. 3. Aufl. Springer, Heidelberg Ogden, P., Minton, K. (2006): Sensomotorische Verarbeitung und die Behandlung posttraumatischer Störungen. In: Marlock, G., Weiss, H. (Hrsg.): Handbuch der Körperpsychotherapie. Schattauer, Stuttgart, 776-782 Porges, S. W. (2003): The polyvagal theory: phylogentic contributions to social behavior. Physiology & Behaviour 79(3), 503 Schmidt, J. B. (2008): Der Körper kennt den Weg. Trauma-Heilung und persönliche Transformation. Kösel, München Schweizer, J., von Schlippe, A. (2007): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Band 2: Das störungsspezifische Wissen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Abb. 4: Beispiel eines ressourcenorientierten Bildes eines Menschen ohne Diagnose von PTBS, d. h. ohne komplexe Traumatisierung 124 3 | 2014 Karin Wild Die vier Zeichnungen in diesem Beitrag sind in Farbe zu sehen in der Online-Fassung des Beitrags. Dieser steht im Archiv von ktb 3 / 2014 unter http: / / www.reinhardt-journals.de/ index. php/ ktb/ issue/ archive für AbonnentInnen kostenlos, für andere InteressentInnen gegen Gebühr bereit. Die Autorin Karin Wild Integrativ-klinische Tanz- und Bewegungstherapeutin btk, Master of Advanced Studies ZFH in systemischer Beratung, Somatic Experiencing Practicioner, Bewegungstherapeutin der Spezialstation für Traumafolgestörungen SFT der Integrierten Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland ipw. ✉ Karin Wild Streulistrasse 5 | CH-8032 Zürich info@thinkandmove.ch
