körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Unter der Lupe: Labans Sommerschule auf dem Monte Verità und das lokale künstlerische Umfeld
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Claudia Fleischle-Braun
Zwischen 1900 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs waren Ascona und der Monte Verità ein Zufluchtsort für Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen und biographischen Karrieren. In dieser Phase des gesellschaftlichen Umbruchs war der ‚Hügel der Utopien‘ ein Treffpunkt für Idealisten und Reformer, für Aussteiger und Sektierer, für Intellektuelle und Künstler, für Erholungssuchende und Emigranten. Rudolf von Laban hatte 1913 auf dem Monte Verità eine Sommerschule für Kunst (Wort-Ton-Bewegung-Form) eingerichtet und gründete 1915 zusammen mit Suzanne Perrottet und Mary Wigman in Zürich seine Labanschule für Bewegungskunst. Der Beitrag zeichnet die Anfänge von Labans Wirken auf dem ‚Berg der Wahrheit‘ nach.
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130 körper - tanz - bewegung 2. Jg., S. 130-135 (2014) DOI 10.2378 / ktb2014.art22d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Unter der Lupe Labans Sommerschule auf dem Monte Verità und das lokale künstlerische Umfeld Ein historischer Exkurs Claudia Fleischle-Braun Z wischen 1900 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs waren Ascona und der Monte Verità ein Zufluchtsort für Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen und biographischen Karrieren. In dieser Phase des gesellschaftlichen Umbruchs war der „Hügel der Utopien“ ein Treffpunkt für Idealisten und Reformer, für Aussteiger und Sektierer, für Intellektuelle und Künstler, für Erholungssuchende und Emigranten. Rudolf von Laban hatte 1913 auf dem Monte Verità eine Sommerschule für Kunst (Wort-Ton-Bewegung-Form) eingerichtet und gründete 1915 zusammen mit Suzanne Perrottet und Mary Wigman in Zürich seine Labanschule für Bewegungskunst. Der Beitrag zeichnet die Anfänge von Labans Wirken auf dem „Berg der Wahrheit“ nach. Der Tänzer, Choreograf und Bewegungsforscher Rudolf von Laban (1879-1958) verbrachte von 1911 bis 1917 mehrmals die Sommermonate mit seiner Anhängerschaft auf dem Monte Verità. Er hatte bereits im Jahr 1910 in München sein erstes Atelier und seine Schule des Freien Tanzes eröffnet und gründete 1913 auf dem Monte Veritá zusammen mit Henri Oedenkoven seine Schule für Kunst. Dort wurden vier Fächer unterrichtet: Bewegungskunst, Wortkunst, Tonkunst und Formkunst (Szeeman 1980). Zusätzlich zu den Bewegungsstudien mit den Ausbildungsschülern gab es auch Kurse für Tanzanfänger. Mit Mary Wigman und anderen MeisterschülerInnen erforschte und Abb. 1: Gymnastik auf dem Monte Verità Foto: Bildschau in der Casa Selma, Stiftung Monte Verità 3 | 2014 131 Labans Sommerschule auf dem Monte Verità erarbeitete Laban auf dem Monte Verità die Grundlagen der Lehre der Ausdruckstanzbewegung, die bis heute maßgeblich sind für die tanz- und bewegungstherapeutische Praxis (Baur 2010; Preston-Dunlop 2008). Das allgemeine Kursprogramm des von Henri Oedenkoven und Ida Hofmann geleiteten Sanatoriums auf dem Monte Verità beinhaltete neben Vegetarismus, Sonnenbädern und Lichtluftkuren tägliche gymnastische Übungen am Morgen, die häufig auch von Labans Schülerinnen angeleitet wurden, sowie Körperübungen der Mazdaznan-Bewegung, welche eine westliche Rezeption von asiatischen Körper- und Heilpraktiken darstellt, mit Atem-, Meditations- und Yoga-Übungen sowie Regeln zur gesunden Ernährung. Die Gruppe der Ausdruckstänzer beteiligte sich vormittags auch an Garten- und Erdarbeiten sowie anderen Tätigkeiten im Haus (Wolfensberger 1995; Laban 1989). In seinen Tanzexperimenten war Laban auf der Suche nach einem von seinen konventionellen Regeln befreiten Tanz. Er und seine Gefolgschaft strebten nach einem intensiven ästhetischen Körpererleben und nach einer Harmonie von Körper und Intellekt. Gemäß der Philosophie der Monte-Verità-Begründer sollten Askese und Fest gleichermaßen zur geistigen und kulturellen Erbauung führen. Labans Vision war „Tanz als Lebenskunst“, denn in der Sommerschule für Kunst war der Tanz in das dortige Lebensumfeld integriert und in die Beschäftigung mit anderen Kunstformen eingebunden. Dies mag ein Grund dafür gewesen sein, dass schöpferische Fähigkeiten und Kräfte geweckt wurden. Für Laban und Mary Wigman war der Aufenthalt auf dem Monte Verità auch eine Zeit intensiver gemeinsamer Forschungsarbeit zur Bewegungslehre und der theoretischen Fundierung des neuen Freien Tanzes und Ausdruckstanzes. Rudolf von Laben suchte damals nach Strukturanalogien mit anderen Kunst- und Wissenschaftszweigen: Er verglich Schrift- und Symbolzeichen und erforschte alte und fremde bewegungs- und tanzkulturelle Manifestationen. Aus diesen Studien entstanden die Grundzüge der Raum-Harmonie-Lehre und die Schwungskalen sowie erste kinetographische Versuche (Baur 2010; Preston-Dunlop 2008). Die Sommerschule auf dem Monte Verità von Laban wurde nicht zuletzt durch die damals neuartige mediale, lustvolle Inszenierung der tanzenden Körper in der Natur sowie durch die von ihnen arrangierten nächtlichen Tanzfeste und chorischen Sommerfestspiele bekannt (Laban 1989). Auch wurde Labans Denken auf dem Monte Verità durch die dort versammelte Kunstszene beeinflusst, ebenso von okkult-mystischen Praktiken und spiritistisch-theosophischen Auffassungen der damals dort ansässigen Freimaurer-Bewegung (Szeemann 1980). Darüber hinaus war Laban hier und in Zürich mit den psychoanalytischen Konzepten von Carl Gustav Jung sowie mit sozialphilosophischen Betrachtungsweisen in Berührung gekommen (Baur 2010). Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab es auf dem Monte Verità keine SchülerInnen und kein Publikum mehr. Zürich wurde ab 1915 für Abb. 2: Rudolf von Laban mit seinen Schülern Foto: Schwab / Lafranchi 2001, 139 132 3 | 2014 Claudia Fleischle-Braun viele Künstler das neue Zentrum ihrer Arbeit, so auch für Laban und seinen Mitarbeiterstab. Rudolf von Laban eröffnete zusammen mit Suzanne Perrottet und Mary Wigman die Züricher Schule für Bewegungskunst und hielt Abendvorlesungen zur Entwicklung der darstellenden Künste, in welchen auch Solotänze oder kleinere Tanzspiele aus seiner Schule gezeigt wurden. Dussia Bereska war seit 1916 ebenfalls Ausbildungsschülerin und Ensemble-Mitglied geworden, und im selben Jahr führte die Tanzgruppe der Schule in Zürich das Tanzmärchen „Der Spielmann“ als erstes abendfüllendes Tanzwerk auf. 1917 zeigte Mary Wigman erstmals ihr eigenes Programm, 1918 folgte das Tanzspiel „Die Grimasse des Sultans“, eine Märchenpantomime. Im Zürcher Cabaret Voltaire gab es eine kurze und wilde Phase mit Dada-Experimenten von Hugo Ball, Emmy Ball-Hennings u. a. Auch schlossen sich Dada-Künstler mit den Tänzerinnen der Laban-Gruppe zusammen, und es entstanden gemeinsame Aufführungen der Avantgardekunst, beispielsweise mit abstrakten Tänzen von Sophie Taeuber, neuer Musik von Suzanne Perrottet und expressionistischen Tänzen von Claire Walther (Laban 1989; Preston-Dunlop 2008). Im Sommer 1917 war Rudolf von Laban an dem auf dem Monte Verità organisierten Freimaurer-Kongress inhaltlich stark eingebunden. Zu diesem Anlass inszenierte er das dreiteilige Festspiel „Sang an die Sonne“ entsprechend der Idee eines Gesamtkunstwerks. Das Festspiel war der abschließende Höhepunkt von Labans Sommerschule auf dem Monte Verità (Preston-Dunlop 2008). Die ehemalige „vegetabilische Kooperative Monte Verità“, die in ihren Anfängen eine Naturheilanstalt und eine Lebensreform-Stätte war, entwickelte sich zu dieser Zeit bereits zur Künstlerkolonie. Denn mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Ascona zunehmend auch eine Erholungs- und Zufluchtsstätte für emigrierte Künstler und Intellektuelle geworden. 1927 entdeckten schließlich die Bauhauskünstler Ascona als Ferienort zur Erholung und als Gegenwelt zur Bauhaus-Arbeit, und Emil Fahrenkamp errichtete das neue Hotel Monte Verità im modernen funktionalen Bauhaus-Stil (Schwab / Lafranchi 2001). Des Weiteren hatte sich auch Charlotte Bara nach ihrem Tanzstudium und ersten Erfolgen als Ausdruckstänzerin und Interpretin von Sakraltänzen in Ascona niedergelassen. 1919 hatte sie zunächst im elterlichen Castello San Materno eine Tanzschule gegründet, um Tänzer, Schauspieler und Sänger in ihrer individuellen künstlerischen Entwicklung zu unterstützen und auszubilden. Ihr Vater beauftragte dann den Maler-Architekten Carl Weidemeyer mit dem Bau eines modernen multifunktionalen Studiotheaters im Bauhaus-Stil, das 1927-1928 im Park von San Materno am Fuße des Monte Verità erbaut wurde. Bis 1958 präsentierte Charlotte Bara sowohl dort als auch bei Gastspielen im In- und Ausland ihre Tanzschöpfungen. Die Tanzkünstlerin und Choreografin stellte das Teatro San Materno darüber hinaus auch vielen TanzkollegInnen für Gastspiele zur Verfügung. Nach Hitlers Machtergreifung kamen weitere KünstlerInnen ins Tessin, wie beispielsweise Abb. 3: Das Sanatorium Monte Verità, Zentralhaus Foto: Henri Oedenkoven 1906, Stiftung Monte Verità 3 | 2014 133 Labans Sommerschule auf dem Monte Verità auch die deutsch-jüdische Schriftstellerin Else Lasker-Schüler, die zu den bedeutsamsten Vertretern der avantgardistischen Moderne und des Expressionismus gehörte. Nicht nur ihr persönliches Lebensschicksal, sondern auch das vieler anderer „Wahlasconeser“ führen uns vor Augen, wie stark sich die um die Jahrhundertwende kulminierenden Ereignisse der Weltgeschichte und deren politische Folgen auch an diesem „paradiesischen“ Ort ausgewirkt haben. Diese haben im Leben der Betroffenen große Umbrüche und Veränderungen gebracht und auch innerhalb der Tessiner Bevölkerung zu einem erheblichen gesellschaftlichen Strukturwandel geführt. Mit diesem historischen Exkurs soll auf die Bedeutung von Monte Verità als kultureller Treffpunkt und künstlerischer „Kultort“ hingewiesen werden. Schließlich trafen sich im Umfeld des Sanatoriums nicht nur Anhänger der Lebens- und Körperreform-Bewegung, um neue kommuneartige Lebensformen umzusetzen. Es begegneten sich auf dem Hügel bei Ascona Anarchisten und Avantgardisten, Zivilisationskritiker und Politiker, religiöse Sektierer, Psychologen und Philosophen, Intellektuelle und Künstler. Damit war diese Stätte bald ein beliebtes Forum des interdisziplinären Diskurses geworden. Es war ein Ort, der Raum gab, um eigene Grenzen mental und körperlich, künstlerisch und spirituell zu erweitern, um kreative Ideen intensiv zu erproben und kollektiv weiterzuentwickeln, und es war ein Ort, der einen Ausgleich zur Arbeit und vor allem Rekreation bot. Die Sommerschule für Kunst war für Rudolf von Laban und die Gruppe der Ausdruckstänzer ein Ort des Rückzugs, ein Ort der kollektiven Bewegungserforschung, und nicht zuletzt war sie ein künstlerischer Wirkungsort, an dem er seine Vorstellungen des Gesamtkunstwerks erstmals realisieren konnte. Monte Verità ist aber nicht nur als ein historischer Kraftort oder künstlerischer Studien- oder Produktionsort zu verstehen, auch nicht nur als ein Ort der Utopien, welcher eine Projektionsfläche bietet für bestimmte Wunschvorstellungen und Sehnsüchte. Der Hügel bei Ascona ist auch ein Modell für eine ganzheitliche „Work-Life-Balancierung“ im Sinne der Lebenskunst: Es gab Zeiten kollektiver handwerklicher und künstlerischer Arbeit, des Unterrichts, des Studiums und Forschens und nicht zuletzt der Erholung. Die Gäste achteten bewusst auf die Stärkung der körperlichen und seelischen Ressourcen und auf ein Leben in Einklang mit der Natur, pflegten die Gemeinschaft und Gelegenheiten des sozialen Miteinanders und nutzten Gelegenheiten des intensiven Gedankenaustauschs über Werte und Lebenssinn. Auch in unserer gegenwärtigen Zeit lässt sich unter Künstlern wie auch in anderen Berufsgruppen beobachten, dass Abb. 4: Charlotte Bara auf der Terrasse des Teatro San Materno Foto: Schwab / Lafranchi 2001, 163 134 3 | 2014 Claudia Fleischle-Braun Menschen immer häufiger „Retreats“, Rückzugsorte, aufsuchen, um eine „Auszeit“ zu nehmen, als Ausgleich für Belastungen des beruflichen oder familiären Alltags, sei es, um die eigenen Ressourcen zu stärken, energetisch aufzutanken oder um neue Perspektiven für das eigene Leben entwickeln zu wollen. Literatur Baur, S. (2010): Ausdruckstanz in der Schweiz. Florian Noetzel, Wilhelmshaven Laban, R. v. (1989): Ein Leben für den Tanz. Faksimiledruck der Ausgabe von 1935, herausgegeben und kommentiert von Claude Perrottet. Haupt, Bern / Stuttgart Preston-Dunlop, V. (2008): Rudolf Laban. An extraordinary life. Dance Books, Alton Schwab, A., Lafranchi, C. (Hrsg.) (2001): Sinnsuche und Sonnenbad. Experimente in Kunst und Leben auf dem Monte Verità. Limmat, Zürich Szeemann, H. (Hrsg.) (1980): Monte Verità. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie. Electa Editrice, Mailand Voswinckel, U. (2009): Freie Liebe und Anarchie. Schwabing-- Monte Verità. Entwürfe gegen das etablierte Leben. Allitera, München Wolfensberger, G. J. (1995): Suzanne Perrottet. Ein bewegtes Leben. Beltz, Weinheim / Berlin Die Autorin Dr. Claudia Fleischle-Braun 1978-2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am Institut für Sport- und Bewegungswissenschaften der Universität Stuttgart. Seit 2005 ist sie Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Tanzforschung. ✉ Dr. Claudia Fleischle-Braun Kastanienweg 8 | D-70597 Stuttgart Tel. (0049)-(0)711-765 48 97 claudia.fleischle@arcor.de
