körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2014.art25d
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Aus der Praxis: Lernen bewegt entwickeln
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Bettina Rollwagen
Unser Bildungssystem basiert trotz Jahrzehnte alter Diskussion um „Chancengleichheit“ auf Selektion: Gesehen und bewertet wird die Erfüllung / Nichterfüllung eines Leistungskanons. Für die Mehrzahl unserer Kinder gilt nach wie vor ein Leistungsprinzip, welches die Voraussetzungen zur Erbringung von Leistung zu wenig in den Blick nimmt. Spezialisierte Tanz- oder BewegungstherapeutInnen und manche körperorientiert und integrativ arbeitende Lerntherapeutinnen halten mit ihrem Wissen über implizites Körpergedächtnis, die Wirkung der Körpersprache und qualitative Bewegungsanalyse Nützliches bereit, um Lernen – ein komplexes Zusammenspiel von Sensorik, Motorik, Emotion und Kognition – zu unterstützen. Wie können wir den von Lernstörungen betroffenen und frustrierten Kindern eine interdisziplinäre Brücke bauen, welche die gesellschaftlich immer noch getrennten Fachgebiete Pädagogik / Psychologie, Medizin, Sensomotorisches Wissen und Bewegungsanalyse stärker miteinander verbindet? Es wird eine Methode zur Lösung dieser Frage vorgestellt.
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160 Forum: Aus der Praxis Lernen bewegt entwickeln Eine Brücke zwischen Lerntheorien und bewegungsorientierten Therapiemethoden Bettina Rollwagen Unser Bildungssystem basiert trotz Jahrzehnte alter Diskussion um „Chancengleichheit“ auf Selektion: Gesehen und bewertet wird die Erfüllung / Nichterfüllung eines Leistungskanons. Für die Mehrzahl unserer Kinder gilt nach wie vor ein Leistungsprinzip, welches die Voraussetzungen zur Erbringung von Leistung zu wenig in den Blick nimmt. Spezialisierte Tanz- oder BewegungstherapeutInnen und manche körperorientiert und integrativ arbeitende Lerntherapeutinnen halten mit ihrem Wissen über implizites Körpergedächtnis, die Wirkung der Körpersprache und qualitative Bewegungsanalyse Nützliches bereit, um Lernen-- ein komplexes Zusammenspiel von Sensorik, Motorik, Emotion und Kognition-- zu unterstützen. Wie können wir den von Lernstörungen betroffenen und frustrierten Kindern eine interdisziplinäre Brücke bauen, welche die gesellschaftlich immer noch getrennten Fachgebiete Pädagogik / Psychologie, Medizin, Sensomotorisches Wissen und Bewegungsanalyse stärker miteinander verbindet? Es wird eine Methode zur Lösung dieser Frage vorgestellt. Schlüsselbegriffe ADHS, Schulversagen, Teilleistungsstörung, soziale und emotionale Kompetenz, Verhaltensauffälligkeiten, Lernbegleitung, Eltern-Kind-Beratung, bewegtes Lernen, Entwicklungsförderung, Bildungsziele Developing Learning by Movement. A Bridge Between Learning Theory and Movement-Oriented Therapy Methods Despite decades of discussion in respect of equal opportunities, our educational system is still primarily based upon selection processes. What is recognised and evaluated are achievements in relation to performance targets. The majority of children continue to be assessed according to performance principles, which are not taking sufficient account of preconditions for being successful. Specialist dance or movement therapists as well as body-oriented or integrative learning therapists may contribute their knowledge and experience about processes of embodiment, implicit body memory, body language and qualitative movement analysis to support learning in respects of its complex interaction of sensor / motor function, emotion and cognition. How can we build bridges for better integration of currently separated special fields of pedagogy / psychology, medicine, sensorimotor knowledge and movement analysis in the interest of children who are affected by learning difficulties? Potential solutions to address this question will be presented in this paper. Key words ADHD, academic failure, learning difficulties / disabilities, social and emotional learning, behavioral disorders, learning support, parent-child coaching, kinesthetic learning, developmental advancement, educational objectives körper-- tanz-- bewegung 2. Jg., S. 160-168 (2014) DOI 10.2378 / ktb2014.art25d © Ernst Reinhardt Verlag 4 | 2014 161 Lernen bewegt entwickeln Lernen-- ein Zusammenspiel von Körper und Geist Spätestens seit der Nobelpreisträger Eric Kandel in jahrelanger Forschung herausgefunden hat, wie sich Kognition und Gedächtnis in neuronalen Verbindungen materialisieren (Kandel 2008), ist die Brücke zwischen Körper / Biologie und Bewusstsein / Kognitionswissenschaften sowie Psychologie wissenschaftlich geschlagen. Eine Umorganisation der zuständigen Fachgebiete zum Thema Lernen ist in diesem Sinne aber noch nicht ausreichend erfolgt. Weiterhin finden sich Psychologen und Pädagogen auf der einen Seite und Kinderärzte, Ergotherapeuten, Logopäden, Physiotherapeuten auf der anderen Seite. Nicht selten stellt sich bei Kindern mit Lernproblemen die Frage der Zuständigkeit (und natürlich der Kostenzuordnung): Werden die Schulen, also die Pädagogik, oder medizinische Therapien, also die Krankenkassen, in die Pflicht genommen? Viele elterliche Haushalte geben inzwischen sehr viel Geld für Nachhilfe aus, Lehrer verzweifeln an den mangelnden Lernvoraussetzungen, die sie in großen Klassen nicht ausgleichen können, und die Kinder sind in den Schulen aus Ressourcenmangel oft sich selbst überlassen. Ein Lichtblick ist, dass immer mehr Ansätze der körperorientierten, integrativen Lerntherapie entwickelt werden. Und auch Lehrer und Eltern interessieren sich für den Zusammenhang von Bewegungs- und Lernentwicklung. Mit diesem Artikel möchte ich Körper- / Tanz- / Bewegungstherapeuten inspirieren, sich jeweils mit ihren spezifischen Grundkenntnissen über Bewegungsentwicklung, Körpersprache, Sensomotorik und das implizite Körpergedächtnis auf das Thema Lernen zu spezialisieren, um die interdisziplinäre Brücke für die Kinder auszubauen. Aus zahlreichen Begegnungen mit dem alltäglichen Notstand, meiner langjährigen pädagogischen Erfahrung an einer Förderschule und meinem bewegungsanalytischen Wissen hat sich der interdisziplinäre Arbeitsansatz des IBL, Institut für Bewegungs- und Lernentwicklung, herausgebildet, den ich nachfolgend vorstelle. Lernen.bewegt.entwickeln Die Wortkombination „lernen.bewegt.entwickeln“ (l.b.e.) erinnert daran, dass es keinen Moment gibt, in dem wir uns nicht bewegen, entwickeln und lernen. Die drei Komponenten besitzen eine enge gegenseitige Abhängigkeit: Lernen findet durch Bewegung in einer gewissen Entwicklungslogik statt. Die Basis der l.b.e.-Lernbegleitung bilden grundlegende Erkenntnisse aus der Neurobiologie und Kognitionswissenschaft sowie dem bewegungsanalytischen und damit verknüpften entwicklungspsychologischen Wissen. Hier seien einige, bei „Leibe“ nicht alle, in Stichworten wiedergegeben: 1. Schon beim Embryo und dem sich entwickelnden Säugling findet Lernen in ständigen kleinen Einheiten von sensomotorischen Schleifen statt. Dies bedeutet, dass ein neugeborenes Wesen mit den Sinnesorganen Sinnesobjekte wie Schwerkraft, Kontakt, Wärme, Nahrung, Gerüche, Klänge sensorisch wahrnimmt, erlebt und darauf mit Bewegung motorisch reagiert. Durch diese Bewegungen entstehen neue sensorische Eindrücke im Körper-Inneren oder in der Außenwelt (Objekte oder Personen), auf die es wieder mit Bewegungen reagiert. So bildet sich ein feines neuronales sensomotorisches Netzwerk, in dem Wahrnehmungen, Bewertungen, Emotionen, gefühlte Zusammenhänge und reaktive Handlungen ihre „eigenen Choreografien“ entwickeln (Brook 2000; Cohen 2008; Maturana / Varela 1987; Stern 2012). 162 4 | 2014 Bettina Rollwagen 2. Geistige (kognitive, emotionale) Lernprozesse materialisieren sich biologisch im Auf- oder auch Abbau von Nervenverbindungen, sodass eine Informationsübertragung ermöglicht oder verhindert/ beendet wird (Sensitivierung versus Habituation bei Kandel 2008; Neuroplastizitität bei Siegel 2007 und Spitzer 2002). 3. Lernen findet immer in Beziehungen zu Personen und Objekten statt (Bauer 2007; Fuchs 2010; Kestenberg / Kestenberg Amighi 1993; Stern 2012). 4. Die motorische, psychische und kognitive Persönlichkeitsentwicklung folgt in aufeinander aufbauenden Phasen einer Entwicklungslogik. Die Phasen haben individuell große Zeitspannen in einer funktional sinnvollen, aber nicht starren Reihenfolge. Dies bietet einen wirksamen Ansatz bei der Nachbahnung von nicht ausgebildeten Körperverbindungen und der Entwicklung von fehlenden Fähigkeiten (Cohen 2008; Kestenberg / Kestenberg Amighi 1993; Pikler 1988, Rollwagen 2007). 5. Lernen setzt Bindungssicherheit voraus, da sonst kein Vertrauen, keine körperliche und geistige Entspannung als Grundlage für Konzentration erfolgen kann (Bauer 2007; Wallace 2012). Abb. 1: Obere Bildreihe: Der Betrachter des oberen Schwarzweißbildes links erkennt den Inhalt, ablesbar in der Synchronisierung im Gehirn (3. Kreis von links), abgelöst von einer neuen Konstellation, welche die Reaktion auf die Erkenntnis beschreibt (4. Kreis). Untere Bildreihe: Dem Betrachter fehlt eine Teilinformation (Bild 180 ° gedreht), und so kommt es zu keinem synchronisierten „Aha-Erlebnis“, wozu es dann auch eine Reaktion (4. Kreis) geben wird. Abbildung: Varela 2005, 453 Reize Nichtwahrnehmungs- Bedingung Darbietung des Bildes (0-180 ms) Synchronisation schwindet (360-540 ms) Motorische Reaktion (540-720 ms) Erkennung (180-360 ms) Wahrnehmungsbedingung 4 | 2014 163 Lernen bewegt entwickeln 6. Angst steuert über das Stammhirn vegetative Prozesse. Dieses ist dem Lernenden rational nicht zugänglich, sondern kann besser über körperorientierte Methoden oder Kreativtherapien beeinflusst werden (Annunctiato 2009; Eberhard-Kaechele 2012). 7. Erkenntnis braucht ein Zusammenkommen aller Detailinformationen, die für diese nötig sind. Dieser „Tusch des Orchesters Gehirn“ ist eine gleichzeitige synchrone Aktivierung vieler Bereiche des Gehirns (Varela 2005). Dazu müssen alle direkten Wahrnehmungen funktionieren. Sobald ein Wahrnehmungsbereich fehlt, kann das Kind nicht zum „Aha-Erlebnis“ gelangen (siehe Abb. 1, S. 162). 8. Lernen durch Verknüpfen von Informationen zu Zusammenhängen, wie es Mathematik, Grammatik und Rechtschreibung brauchen, setzt sensorische Assoziationen voraus. Diese materialisieren sich in den horizontalen Assoziationsfasern zwischen den Sinnesbereichen Sehen, Hören, Spüren, Bewegen in der Großhirnrinde (Annunctiato 2010; Bähr / Frotscher 2009). 9. Die Umsetzung des Geplanten in die praktische Durchführung setzt vertikale Projektionsfasern voraus, welche die Großhirnrinde, das Kleinhirn (Bewegungsautomatisierung) und den ausführenden Körper verbinden (Annunctiato 2010; Bähr / Frotscher 2009). Dieses Wissen über die körperliche Grundlage des Lernens und frühkindliche Prägungen im Unbewussten ist einigen körper- und bewegungsorientiert arbeitenden Therapeuten, Motopäden, Motologen, TanztherapeutInnen unter „implizites Gedächtnis“ bekannt. Für die Begleitung von Kindern mit emotionalen oder sensomotorischen Lernblockaden sollten diese Kenntnisse ein unabdingbares Handwerkszeug darstellen. Wenn Kindern mit Lernschwierigkeiten keine nach diesem Verständnis qualifizierten Pädagogen zur Verfügung stehen, bauen sich oft Versagensgefühle, Abwehrhaltungen oder sogar Angst sogar mit psychosomatischen Begleiterscheinungen auf. JAMPA ist ein praktisches, methodisches Vorgehen, das Kinder aus dieser Lernfrustrationen herausführen kann. Der Begriff ist zum einen die Abkürzung für alle notwendigen Schritte, die sich im Lernentwicklungsprozess gegenseitig unterstützen: J a sagen A nalyse der Zusammenhänge M achbares motiviert machen P rozesse sehen und begleiten können A nkommen im Potenzial Zum anderen ist „Jampa“ ein tibetischer Begriff, der sich am ehesten mit „liebevolle Zuwendung“ übersetzen lässt. Liebevolle Zuwendung ist neben dem Fachwissen das, was die Kinder, Familien und Lehrer brauchen, um aus dem Teufelskreis von Ratlosigkeit, Überforderung, Angst und Druck herauszufinden. Mit der JAMPA-Methode lässt sich das theoretische Wissen in praktische Lernhilfen umsetzen. J-- „Ja sagen“ Viele Kinder und Eltern stehen körperlich unter einer inneren Anspannung, wenn sie in die Beratung kommen. Da sie keinen Weg aus ihrem Dilemma von Versagen sehen, haben sie sich in einer inneren Abwehrhaltung gegenüber ihrer Situation stabilisiert. Bewegungsanalytisch beobachtet äußert sich dies meist in einer angespannten Körperhaltung und der Unfähigkeit, Gewicht an die Schwerkraft abzugeben. Hier kann man direkt mit körperorientierten Entspannungstechniken ansetzen, aber auch beratende, aufklärende und pädagogische Methoden anwenden, denn „Ja sagen“ heißt in erster Linie, das zu beschreiben und anzunehmen, was ist. 164 4 | 2014 Bettina Rollwagen Erfahrungsgemäß hilft den Eltern und Kindern dabei: ● Ein Perspektivenwechsel: In Tagesschulungen und Beratungsgesprächen erfahren die Eltern, dass in den Reaktionen ihres Kindes eine entwicklungspsychologische oder sensomotorische Logik liegt, die durch Begriffe wie „krank“ oder „falsch“ nicht richtig erfasst wird. ● Abbau von Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen: Die Eltern erleben das „Anders- Sein“ ihrer Kinder oft als ihr individuelles Problem. Hier erfahren sie, dass sehr viele Kinder betroffen sind und sensomotorische Defizite auch Folgen zunehmender Mobilitätsanforderungen und neuer Kommunikationstechniken sein können. Wir benennen und decken abhängiges Entstehen zwischen motorischer, sensorischer und kognitiver Entwicklung auf, statt zu bewerten und zu richten. ● Eine Aussicht: Über die theoretische und praktische Schulung erschließen sich den Kindern / Eltern die konkreten Zusammenhänge zwischen Sensorik, Körperverbindungen und Lernen. Durch Bewegungsübungen und Sinnestraining erfahren sie, dass Verbesserungen der Leistung auf Grundlage der Gesetzmäßigkeiten neurobiologisch wirksamer Sensitivierung direkt möglich sind. ● Rücken frei vom Notendruck: Die Begleitung findet innerhalb, nicht außerhalb des Schulsystems statt, und die Nachbahnung von sensorischen Defiziten und Körperverbindungen und auch das Umdenken brauchen Zeit. Da bei Lernversagen eine schlechte Benotung und Versetzungsgefährdung drohen, werden Eltern und Lehrer über die rechtlichen Möglichkeiten eines Nachteilsausgleichs für die Zeit der Begleitung informiert. Nach dieser ersten Angst reduzierenden Phase wird die genaue Analyse wichtig. Sie unterstützt den Perspektivwechsel, den Abbau der Schuldgefühle und die Aussicht auf Veränderung. Diese Faktoren verstärken sich alle gegenseitig, deshalb gehören sie unabdingbar zusammen. A-- Analyse Wenn kognitives Lernen nicht gelingt, muss nach Varela (2005), wie oben beschrieben, die genaue Analyse aller Wahrnehmungsbereiche erfolgen, weil sie die Lernvoraussetzung zum Gelingen des Schriftsprachenerwerbs (Koschay / Hoffmann 2012; Warnke / Hanser 2004) sowie der Rechenkompetenz (Fischer 2007; Hammer 2007; Steeg 1996) sind. Die Ärztin Dr. Kannegießer-Leitner hat z. B. schon einen gelungenen Vorstoß in diese Richtung der interdisziplinären Lerntherapie gemacht und behandelt Kinder mit diagnostizierten ADS und ADHS, Dyskalkulie und Legasthenie erfolgreich ohne Medikamente (psychomotorische Ganzheitsmethode, Kannegießer-Leitner 2008). Hier werden die Kinder in ihrer Gesamtheit aller sensomotorischen Leistungen erfasst, ein Trainingsplan für alle sensorischen Bereiche wird erstellt, und dabei werden auch die Eltern über die Zusammenhänge geschult. Dieses Vorgehen habe ich in die JAMPA-Methode integriert. Über diese sensomotorische Betrachtung hinaus sind die umfassenden Systeme der Bewegungsanalyse KMP, LBBS, MPA und BMC hilfreiche Werkzeuge zur Erfassung der persönlichen Bewegungsqualitäten (Koch / Bender 2007). Jedes dieser großen Analysesysteme bietet für sich allein vielfältige Kategorien des direkt Beobachtbaren, die Aufschluss über den inneren Bezug zu Raum, Kraft, Zeit, Gewicht und Progression geben und eine genauere Analyse der Lernorganisation oder der psychischen Entwicklungsstadien mit ihren vielfältigen Kombinationen ermöglichen als die Vereinfachung auf die zurzeit gängigen Diagnose-Schubladen Träumerli (ADS) und Zappelphillip (ADHS). 4 | 2014 165 Lernen bewegt entwickeln Durch die Zusammenarbeit mit Kolleginnen aus verschiedenen Bewegungsanalyse-Ausbildungen ist es uns gelungen, einen eigenen Diagnosebogen zu entwickeln. Zum einen werden hier alle für den Erwerb der Schriftsprache und der Rechenleistung sensomotorischen Lernvoraussetzungen (Gleichgewicht, Tastsinn, Propriozeption, Basissinne wie Sehen, Hören, Fernsinne wie Handmotorik und Reflexgeschehen) ausgetestet. Zum anderen umfasst der Diagnosebogen auch die bewegungsanalytischen Komponenten wie Raumflächen, Kinesphäre-Nutzung, Antriebe, Formung, Phrasierungen, Körperverbindungen und Entwicklungsmuster, die Aufschluss über die individuelle Lernorganisation geben. Für diese umfassende und tiefgehende Analyse lassen wir uns die notwendige Zeit, damit alle Beteiligten dabei auch erfassen können, warum es wichtig ist, diese Bewegungen und Sinneswahrnehmungen zu spüren, zu wiederholen, zu beobachten, zu automatisieren. Sie erfahren, was progressiv zu verändern ist, um eine bessere Konzentration, schnellere Auffassungsgabe, geringere Ablenkbarkeit, niedrigere Fehlerquoten oder auch mehr Selbstwertgefühl, bessere Abgrenzung und Abbau von Aggressionen zu erreichen. Wir gestalten also die Analyse mit allen Beteiligten so, dass sie gleichzeitig zur Bildung über den Zusammenhang von Bewegung und emotionaler und kognitiver Kompetenz beiträgt. Praktisch bedeutet dies, dass das Kind mindestens einen Vormittag mit einer entsprechend qualifizierten Lern- und Entwicklungsbegleiterin am IBL verbringt. Das Kind darf die Reihenfolge der kognitiven Tests, der bewegungsorientierten Übungen, der Hör-, Seh-, Sprech- und Schreib- / Mal-Übungen und auch die Pausen mitgestalten. M-- Machbares motiviert machen Wenn Kinder, die in unser Institut kommen, bereits seit einiger Zeit wiederholt etwas üben sollen, ohne einen Erfolg für sich selbst erlebt zu haben, und zusätzlich noch von außen kontrolliert und negativ bewertet werden, sind sie sehr demotiviert. Wenn sie jedoch selbst den Effekt dessen, was sie machen, sensorisch wahrnehmen können und ihre Eigenbewertung wichtig genommen wird, wächst ihre Motivation. Das ist bewegungsanalytisch an den Körperverbindungen, dem Tonus und der Veränderungen der Antriebe, dem „Wie“ der Bewegung, beobachtbar. Dies wird schon durch einfache Fragen unterstützt, welchen Buchstaben sie selbst am schönsten finden, was für sie der einfachste Rhythmus ist, was sich leichter anfühlt usw. Der Kern der Arbeit besteht in dieser Phase also darin, zusammen mit dem Kind die verlorengegangene intrinsische Lernmotivation zurückzuerobern, indem die Kinder selbst die Veränderungen und Erleichterungen wahrnehmen, wenn sie das Machbare machen. Das Machbare knüpft jeweils an die Logik der Entwicklungsmotorik und der Entwicklungspsychologie an. Das heißt, die Bewegungsprinzipien und zu vermittelnden Erfahrungen sind nicht außerhalb des im Körper neurobiologisch angelegten Zusammenhangs, sondern genau auf diesem selbst angesiedelt: Im sensomotorischen Bereich: ● Fingerspiele zur Handautomatisierung (Kannegießer-Leitner 2008) ● Bartenieff Fundamentals und Developmental Movement Pattern (DMP) zur Sensibilisierung von Körperverbindungen und den vertikalen Projektionsfasern im ZNS (Annunctiato 2010; Bartenieff / Lewis 1980; Lamont 2014; Rollwagen 2007) ● Singen und Spielen von Bewegungsliedern zur Unterstützung der sensorischen Integration (Bankl et al. 2012) 166 4 | 2014 Bettina Rollwagen Im motopsychologischen Bereich: ● DMP-orientierte Bewegungen und Eltern- Kind-Bewegungsdialoge zur Nachreifung von Bindungsfähigkeit, Autonomie und Empathiefähigkeit (Cohen 2008; Eddy 2007; Scott 1994; Lamont 2014; Rollwagen 2010) Zur Lernorganisation: ● Aufgaben zur Bewegungsphrasierung und Zeitwahrnehmung ● Kinesphäre-Wahrnehmung mit Aufmerksamkeitssteuerung ● Spiele zur Wahrnehmung und Selbstregulation der Antriebe hinsichtlich der Faktoren Kraft, Fluss, Raum und Zeit ● Körperverbindungen zur Erdung, Konzentrationssteigerung, besseren Unterscheidung und Integration von Spüren und Denken (alle Übungen siehe Cohen 2008; Kennedy 2009; Rollwagen 2010) P-- Prozesse sehen und begleiten können Prozessorientierte Begleitung setzt voraus, Beobachtungskategorien zu haben, die zeigen, ob und wie ein Prozess stattfindet. Bartenieffs fünf Beobachtungsfragen strukturieren beim Certificated Movement Analyst (CMA) den prozessorientierten ganzheitlichen Blick (Rollwagen 1994): Was ist da? Was fehlt? Was will sich entwickeln? Was ist rigide? Wie passt es zum Ganzen? Hier können Lehrer und Eltern in der Begleitung lernen, den „Alles oder Nichts“- Modus zu verlassen und auch kleine, aber bedeutende Veränderungen wahrzunehmen. Statt in die Bewertung zu gehen, ermöglichen derart ausgebildete Lern- und Entwicklungsbegleiter dem Kind, sich selbst kennen, verstehen und im Fortschritt einschätzen zu lernen. Das geschieht im großen Maße mit Hilfe von verschiedenen für das jeweilige Alter passenden Spiegelungsmodi (Eberhard- Kaechele 2010) und die Darlegung der Entwicklungslogik. Was Kinder in den ersten drei Lebensjahren in ihrer Bewegungsentwicklung automatisiert haben, ist nicht bewusst. Deshalb muss das Lernen in ganz kleinteiligen Schritten als ständige sensomotorische Schleife und neurobiologische Verknüpfung von Assoziations- und Projektionsfasern im zentralen Nervensystem im Prozess verstanden, beobachtet und begleitet werden. Ein Prozess hat keinen Sinn, wenn es kein Ziel gibt. Das Ziel bedeutet: A-- Ankommen Ankommen heißt, dass nicht mehr nur die Zeugnisnote- - wie es bei manchen Familien und Schulformen der Fall ist-- im Vordergrund steht, sondern die Bildung des Kindes, sein Selbstbewusstsein, seine Lernlust und Lernzufriedenheit und eben auch seine emotionale und soziale Kompetenz, die nachgewiesener Maßen zum Lebenserfolg beitragen. Es bedeutet vor allem, dass das Kind sein individuelles spezifisches Potenzial, seine Fähigkeiten selbst erkennen und entfalten kann und dafür die geeigneten Mittel zur Verfügung hat. Ankommen kann sich im weiteren Sinne auch auf das Ankommen im Moment der Entwicklung sowohl des Kindes als auch des Bildungssystems beziehen; mit anderen Worten in Übereinstimmung zu sein mit dem, was jetzt möglich ist, um darauf aufbauend den nächsten Schritt realistisch zu gestalten. Und da schließt sich der Kreis zum Ja-Sagen und allen übrigen Momenten des JAMPA in dieser Lern- und Entwicklungsbegleitung. Fazit Lernen selbst ist ein Entwicklungsprozess in Bewegung und muss sowohl in seinem Anteil als sensomotorische Schleife und frühkindliche Prägung im Körpergedächtnis verstanden, 4 | 2014 167 Lernen bewegt entwickeln als auch in seinen logischen Denkverknüpfungen als wahr und sinnvoll erfahren werden. Nur dann kann Lernen als Wissensaneignung im Sinne von ganzheitlicher Bildung gelingen. Lernversagen fußt oft auf Überforderung durch sensorische, motorische Teilleistungsstörungen, die im „Orchester Gehirn“ verhindern, dass es zu einem „Aha-Erlebnis“ kommt; und es ist häufig auch auf Hypersensibilität und mangelnde Selektionsfähigkeit von Informationen (= sensomotorische Lernblockaden) zurückzuführen. Oder aber es liegen traumatische Erlebnisse und andere emotionale Ursachen für Lernversagen vor, wie z. B. Bindungsstörungen, mangelnde Autonomieentwicklung, Angststörungen, Frustration durch unangemessene Unterforderungen etc. (= emotionale Lernblockaden). In vielen Schulen mangelt es noch an Wissen über multisensorisches Lernen und sensomotorische, motopsychologische oder entwicklungspsychologische Lernvoraussetzungen. Auch werden Verhaltensauffälligkeiten oft nicht als Schutzreaktionen auf das Lernversagen oder unpassende Lernbedingungen erkannt. Hier brauchen wir auf das Lernen spezialisierte, körperorientiert arbeitende Therapeuten, bewegungsanalytisch weitergebildete Pädagogen und körperorientiert-integrativ arbeitende Lerntherapeuten, um die interdisziplinäre Brücke zwischen Pädagogik und Psychologie, Kognition, Sensomotorik und Körpersprache / -funktionen für die betroffenen Kindern mit Lernstörungen zu schließen und damit die biologisch angelegten Ressourcen der Entwicklungsmotorik und Entwicklungspsychologie zu nutzen. Die in diesem Beitrag vorgestellte Lern- und Entwicklungsbegleitung hat zum Ziel, diesem Bedarf mit der Verbindung von bewegungsorientierten, sensomotorischen und pädagogischen Methoden gerecht zu werden und aus Lernfrust demotivierten Kindern, Lehrern und Eltern aufklärend und prozessorientiert konkrete bewegbare Hilfe zum Lernen anzubieten. Literatur Annunctiato, N. (2010): Höhere Funktionen des Nervensystems. Seminarbuch Therapiezentrum Burgau, Burgau Annunctiato, N. (2009): Das limbische System. Seminarbuch ZIFF, Essen Bartenieff, I., Lewis, D. (1980): Body movement. Coping with the environment. Gordon & Breach, New York Bähr, M., Frotscher, M. (2009): Neurologisch-topische Diagnostik. Anatomie-- Funktion-- Klinik. Georg Thieme, Stuttgart Bankl, I., Mayr, M., Witoszynskyj, E. (2012): Lebendiges Lernen durch Musik, Bewegung, Sprache. G6G Verlagsgesellschaft, Wien Bauer, J. (2007): Spiegelneuronen. Hoffmann und Campe, Hamburg Brook, A. (2000): Von der Empfängnis bis zum Krabbeln. Frühe Bewegungsmuster. Institut für Aquatische Körperarbeit IAKA-Druck, Bad Orb Cohen, B. B. (2008): Sensing, feeling, and action. Contact Edition, Northampton Eberhard-Kaechele, M. (2012): Leibgedächtnis und Trauma. Vortrag Konferenz Leibgedächtnis und Therapie, Heidelberg. Auditorium Netzwerke, Müllheim Eberhard-Kaechele, M. (2010): Spiegelungsvorgänge in der Tanztherapie / Körpertherapie. In: Bender, S. (Hrsg.): Bewegungsanalyse von Interaktionen. Logos, Berlin, 193-213 Eddy, M. (2007): A balanced brain equals a balanced person. Somatic Education. SPINS Neozine 3, 7-8 Fischer, B. (2007): Hören, Sehen, Blicken, Zählen. Huber, Bern Fuchs, T. (2010): Das Gehirn-- ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Kohlhammer, Stuttgart Hammer, R. (2007): Lernen und Bewegen. Vortrag ppt, Konferenz Deutscher Berufsverband MotopädInnen, Frankfurt Kandel, E. R. (2008): Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt / M. Kannegießer-Leitner, C. (2008): ADS, LRS und Co. Sequenz Medien, Rastatt Kennedy, A. (Hrsg.) (2009): Bewegtes Wissen. Logos, Berlin Kestenberg J. S., Kestenberg Amighi J. (1993): Kinder zeigen, was sie brauchen. Herder, Freiburg Koch, S. C. / Bender, S. (Hrsg.) (2007): Bewegungsanalyse. Logos, Berlin 168 4 | 2014 Bettina Rollwagen Koschay, E., Hoffmann H. (2012): Kompendium zum Abbau der Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben. Eigenverlag Greifswald, Rostock Lamont, B. (2014): Learning and movement. In: www.developmentalmovement.org/ upload/ Learning%20and%20Movement.pdf, 16.6.2014 Maturana, H. R., Varela, F. J. (1987): Der Baum der Erkenntnis. Wie wir die Welt durch unsere Wahrnehmung erschaffen. Scherz, Bern Pikler, E. (1988): Laßt mir Zeit. Die selbstständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. Pflaum Verlag, München Reinhard, M. (2002): Was ist wirklich richtig und was ist richtig wirklich? Mögliche Provokationen von Legasthenie, Dyskalkulie und ADS. System Schule 6 (2), 53-61 Rollwagen, B. (2010): Kinesphäre im Sozialtraining. In: Bender, S. (Hrsg.): Bewegungsanalyse von Interaktionen. Logos, Berlin, 91-106 Rollwagen, B. (2007): LBBS für Kinder mit Lernstörungen. Neurobiologie und Praxis. In: Koch, S. C. / Bender, S. (Hrsg.): Bewegungsanalyse. Logos, Berlin, 143-159 Rollwagen, B. (1994): LBBS in der Psychomotorik. Ein Beitrag zur behandlungs-begleitenden Diagnostik. Praxis der Psychomotorik 1, 19-21 Die Autorin Bettina Rollwagen Dipl. Sportwissenschaftlerin (DSHS Köln) mit Schwerpunkt Spiel/ Musik/ Tanz, Elementarer Tanz und Rehabilitationssport, „Bewegungskultur“ im Rahmen der Stadtteilkultur in Hamburg, Certified Movement Analyst, Spiraldynamik, Psychomotorik. Theater-, Tanz-, Videoprojekte und individuelle Lernförderung in einer Schule für emotionale, soziale Förderung. Gründerin des Instituts für Bewegungs- und Lernentwicklung (IBL), Fortbildungen in Schulen und Kindergärten, Entwicklung und Leitung der berufsbegleitenden Ausbildung zur l.b.e. Lern- und EntwicklungsbegleiterIn sowie Elternschulungen und Lerntherapie in einer ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis. ✉ Bettina Rollwagen Lauenbrücker Str. 8 | D-27389 Fintel Tel. (0049)-(0)4265 241313 www.bewegteslernen.org Scott, S. (1994) Bonding and Attachment, Neurodevelopmental Training Center, Seattle Siegel, D. (2007): Das achtsame Gehirn. Arbor, Freiamt Spitzer, M. (2002): Lernen: Gehirnforschung und Schule des Lebens. Spektrum, Heidelberg Steeg, F. H. (1996): Lernen und Auslese im Schulsystem am Beispiel der „Rechen-schwäche“. Lang GmbH, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt / M. Stern, D. (2012): Die innere Welt eines Babys. Vortrag 4. Zürcher Traumatage „Frühe Prägungen“ (DVD). Auditorium Netzwerk, Müllheim Varela, F. (2005): Wissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins. In: Goleman, D. (Hrsg.): Dialog mit dem Dalai Lama. Wie wir destruktive Emotionen überwinden können. dtv, München, 433-473 Wallace, A. (2012): Die befreiende Kraft der Aufmerksamkeit. Steinrich, Stuttgart Warnke, F. / Hanser, H. (2004): Legasthenie. Nachhilfe Ade? Gehirn & Geist 1, 64-67
