körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2014.art26d
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Vorgestellt: Die Funktionelle Entspannung
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Doris Lange
Die Funktionelle Entspannung ist ein körperpsychotherapeutisches Verfahren, das mit der Entwicklung der Psychosomatischen Medizin in Deutschland eng verknüpft ist. Das therapeutische Vorgehen ist an den Phänomenen des individuellen Körpererlebens orientiert und führt zu einer Sensibilisierung der Körperwahrnehmung und zum Verstehen der Körpererinnerungen vor dem Hintergrund der biografischen Erfahrungen eines Menschen. Zwischen Patient und Therapeut entsteht ein dialogischer Prozess mit wechselseitiger leiblicher, emotionaler und mentaler Resonanz. Ziel der Behandlung ist eine verbesserte leib-seelische Selbstregulation des Patienten, vor allem auch unter Aufspüren seiner Ressourcen. In einer Fallstudie wird die Wirkweise der Methode dargestellt.
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169 Forum: Vorgestellt körper-- tanz-- bewegung 2. Jg., S. 169-175 (2014) DOI 10.2378 / ktb2014.art26d © Ernst Reinhardt Verlag Die Funktionelle Entspannung Eine in der Psychosomatik beheimatete Körperpsychotherapiemethode Doris Lange Die Funktionelle Entspannung ist ein körperpsychotherapeutisches Verfahren, das mit der Entwicklung der Psychosomatischen Medizin in Deutschland eng verknüpft ist. Das therapeutische Vorgehen ist an den Phänomenen des individuellen Körpererlebens orientiert und führt zu einer Sensibilisierung der Körperwahrnehmung und zum Verstehen der Körpererinnerungen vor dem Hintergrund der biografischen Erfahrungen eines Menschen. Zwischen Patient und Therapeut entsteht ein dialogischer Prozess mit wechselseitiger leiblicher, emotionaler und mentaler Resonanz. Ziel der Behandlung ist eine verbesserte leib-seelische Selbstregulation des Patienten, vor allem auch unter Aufspüren seiner Ressourcen. In einer Fallstudie wird die Wirkweise der Methode dargestellt. Schlüsselbegriffe Funktionelle Entspannung, Körperpsychotherapie, Psychosomatik, Subjektive Anatomie, Phänomenologisches Vorgehen, Selbstregulation, Verkörperung von Selbstempathie Functional Relaxation-- A Psychosomatic Method of Body Psychotherapy ‘Functional Relaxation’ is a Body Psychotherapy Method which is closely connected to the development of Psychosomatic Medicine in Germany. The therapeutic approach is related to the phenomena of individual bodily experiences and is aiming for a sensitizing of self-awareness as well as an understanding of bodily memories in the context of a person’s biographic background. A dialogic process between patient and therapist develops in mutual somatic, emotional and mental response. The aim of the treatment is the patient’s improved psychosomatic self-regulation, especially in utilizing his / her own resources. In a case study the mode of action of the method will be demonstrated. Key words Functional Relaxation, Body Psychotherapy, Psychosomatic Disorders, Subjective Anatomy, Phenomenological Approach, Self- Regulation, Embodiment of Self-Empathy I n psychotherapeutischen Behandlungen chronifizierter somatoformer Störungsbilder stieß ich oft an die Grenzen ausschließlich verbaler Behandlungstechniken. Auf der Suche nach einer Körpermethode, die sich in mein humanistisches Menschenbild und „Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Störungen, sondern die Fähigkeit, mit ihnen umzugehen.“ Marianne Fuchs zit. nach Herholz et al. 2009, VII 170 4 | 2014 Doris Lange meine tiefenpsychologisch orientierte Therapieausbildung einfügte, entdeckte ich 1982 das Buch „Funktionelle Entspannung“ (Fuchs 2013). Das Besondere dieser Methode schien mir darin zu bestehen, auf welche Weise die oft körperfixierten Symptomklagen psychosomatischer PatientInnen in den Behandlungsprozess einbezogen und Veränderungen erzielt wurden: durch ein behutsam angeleitetes Spüren des eigenen Körpers und seiner Ressourcen. Eine sich mit der Geschichte weiterentwickelnde Therapiemethode Die Gründerin, Marianne Fuchs, verstarb 2010 im Alter von 101 Jahren. Sie kam wie einige andere Pionierinnen bekannter Körperverfahren, auch der Tanztherapie, aus der Tradition der Leibpädagoginnen der 1920er Jahre, die mit der Jugend- und Reformbewegung dieser Zeit eng verbunden waren. Dieser kreative Zeitgeist wird im „Handbuch der Körperpsychotherapie“ (Marlock/ Weiss 2006) gut beschrieben: Die Funktionelle Entspannung (FE) wird zwischen Merleau-Ponty, Elsa Gindler, der Anthropologischen Medizin, den Humanistischen Verfahren und der Tiefenpsychologie eingeordnet. 1926 begann Marianne Fuchs ihre Ausbildung zur Gymnastiklehrerin an der Güntherschule in München, heute vergleichbar mit dem Beruf einer Bewegungstherapeutin mit heilpädagogischer Ausrichtung. Dort wurde eine Gymnastik gelehrt, die eine Verbindung von physiologisch-funktioneller Funktion und körperlichem Ausdruck mit musikalisch-rhythmischen Elementen bis hin zu sprachlicher Symbolisierung suchte. Einflüsse kamen auch aus der Psychoanalyse, wie die Herleitung der Bewegung aus dem Unbewussten und, wie auch Mary Wigman im Tanz vorging, eine Bewegungsgestaltung aus der Tiefendimension heraus. Die Anfänge der Methode fielen in den 1950er Jahren zeitgleich mit der Geburtsstunde der Psychosomatik in Deutschland zusammen. Als ursprünglich leibpädagogisches Verfahren hat sich die Funktionelle Entspannung zunächst als Körpertherapieverfahren der Anthropologischen Medizin etabliert. Im Austausch mit Psychosomatikern in Heidelberg wie Richard Siebeck und Viktor v. Weizsäcker und deren integrativen Ansätzen entwickelte Marianne Fuchs ihre Methode, die bis heute ihre Nähe zur Medizin, zur Physiologie und Anatomie, zur Tiefenpsychologie, aber auch zu den phänomenologischen Denkansätzen der Philosophie bewahrt hat. In den 1990er Jahren fand dieser integrative psychosomatische Ansatz in mehrjähriger Arbeit einer Arbeitsgruppe von Psychosomatikern, Psychoanalytikern, Philosophen und FE- Praktikern eine wesentliche Fortführung und Erweiterung in der Formulierung eines Konzeptes einer „Subjektiven Anatomie“, mit dem sich die FE zu einer Körperpsychotherapiemethode entwickelte (Uexküll et al. 1994). Und Marianne Fuchs, wach und interessiert, mitten drin. In lebhaften Diskussionen repräsentierte sie den weiten Spannungsbogen zwischen dem Erhalt des unverzichtbar Substanziellen und der notwendigen Öffnung gegenüber neuen Strömungen in der Psychoanalyse, der Säuglings- und Bindungsforschung, den Neurowissenschaften und der Traumaforschung. Neugier, Forschergeist und Entwicklungslust sind gute Geister im Umfeld der FE. Sie haben dazu geführt, dass die FE das am besten evidenzbasierte Körperpsychotherapieverfahren im deutschsprachigen Raum ist (Herholz et al. 2009). Das Feld reicht vom Nachweis positiver Effekte auf Erkrankungen des asthmatischen Formenkreises (z. B. Loew et.al. 1996 und 2001) und verschiedene Schmerzerkrankungen (z. B. Sohn 1998) über Erfolge bei Angststörungen (Lahmann 2008a), Hypertonie (Tressel-Savelli 2006) und somatoformen Herzbeschwerden (Lahmann 2008b). Die Funktionelle Entspannung 4 | 2014 171 Selbstempathie über den Körper Tiefenpsychologische Verfahren wollen aus der Biografie eines Menschen, aus seinen frühkindlichen Beziehungserfahrungen, seinen daraus resultierenden Übertragungsneigungen, seinen Wiederholungsmustern und seinen Abwehrmechanismen heraus verstehen, wann, wo, wie und warum sich eine Störung, eine Symptomatik entwickelt hat. Die Funktionelle Entspannung nutzt dazu nicht nur das Erzählen, sondern auch das In-den- Körper-Spüren. Die therapeutische Arbeit orientiert sich an den individuellen, insoweit einmaligen Körperphänomenen im Hier und Jetzt, aber auch in der Körpererinnerung. Ganz ähnlich wie im frühen nonverbalen und verbalen Dialog zwischen Säugling und primären Bezugspersonen entwickelt sich im therapeutischen Vorgehen ein gemeinsames Verstehen des individuellen Körpererlebens der PatientInnen vor dem Hintergrund frühkindlicher Mangel- und Verlusterfahrungen bzw. Traumatisierungen und deren jeweiliger Körperrepräsentanzen. Durch therapeutisches Nachfragen (Wo? Wie? Wo noch? Mehr so oder mehr so? Was geschieht jetzt? U. ä.) und nach „Passung“ suchende therapeutische Angebote („Passung“ verstanden als Resonanzphänomene in den TherapeutInnen) werden Fehlhaltungen, Blockaden, Verhaltenheiten, Verschlossenheiten, Missempfindungen wahrgenommen und nach Lockerungen oder Lösungen dieser dysfunktionalen Zustände im Körper gesucht. Im Zusammenspiel der Gelenke wird der Aufbau und Zusammenhalt des Skeletts erarbeitet (der „innere Halt“). Diese innere Struktur kann auch im gleichzeitigen Erleben der Schwerkraftwirkung verdeutlicht werden. Die Innenräume wie Mundraum, Brustkorb, Bauchraum, Becken werden erspürt und in ihren Möglichkeiten, Grenzen und ihren Verbindungen zueinander erlebt. Die Haut als Körpergrenze und Kontaktorgan wird erspürt. Marianne Fuchs sprach von den „Spürfühlern“, die sich nach innen, sozusagen hinter die Haut, und nach außen zur Umgebung, z. B. einer Stuhllehne, hin ausrichten können. Über das Gerichtet-Sein der Sinne nach innen und nach außen werden neue Qualitäten des Selbst-Erlebens wahrgenommen. Eine wichtige Aufgabe im praktischen Arbeiten mit den PatientInnen stellt die Propriozeption, die Tiefenwahrnehmung, dar: Sie signalisiert die individuelle und aktuelle inwendige Verfassung und die therapeutischen Zustandsänderungen, auch die Raum-Lage-Wahrnehmung, zum Beispiel im Kontakt zur Unterlage (Symbol und Körperrepräsentanz frühkindlichen Gehalten- Werdens). Dabei wird der Atem unbewusst vertieft und reguliert. Ziel der Bemühungen ist ein frei schwingendes Zwerchfell als Sitz und Inbegriff für autonomen Rhythmus und Balance (Lange et al. 2006). In einem sukzessiven Prozess des Verstehens und Verknüpfens zwischen körperlicher, emotionaler und kognitiver Ebene werden biografische Bezüge und deren Fixierungen, Übertragungen und Entwicklungsblockaden durchgearbeitet. Das Besondere in der Arbeit mit Funktioneller Entspannung ist ein ständiger Ebenenwechsel zwischen Spüren, Fühlen und Versprachlichen. Ganz eigene Worte finden zu lassen, ist ein wichtiges Anliegen der FE, denn diese individuellen Wortschöpfungen können später am besten erinnert („begriffen“) werden. Im phänomenologisch orientierten Vorgehen stehen hier das eigene Wissen, die individuelle Bewusstwerdung des Körpers und seine Integration in das Selbst-Erleben und das Selbstbild der PatientInnen im Vordergrund, im Sinne einer sukzessiven Selbst-Entfaltung. Hier wird auf besondere Weise wieder der Bezug zur Methodik und Didaktik des selbstfindenden Lernens der Reformpädagogik deutlich. In der Entwicklung eines besseren Gespürs für innere Zustände und Bedürfnisse wird eine veränderte Haltung sich selbst 172 4 | 2014 Doris Lange gegenüber erreicht: hin zu verlangsamter und vertiefter Aufmerksamkeit und zu besserer Selbstregulation. Auf sehr spezifisch psychosomatische Weise entsteht Selbstempathie, das Mitgefühl mit sich selbst, dessen Fehlen aufgrund schädigender oder fehlender frühkindlicher Beziehungserfahrungen in der Regel zur Genese somatoformer Störungsbilder beiträgt. Eine weitere Besonderheit der Methode ist die in einem intensiven Einzel- und Gruppen- Selbsterfahrungsprozess erworbene therapeutische Kompetenz, in Anwesenheit des Anderen bei sich selbst bleiben zu können. Diese sich lebenslang weiterentwickelnde Selbstfürsorglichkeit tritt in Wechselwirkung im Übertragungswie auch im Gegenübertragungsgeschehen. Das Gespür der TherapeutInnen für sich selbst und die eigenen Belange ist eine nicht unerhebliche Voraussetzung für therapeutische Resilienz und kann in der Burnout- Prophylaxe genutzt werden. Falldarstellung eines körperpsychotherapeutischen Behandlungsprozesses Die Patientin ist 55 Jahre alt und Physiotherapeutin in eigener Praxis. Sie hat zwei Söhne, der eine studiert, der andere steht kurz vor dem Abitur. Sie wurde von ihrem Mann vor fünf Jahren verlassen „wegen einer Jüngeren“, wie sie sagt; er hat mit der neuen Frau eine zweite Familie gegründet und „hält seine alte Familie kurz“. Die Patientin will ihren Lebensstandard und den der Kinder erhalten und arbeitet seitdem viel. Sie wird von der Ambulanz der Psychosomatischen Klinik zu mir geschickt wegen einer essentiellen Hypertonie; der labile Bluthochdruck löse in seinen Spitzenwerten schwere Panikzustände aus. Das blutdrucksenkende Medikament könne diese Krisenzustände nicht verhindern. Einer körperorientierten Behandlung könne sie zustimmen, einer reinen Psychotherapie nicht, sie sei schließlich nicht psychisch krank. Sie treibe viel Sport, ernähre sich gesund, rauche nicht, trinke nicht. Davon könne ihr hoher Blutdruck nicht kommen. Als die Patientin mir diese Mitteilungen bereits bei der telefonischen Anmeldung macht, spüre ich Druck. Ich nehme wahr, wie sich beim Zuhören meine Schultergelenke leicht heben und die Schulterblätter nach vorn ziehen, wie sich meine Bauchdecke etwas nach innen drückt, meine Lippen sich aufeinanderpressen. Dieser zunehmende Verlust von Innenraum verhindert einen weiten, fließenden Atem. Es wird „eng“. Die Notwendigkeit therapeutischer Selbstregulation beginnt, wie so manches Mal, schon am Telefon, noch vor Beginn der ersten Stunde. Die Patientin gestaltet die Sitzungen zunächst so, dass sie Rat und Anleitung sucht und mich nach der Funktionellen Entspannung ausfragt. Sie wolle „üben und lernen“, sich besser zu entspannen, „um den Bluthochdruck endlich in den Griff zu kriegen“. Ich gehe darauf ein und entwickle mit ihr gemeinsam ein „Ritual zum Ankommen“: Sie setzt sich bequem, sucht spontan nach einem passenden Abstand für ihre parallel korrekt aufgestellten Beine, legt die Hände auf der Lehne ab, schaut erwartungsvoll. Sie möchte von mir angeleitet werden. Ich biete an, sich von oben nach unten, Stück für Stück, auf der Rückseite des Körpers halten zu lassen, sozusagen die- - symbolisch gesehen- - haltgebende Funktion (dieser Begriff stammt aus der Bindungsforschung und Objektbeziehungstheorie und lässt sich gut in die Selbstobjektbeziehung zum eigenen Körper transformieren)einesbequemenSitzmöbelsanzunehmen, begleitet von einem allmählichen Loslassen der von ihr als „sehr stark“ angegebenen Muskelspannung: erst der Hinterkopf, die Schulterblätter, die Ellbogen, Unterarme und Hand- Innenflächen, dann den Rücken, die Biegung Die Funktionelle Entspannung 4 | 2014 173 des Gesäßes, die Hinterseite der Oberschenkel. Den Boden unter den Füßen kann sie kaum wahrnehmen, erst nach einem festen Aufdrücken und Loslassen. Die Aufforderung, sich Zeit zum Nachspüren zu lassen, erlebt sie als ungewohnt in ihrem Umgang mit sich selbst. Sie nennt das Nachspüren dann „Atempause“, legt spontan eine Hand aufs Brustbein, die andere auf die Bauchdecke in Höhe des Zwerchfells und spürt ihren Atemrhythmus. Ich bitte sie, den Atemfluss nicht, wie sie schon damit beginnt, zu kontrollieren, sondern einfach nur zuzulassen, was da ist, ohne etwas zu verändern. Das nennt sie dann „zuschauen“. Sie erinnert sich an eine Fortbildungssequenz; hier wurde das Bild angeboten, über die Kopfhaut auszuatmen: „Dampf ablassen“ nennt sie es jetzt. Nach der Atempause gehen wir von unten nach oben alle Gelenke spielerisch durch: sukzessive, kleine Bewegungen im Ausatmen, Nachspüren, dann weitermachen. Das „Bewegen im Lassen“ ist neu für sie, sie erlebt es als „leicht“ und entlastend, nimmt ihre Stimmungsaufhellung dabei wahr. Mit dem Begriff „inneres Gerüst“ kann sie gut etwas anfangen, übernimmt ihn. Ihre Beschreibungen, was sie da spürt, werden von Stunde zu Stunde immer weniger nüchtern-sachlich, es kommen angenehm-sinnliche Bilder: Sie spricht von „Ölen“, „Räkeln“. Am Kopf angekommen, nochmals „Dampf ablassend“, dehnt sie sich durch und fühlt sich vitalisiert und leicht. Auch in der Gegenübertragungsreaktion ist ein Nachlassen von Anspannung zu spüren. Die Patientin beginnt, solche „Atempausen“, wie sie es nennt, in ihren Praxisalltag einzubauen. Dabei wird deutlich, dass sie einen immer sichereren Zugang zu ihren guten beruflichen Ressourcen und Fortbildungen findet, den sie offenbar für sich selbst verloren hatte. Daran gekoppelt kommen assoziative Erinnerungen an kindliche Verspieltheit, die als „Zappeligkeit“ gebrandmarkt und unterdrückt worden war, insbesondere von der Mutter und von strengen Lehrern. Sie berichtet von ihrer Leistungssport-Karriere in der Schule, ihrer Berufswahl der Physiotherapeutin und ihrem Selbstbild einer leistungsstarken, unabhängigen Frau. Ihre narzisstische Kränkung und ihren Zorn, durch ihre Erkrankung eingeschränkt zu werden, können besprochen werden. Die für Psychosomatiker „typische“ externalisierende Abwehr bzw. Horizontal-Spaltung wird deutlich („Mein Körper wendet sich gegen mich. Es ist nicht mehr mein Körper. Das bin nicht ich.“). Es sind erste konfrontative Interventionen möglich: Wie fühlt es sich an, sich zu bekämpfen? Was sagt ihr Körper dazu? Die Patientin verlangsamt in den Stunden, lässt mehr Raum zum Spüren und zum Nachdenken. Sie spüre sich besser beim Joggen, laufe langsamer, bekäme etwas mit von der sie umgebenden Natur, sei „weniger im Stress“. Sie erzählt von ihrem Ärger mit veränderungsunwilligen, passiven Patienten, vom Ärger mit ihren verwöhnten Söhnen. Sie spürt grenzsetzende Impulse und setzt sie um. Ihr innerer Druck lässt nach, analog dazu auch der Druck in der Gegenübertragung. Nach ihrer Hypertonie-Symptomatik befragt, berichtet sie, schon länger nicht mehr beim Arzt gewesen zu sein. Ihr selbst gemessener Blutdruck sei normal, die Spitzenzustände seltener, wenn, dann nur noch an den Wochenenden, dann aber „manchmal sehr hoch“.- - Das macht mich ratlos. „Jetzt gucken Sie wieder so“, sagt sie. Ich frage, wie sie das meine. „Naja, Sie gucken mich immer so an, dass ich darin lesen kann, was Sie denken. Das macht sonst keiner“. Ich lasse mir beschreiben, wen sie mit „keiner“ meint. Ihre Söhne seien durchgängig schlecht gelaunt, würden nur auf ihre Handys oder Monitore schauen, wären mundfaul, desinteressiert, wie der Vater. Am schlimmsten aber sei die Freundin ihres Sohnes; die sei kalt, zickig, habe eine metallische Stimme, gebe nur Anweisungen, was sie essen wolle und was 174 4 | 2014 Doris Lange nicht, habe jede Menge Unverträglichkeiten und Allergien. Sie selbst fürchte sich vor dieser „eiskalten Atmosphäre am Wochenende“. Zum ersten Mal habe ich in der Gegenübertragung das Gefühl, in Berührung zu kommen mit einer tieferen emotionalen Schicht hinter der Abwehr. Die nächste Sitzung ist ausnahmsweise an einem Montag (den Feiertagstermin am Donnerstag wollte die Patientin nicht ausfallen lassen). Die Patientin wirkt wie erstarrt. „Am liebsten wäre ich heute gar nicht gekommen. Ich kann nicht mehr.“ Was sie denn noch könne, frage ich. „Liegen. Und nichts tun müssen. Auch nicht spüren.“ Wir haben bislang im Sitzen gearbeitet. Zum ersten Mal legt sie sich jetzt auf eine Schaumstoffmatte am Boden. Ihre Hände liegen auf dem Brustbein und auf dem Bauch, ihre Ellbogen „schweben“ in der Luft. Als ich ihr jeweils ein kleines Kissen darunter schiebe, lässt ihre Muskelspannung nach. Sie atmet ruhig und lässt ihre Tränen fließen. Ich rücke ein Stück von ihr weg, bleibe im Schneidersitz sitzen, lehne mich aber an die Wand an und lege mir ein weiches Kissen hinter den Rücken. Ich atme ruhig, fühle mich ohne Druck, auch ohne Zeitdruck. Sie erzählt von „diesem wieder so kalten Wochenende“, ihren Versuchen, es den Kindern recht zu machen, ohne Erfolg. „Ist das ein altes Gefühl? “, frage ich. Sie erinnert aus der Kindheit ihr Nach-Hause-Kommen nach der Schule oder an den Wochenenden, wenn ihre Mutter mit Migräne (vermutlich auch mit schweren depressiven Verstimmungen) im Bett lag oder ungekämmt auf dem Sofa saß und auf keinerlei Angebote der Tochter reagiert habe. Auf mein „Das muss große Angst gemacht haben“ reagiert sie wieder mit Weinen. Sie äußert das Bedürfnis, ihre Nachmittagstermine heute abzusagen und sich zu Hause hinzulegen. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich möchte das einfach so. Mein Körper braucht jetzt eine Verschnaufpause. Ich kann so nicht arbeiten“. Von da an können wir über das ängstigende Gefühl der Verlassenheit sprechen, über körperliche Unruhe und kindliche Zappeligkeit und jugendliche Kompensation über sportliche Spitzenleistungen, Letzteres verbunden mit dem trügerischen Gefühl, „alles unter Kontrolle“ halten zu können. In den folgenden Sitzungen geht es viel um die Suche nach Selbstberuhigung und das Bedürfnis nach „Eigen-Sinn“. Der therapeutische Kontakt gestaltet sich von da an emotional durchlässiger und atmosphärisch gelöster. Der „Einschlupf“ in eine beginnende Selbstempathie-- über den Körper-- ist geschafft. Literatur Fuchs, M. (2013): Funktionelle Entspannung. Theorie und Praxis eines körperbezogenen Psychotherapieverfahrens. 7. überarb. Aufl., Pro Business Verlag, Berlin Herholz, I., Johnen, R., Schweitzer, D. (2009): Funktionelle Entspannung. Das Praxisbuch. Schattauer, Stuttgart Lahmann, C., Schoen, R., Henningsen, P. et al. 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Psychotherapy and Psychosomatics 70(3), 151-157, http: / / dx.doi.org/ 10.1159/ 000056241 Loew, T., Siegfried, W., Martus, P., Tritt, K. (1996): „Functional relaxation“ reduces acute airway ob- Die Funktionelle Entspannung 4 | 2014 175 struction in asthmatics as effectively as inhaled terbutaline. Psychotherapy and Psychosomatics 65 (3), 124-128, http: / / dx.doi.org/ 10.1159/ 000289063 Marlock, G., Weiss, H. (Hrsg.) (2006): Handbuch der Körperpsychotherapie. Schattauer, Stuttgart Sohn, R. (1998): Die Funktionelle Entspannung in der Therapie des Kopfschmerzes vom Spannungstyp. Diss. Erlangen Tressel-Savelli, F. (2006): Die Wirksamkeit der funktionellen Entspannung im Vergleich zum Autogenen Training bei Essentieller Hypertonie. Eine kontrollierte Feldstudie mit Patienten einer Allgemeinpraxis. Diss. Regensburg Uexküll, T. v., Fuchs, M., Müller-Braunschweig, H., Johnen, R. (1994): Subjektive Anatomie. Theorie und Praxis körperbezogener Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart Die Autorin Dipl.-Psych. Doris Lange Psychologische Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin (TP), analytische Familientherapeutin, Lehrbeauftragte für Funktionelle Entspannung, 1. Stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Funktionelle Entspannung. ✉ Doris Lange Badborngasse 1a | D-35510 Butzbach Tel. (0049)-(0)60 33-732 32
