körper tanz bewegung
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Stichwort: Berührung
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Ulfried Geuter
Kaum ein Thema ist in der Psychotherapie so umstritten wie die Berührung (Smith et al. 1998). Das geht auf Freuds Abstinenzgebot zurück, Patienten gegenüber in jeglicher Hinsicht Distanz zu wahren. Es war gedacht für männliche Analytiker, die mit hysterischen Patientinnen arbeiteten, deren Phantasiewelt sexuell aufgeladen war. Nicht zuletzt durch ein Berührungsverbot wollte Freud erotische Verstrickungen vermeiden.
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68 körper-- tanz-- bewegung 3. Jg., S. 68-71 (2015) DOI 10.2378 / ktb2015.art11d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Stichwort Stichwort: Berührung Ulfried Geuter spräch von Körper zu Körper verstanden. Studien zeigen, dass Therapeuten Patienten öfter berühren als sie es zugeben (Geib 1998). 85 % umarmen Patienten (Zur 2007). Über solche Formen hinaus wird Berührung in der Körperpsychotherapie intentional mit unterschiedlichen Zielen eingesetzt (Hilton 1996; Totton 2006; Young 2007; Zur 2007): ● um mit den Händen Veränderungen und Spannungen beim Patienten zu bemerken (Johnen 2010, 68); ● um dem Patienten zu helfen, etwas zu spüren, das er noch nicht spüren kann. Berührung ist so ein Hilfsmittel, um Selbstaufmerksamkeit in einer Beziehung zu fördern und psychische Inhalte bewusst zu integrieren (Rispoli/ Andriello 1991). Hier kann man von einer sondierenden Berührung oder einer „Spür-Hilfe“ sprechen (von Arnim 1998). ● um den Atem anzuregen und so die Lebendigkeit zu wecken; ● um das Gefühl eines Verbundenseins mit einem anderen Menschen zu nähren (Brown 1988); ● um eine Grenze in einer Beziehung zu erkunden, zum Beispiel durch körperliches Wegstoßen, bei dem man sich abgrenzend einen anderen berührt; ● um den Patienten angesichts eines Affektsturms zu halten und zu beruhigen; Reinert (2007) empfiehlt, Borderline-Patienten zu halten, um ihnen Zustände der Ruhe zu verschaffen. K aum ein Thema ist in der Psychotherapie so umstritten wie die Berührung (Smith et al. 1998). Das geht auf Freuds Abstinenzgebot zurück, Patienten gegenüber in jeglicher Hinsicht Distanz zu wahren. Es war gedacht für männliche Analytiker, die mit hysterischen Patientinnen arbeiteten, deren Phantasiewelt sexuell aufgeladen war. Nicht zuletzt durch ein Berührungsverbot wollte Freud erotische Verstrickungen vermeiden. Die Annahme, dass Körperberührung mit erotischer Berührung identisch sei, ergab sich aus der Triebtheorie. Sie hatte eine solche ideologische Macht, dass viele Psychoanalytiker jede Berührung als triebhafte Befriedigung von Bedürfnissen ansahen und in den USA manche selbst den Händedruck ablehnten (McLaughlin 1995). Holder (2000) riskiert für den Erhalt dieser Ideologie sogar die Retraumatisierung von Patienten, wenn er dafür plädiert, Traumata zu behandeln, indem Patienten diese durch die Verweigerung von Berührung wiedererleben. Andere Psychoanalytiker haben hingegen in jüngerer Zeit dafür plädiert, körperliche Berührung therapeutisch zu nutzen (Heisterkamp 1993; Moser 2001). Mit der Humanistischen Psychotherapie hatte schon früher eine differenziertere Auseinandersetzung über Schaden und Nutzen von Berührung eingesetzt (Goodman / Teicher 1988; Holroyd / Brodsky 1980; Horton et al. 1995; Jansen / Barron 1988; Kertay / Reviere 1993; Mintz 1969; Pattison 1973). Dabei wurde Berührung entideologisiert und als ein Ge- Stichwort: Berührung 2 | 2015 69 ● um einen heftigen Affekt zuzulassen, zu halten oder auch auszudrücken (Fagan / Silverthom 1998, 60; Worm 2007, 227). Goodman und Teicher (1988) sprechen von provozierender Berührung, wenn diese dazu dient, nicht gegenwärtige psychische Inhalte an die Oberfläche zu holen. Eine besondere Technik einer solchen Berührung ist das Bonding. ● um in einer Inszenierung mit dem Therapeuten unter Berührung eine kindliche Szene wiederzubeleben. Einige dieser Funktionen können nicht nur durch eine Berührung des Therapeuten, sondern auch durch eine Selbstberührung des Patienten gefördert werden. Berührung hat eine grundsätzliche Bedeutung für die menschliche Existenz. Säugetiere sind genetisch darauf programmiert, sich in haltender Berührung miteinander zu verbinden (Sunderland 2004). Babys entwickeln im körperlichen Kontakt das Gefühl, geliebt zu werden. In frühen taktilen Erfahrungen baut sich ihr Ich auf (Anzieu 1996). Berührungen hinterlassen auf allen Ebenen des Denkens, Fühlens, Empfindens oder Handelns körperliche Spuren (Grunwald 2012), positive wie negative. Intentionale Berührungen können daher als therapeutisches Mittel genutzt werden, um defizitäre oder konflikthafte Erfahrungen mit Berührung in der Lebensgeschichte anzusprechen und in der Therapie zu erkunden und zu verändern. In den verschiedenen Formen der Körperpsychotherapie hat die Berührung eine psychotherapeutische Funktion. Das ist ein Unterschied zur Touch-Therapy, zu der Field (2003) Methoden wie Shiatsu, Reflexzonenbehandlung, Osteopathie oder Kinesiologie rechnet. In der Psychotherapie ist Berührung eine bezogene Berührung in einer Interaktion. Sie ist kein Betasten des Körpers als etwas Drittem, sondern ein Beziehungsgeschehen, das die innere Mitbewegung des Therapeuten einschließt (Eisler 1991). Als Körperpsychotherapeuten berühren wir den erlebten Körper des Patienten im Mit-Fühlen eigenen Berührtseins. Berührung ist listening touch (Young 2007). Der Berührende lauscht mit seinem Körper auf den des Berührten. Berührung ist kein notwendiges Prinzip jeder körperpsychotherapeutischen Arbeit, und sie ist auch nicht immer wünschenswert (Kepner 2005, 117). Mit Berührung zu arbeiten, erweitert aber die therapeutischen Möglichkeiten. Ein Kriterium dafür, wann man mit Berührung arbeiten kann, ist das der subjektiven Stimmigkeit. Berührung muss sich für den Patienten wie für den Therapeuten stimmig anfühlen, damit sie hilfreich sein kann. Hat ein Therapeut Vorbehalte gegen eine Berührung, kontaminiert er sie. Sagt der Patient zwar, die Berührung sei stimmig, aber es fühlt sich in der Beziehung doch nicht so an, kann das im schlimmsten Fall ein Hinweis auf die Reinszenierung einer traumatischen Erfahrung sein. Eine stimmige, reflektierte und intentional-helfende Berührung kann dagegen bei traumatisierten Patienten sehr hilfreich sein (Vogt 2007, 91), selbst nach sexuellem Missbrauch (Horton et al. 1995; Price 2006). Der Therapeut muss daher bei berührender Körperarbeit nicht nur auf sprachliche Rückmeldungen, sondern auch auf körperliche Rückmeldungen des Patienten und auf seine eigene somatische Resonanz achten (Geuter 2015, 308 ff ). Um dabei in der Selbstwahrnehmung sicher zu sein, bedarf es viel eigener therapeutischer Körpererfahrung. Therapeutische Berührungen müssen klar und eindeutig sein und in sicheren Grenzen erfolgen (Müller-Braunschweig 2004, 47). Sie sollten sich nach dem Prinzip der Selbstbestimmung des Patienten richten (Eberhard-Kaechele 2015). In der Psychoanalyse wird ein Berührungsverbot oft mit dem eingangs erwähnten Abstinenzgebot begründet. Abstinenz aber kann man zum einen als eine behandlungstechnische Regel, auf Berührung zu verzichten, zum 70 2 | 2015 Ulfried Geuter anderen als eine verantwortungsethische Grundhaltung verstehen (Eberhard-Kaechele 2015). Eine Ethik der Berührung richtet sich nach dem Maßstab, eindeutig auszuschließen, „dass ein Berührungsangebot den Bedürfnissen des Therapeuten dient“ (van Haren 1998, 933). Abstinenz ist nach diesem Verständnis nicht ein therapeutisches Verhalten, sondern eine Haltung in der Beziehung (Worm 2007). Jede Berührung, sei es eine physische oder auch eine emotionale, muss dem Patienten dienen und nicht dem Therapeuten (Boyesen 1987, 147; Heisterkamp 1993, 91; Johnen 2009, 11). Insofern ist die Ethik der Berührung keine andere als die Ethik der Worte. Denn auch mit Worten kann ein Therapeut den Patienten verführen, seine Bedürfnisse zu erfüllen, und eine sexuelle Grenze überschreiten. Über die Einhaltung des ethischen Maßstabs entscheidet nicht die körperliche Nähe in Zentimetern, sondern die Intention und Bedeutung des Kontakts. Literatur Anzieu, D. (1996): Das Haut-Ich. Suhrkamp, Frankfurt Arnim, A. von (1998): Funktionelle Entspannung als Therapie bei Autodestruktion. In: Wiesse, J., Joraschky, P. (Hrsg.): Psychoanalyse und Körper. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 27-51 Boyesen, G. (1987): Über den Körper die Seele heilen. Biodynamische Psychologie und Psychotherapie. Eine Einführung. Kösel, München Brown, M. (1988): Die heilende Berührung. Die Methode des direkten Körperkontakts in der körperorientierten Psychotherapie. Synthesis, Essen Eberhard-Kaechele, M. (2015): Abstinenz. Ethisches Therapeutenverhalten und selbstbestimmtes Patientenverhalten. körper-- tanz-- bewegung 3(1), 20-26 Eisler, P. (1991): „Berühren aus Berührtsein“ in der Integrativen Leibtherapie. Integrative Therapie 1-2, 85-116 Fagan, J., Silverthom, A. S. 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Zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen. Mitherausgeber von „körper-- tanz-- bewegung“. ✉ Prof. Dr. Ulfried Geuter Otto-von-Wollank-Str. 57 | D-14089 Berlin u.geuter@gmx.de
