eJournals körper tanz bewegung 3/1

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2015.art02d
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2015
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Arbeit an Aggressionsnarrativen

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2015
Annette Höhmann-Kost
Frank Siegele
In der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie wird Aggression immer als destruktive Kraft verstanden. Möglichkeiten der Regulation von aggressiven Impulsen sowie der Förderung von sozialverträglichem Verhalten auf der Grundlage der zentral bedeutsamen Konzepte ‚komplexes Lernen‘ und ‚multiple Stimulierung‘ werden auf allen Leibebenen (Körper, Emotionen, Kognitionen, soziales Miteinander) aufgezeigt.
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2 körper-- tanz-- bewegung 3. Jg., S. 2-11 (2015) DOI 10.2378 / ktb2015.art02d © Ernst Reinhardt Verlag Fachbeitrag Arbeit an Aggressionsnarrativen Wege der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie Annette Höhmann-Kost, Frank Siegele In der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie wird Aggression immer als destruktive Kraft verstanden. Möglichkeiten der Regulation von aggressiven Impulsen sowie der Förderung von sozialverträglichem Verhalten auf der Grundlage der zentral bedeutsamen Konzepte „komplexes Lernen“ und „multiple Stimulierung“ werden auf allen Leibebenen (Körper, Emotionen, Kognitionen, soziales Miteinander) aufgezeigt. Schlüsselbegriffe Integrative Leib- und Bewegungstherapie, Aggressionsnarrative, komplexes Lernen, Impulskontrolle, Verhaltenstraining, multiple Stimulierung Work on Aggression Narratives. Options Based on Integrative Movement Therapy In Integrative Movement Therapy aggression is always understood as a destructive power. This article presents options for the regulation of aggressive / destructive impulses and ways to foster socially acceptable behaviour on the basis of the core concepts of Integrative Therapy “complex learning” and “multiple stimulation” at all levels of the subjective body (physical body, emotions, cognitions, social cooperation). Key words Integrative Movement Therapy, aggression narratives, complex learning, impulse control, behaviour training, multiple stimulation „Leben lässt sich nur rückwärts verstehen, muss aber vorwärts gelebt werden.“ Søren Kierkegaard Aggression ist keine Krankheit Aggressionen machen Angst! Aggressionen faszinieren! Aggressionen sind alltäglich! In diesem weiten Spannungsfeld bewegt sich die therapeutische Arbeit. Aggression ist keine Krankheit, aber sie kann ein Symptomkomplex im Rahmen einer klinisch relevanten Erkrankung sein und hat sehr unterschiedliche Formen. Aggressionen sind nicht zuletzt Verhaltensweisen, die als Möglichkeiten immer in uns Menschen liegen. Sie wurzeln in der biologischen Natur des Menschen. Bewertet werden können Aggressionen aber nur mit moralischen und ethischen Maßstäben, wie sie sich im Verlauf der Kulturgeschichte des Menschen entwickelt haben. Eine klare Grenze zu ziehen zwischen „alltäglicher“ Aggression und Zuständen mit psychopathologischen Komponenten, ist oft nicht eindeutig möglich. Aggressionsforscher im Arbeit an Aggressionsnarrativen 1 | 2015 3 haltens multikausal zu sehen sind. Aggressionen scheinen auf einem uralten phylogenetischen Erbe zu beruhen und sind zu einem erheblichen Anteil auf die genetische Ausstattung zurückzuführen. Ob es tatsächlich zu ausgeprägten aggressiven Verhaltensmustern kommt, hängt neben einer Vielzahl von Erkrankungen und Störungen ganz entscheidend mit der psychosozialen Entwicklung zusammen (Bogerts et al. 2011; Bogerts / Möller-Leimkühler 2013). Hier spielen Lernprozesse eine große Rolle, insbesondere Konditionierungsprozesse und „Lernen am Modell“ (Bandura 1979; Jonas et al. 2007). Ganz entscheidend sind auch situative Faktoren, die durch entsprechende Trigger aggressive Impulse aktivieren können. Hierzu zählen körperliche und / oder seelische Bedrohungen, Frustration, ungelöste Konflikte, aggressive und / oder sexualisierte Atmosphären in einer Gruppe sowie aversive Reize in Form von Hitze, Lärm und Enge, aber auch Schmerzen, Erschöpfung und das Erleben von Sinnleere. Alkohol und andere suchterzeugende Substanzen sowie schwer auszuhaltende Gefühle, z. B. heftige Wut, Angst, Ohnmacht oder Langeweile, können ebenfalls die Aggressionsbereitschaft steigern. Natürlich gibt es auch instrumentelle Aggression, die Destruktivität billigend in Kauf nimmt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen (z. B. Konkurrenz), und es gibt zweckrationales Kalkül, oft ohne situativen Affekt, wie z. B. bei „kaltem“ Hass oder bei Rache. Aggressives Verhalten ist auf der Ebene subjektiver Betrachtung und Bewertung kurzfristig meistens sinnvoll. Menschen reagieren damit auf Bedrohungs- und Überforderungssituationen und schützen sich vor Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühlen, vor Frustration und Kränkung, unerträglicher Beschämung oder Verletzung. Oft dient es der Abwehr von Ängsten (Hoffmann 2012) oder der Wiederherstellung von (Selbst-)Sicherheit und Kontrolle (Flammer 1990) sowie der eigenen Würde. psychologischen Feld fanden überwältigenden Konsens in einer gemeinsamen Definition: „Aggression ist jede Form von Verhalten, das darauf abzielt, einem anderen Lebewesen zu schaden oder es zu verletzen, das motiviert ist, diese Behandlung zu vermeiden“ (Baron / Richardson 1994, zitiert nach Krahé 2007, 267). Bei aller Übereinstimmung macht die Komplexität des Phänomens Aggression aber eine einheitliche Definition und Bewertung unmöglich. So hält sich in weiten Kreisen die problematische Vorstellung von „kreativer“, „positiver“ oder „konstruktiver“ Aggression. Wir lehnen die letztgenannten Begrifflichkeiten und Bewertungen ab. Darin liegt leicht eine Doppelbotschaft. Dies ist dysfunktional und verwischt notwendige Grenzen. Im Integrativen Ansatz (Petzold 2006; Bloem et. al 2004) verstehen wir Aggression immer als destruktive Kraft. Dabei wird aggressives Verhalten von der Motivation her definiert, d. h. es handelt sich um Aggression, wenn es von der Absicht und / oder dem Wissen geleitet wird, zu verletzen, zu beschädigen, zu zerstören oder dies billigend in Kauf zu nehmen. Gemeint sind: körperliche Gewalt in Form von Bedrohung, Verletzung oder Zerstörung sowie auch seelische Verletzungen in Form von Entwertung, Respektlosigkeit, Demütigung, Normverletzung, Stigmatisierung, emotionaler Gleichgültigkeit, Provokation, Kommunikationsverweigerung, Vorurteilen etc. Als positive Qualitäten, die es gegebenenfalls zu fördern und zu üben gilt, sehen wir: angemessene bzw. regulierte Wut ohne Zerstörungs- und Verletzungswillen, Beherztheit, Selbstbehauptung, Durchsetzungskraft, Standhaftigkeit, Mut etc. Ursachen und Motivationen für aggressives Verhalten Es besteht unter Fachleuten weitestgehend Konsens, dass die Ursachen aggressiven Ver- Arbeit an Aggressionsnarrativen 4 1 | 2015 Höhmann-Kost, Siegele Aggressionsbewältigung mit Integrativer Leib- und Bewegungstherapie (IBT) Entsprechend dem Integrativen Leibkonzept (Petzold / Sieper 2012; Waibel/ Jakob-Krieger 2009) arbeiten wir immer auf allen Leibebenen: der Ebene des Körpers, der Gefühle, des Verstandes-- unter besonderer Hervorhebung der Willensarbeit- - und des sozialen Miteinanders. Dabei haben wir eine Doppelstrategie im Blick: Stoppen und Regulierung von vorhandenen Aggressionsmustern sowie Förderung von sozial vertretbarem, gesundem, würdevollem Verhalten. Die meisten unserer Patienten wollen niemanden schädigen, aber es passiert. Zunächst klären wir, was jeder Einzelne unter Aggression versteht. Die Patienten sind meist sehr beeindruckt, wie unterschiedlich ihre Vorstellungen davon sind: von Mit-lauter-Stimme-Sprechen bis hin zu Mord und Totschlag. Auffallend ist, dass die meisten das Gefühl Wut mit Aggression gleichsetzen. Katharsis-- Nein Das Dampfkesselmodell von Konrad Lorenz (1963) kann auf Grund von neueren Forschungsergebnissen nicht als aggressionsabbauende und gesundheitsfördernde Maßnahme angesehen werden (Bushman et al. 1999; Anderson / Bushman 2002; Hüther 2008). Entsprechend ist auch das Schlagen auf einen Boxsack keine förderliche Übung. Das sogenannte Abreagieren führt zwar zu kurzfristigen Entlastungsempfindungen, danach aber nachweislich zu einer erhöhten Aggressionsbereitschaft (Bushman et al. 1999). Mit jedem erneuten Ausdrücken von Aggression wird das neuronale Aggressionsmuster aktiviert und geübt und somit neurobiologisch gebahnt und nicht etwa besser steuerbar. Dies ist insbesondere für Menschen fatal, die zu Wutausbrüchen neigen oder z. B. an einer „intermittierenden explosiblen Störung“ (F63.8, DSM-5) leiden. Die aggressionsfördernde Wirkung ist besonders nachhaltig, wenn die körperliche Aktion mit destruktiven Gefühlen, Gedanken und inneren Bildern verknüpft wird (körperliche, emotionale und kognitive Leibebenen). Arbeit an Gefühlen Gefühle wirken als Erregungszustände im Somatischen und bestimmen maßgeblich das subjektive Erleben sowie auch das kognitivgeistig Wertende und Beurteilende. Gefühle beeinflussen uns auf allen Leibebenen. Aggressive Impulse können von ganz unterschiedlichen Gefühlen begleitet werden. Als Auslösergefühle finden wir häufig Angst, Wut, Hass, Neid, Scham, Ohnmacht, während des aggressiven Aktes Lust, Triumph, Zufriedenheit und Faszination. Nach einer aggressiven Handlung kommt es oft kurzfristig zum Erleben von Erleichterung, Entspannung und Zufriedenheit. Dem folgen später in vielen Fällen Angst, Scham, schlechtes Gewissen, Verzweiflung, Schuldgefühle und Reue. All das begründet die Arbeit an Gefühlen. Es geht um die Wahrnehmung von Gefühlen, Kennenlernen, Aushalten, Deuten, Regulieren, Versprachlichen und gegebenenfalls um das Verändern von Gefühlen. Ein schönes Beispiel für emotionale Umstimmung gibt Kreidner-Salahshour in Ausgabe 1 / 2014 dieser Zeitschrift. Viele unserer Patienten haben große Probleme im Umgang mit Wut und möchten daran arbeiten. Beispielhaft beschreiben wir eine Gruppenstunde: Ich (A. H.-K.) frage: „Was ist das Eigentliche, was bei Ihnen Wut auslöst? Schildern Sie bitte ein konkretes Beispiel.“ Einige Antworten: „Überforderung“ (mit dem Kind): → Wut → sie brüllt → sie schlägt zu „Frustration“ (er wird nicht verstanden): → Wut → Spannung → tritt die Tür ein „Hilflosigkeit“ (sie fühlt sich ausgeliefert): → Wut → Erstarrung Arbeit an Aggressionsnarrativen 1 | 2015 5 „Kommt aus heiterem Himmel“ (er versteht nicht warum-- möglicherweise zeitliche und situative Verschiebung): → Wut → er schlägt zu Alle fühlen sich mit ihrem eigenen Verhalten unwohl und sind im Kontakt mit schwierigen Gefühlen. Die meisten haben zum ersten Mal bewusst über den Zusammenhang zwischen dem auslösenden Stimulus und ihrem wütenden Verhalten nachgedacht. Ich schlage eine praktische Bewegungsübung vor: Im Gehen soll jeder einen Tennisball mit kräftigem Druck auf den Boden prellen und wieder auffangen (funktionale Modalität der IBT, kontrolliertes Handeln, kraftvoller Aus-Druck, und der Ball kommt als Ein-Druck wieder zurück). Nach einer Weile des Übens wird das Ballprellen erweitert um Worte wie: „stopp“, „weg“ oder „nein“, und die PatientInnen achten auf die dazugehörige Gefühlsqualität (erlebniszentrierte Modalität der IBT). In der anschließenden Reflexionsrunde wird deutlich: Das laute Aussprechen fiel fast allen schwer, insbesondere das „Nein“. Andere waren peinlich berührt und hatten sich lächerlich gefühlt, den Atem angehalten und bald geschwiegen. Anderen tat kräftiges Ausatmen gut. In der nächsten Übungsphase arbeitet jeder mit einer selbst gewählten Aufgabe, wie z. B. einem lauten „Nein“, bewusstem Krafteinsatz oder intensivem Ausatmen. Am Ende der Stunde fühlen sich alle-- zur allgemeinen Verwunderung- - wach und gekräftigt (bottom-up: vom Körper zum Gefühl zum Wohlbefinden). Als sich alle noch einmal in der Vorstellung in die anfangs geschilderte wutauslösende Situation versetzen, gibt es auch hier eine deutliche Veränderung. Das Erleben von Ausgeliefertsein ist verschwunden, die Wut ist abgeschwächt. Stattdessen haben sie mehr Zuversicht. Sie fühlen sich selbstbewusster und trauen sich zu, die Situation besser meistern zu können, mehr „auf Augenhöhe“ und mit Würde. Entwertung Entwertung ist indirekte Aggression und immer verletzend. Die Menschen bekommen Angst, fühlen sich minderwertig und entwürdigt. Dies kann bei wiederholten Erfahrungen ein schwer einschätzbares Aggressionspotential erzeugen. Folgende Partnerübung hat sich bewährt: Papiertaschentücher werfen (Anregung durch Linden 2007): Jedes Päckchen Papiertücher symbolisiert eine Entwertung. A steht im Abstand von ca. 3 Metern vor B. B wirft nach und nach mehrere Päckchen auf A. Der „Angriff“ ist materiell eher eine geringfügige Angelegenheit und für die meisten Menschen tolerierbar. Ausschlaggebend ist, dass der Körper zum Ort des Erlebens wird. Meistens kommt es zu einem reflexartigen Versuch, die Päckchen zu fangen. In der nächsten Runde sollen die Päckchen auf dem Körper aufprallen. „Was fühlen Sie? “- - „Was geht Ihnen durch den Sinn? “- - „Was tun Sie? “ Die Reaktionen sind vielfältig: Atem anhalten, sich zusammenziehen / kleinmachen bzw. Ganzkörperspannung sind die häufigsten körperlichen Reaktionen, dazu Angst, Wut und Gefühle des Ausgeliefertseins („multiple Stimulierung“ auf allen Leibebenen). In der dritten Runde empfehle ich, mit offenen Augen den „angreifenden“ Päckchen entgegenzuschauen, in einer aufgerichteten Körperhaltung weiterzuatmen und nur dort, wo sie auf den Körper aufprallen, mit einer kurzfristigen Spannung entgegenzuwirken. Gleichzeitig soll sehr bewusst der Moment des Abprallens sowie das sofortige Lösen der Muskulatur wahrgenommen werden. „Wie geht es Ihnen jetzt dabei? “ Manche Menschen finden die Rolle des Angreifers, hier des Entwerters, belastender als die des Entwerteten. Für den Moment hilft die Überlegung, dass der „Angriff“ in dieser Übung als ein „Geschenk“ für den Partner zu verste- 6 1 | 2015 Höhmann-Kost, Siegele hen ist. Er gibt die Möglichkeit, eine Erfahrung zu machen und eine Schutz- und Bewältigungsreaktion zu üben. Natürlich wechseln die Partner die Rollen. Manchmal müssen andere Varianten gefunden werden, z. B. ein stärkerer Reiz durch ein Sandsäckchen oder ein größerer Abstand zwischen den Partnern. Für einige ist zunächst „nur“ ein teilnehmendes Beobachten möglich. Oft muss auf der körperlich-funktionalen Ebene das schnelle, kurzfristige Muskelanspannen und -lösen geübt werden. Ziel ist zunächst die Erfahrung der Sicherheit: „Auch in einer unausweichlichen Entwertungssituation / Demütigung bin ich nicht völlig ausgeliefert. Ich kann der Entwertung eigene Kräfte entgegensetzen. Ich kann abprallen lassen“- - in der Übung zunächst mit Hilfe von Muskelkraft. Letztendliches Ziel aber ist die aufgerichtete innere Kraft und Haltung: „Ich stehe zu mir. Es gibt keinen Zwang, das fremde Urteil (die Entwertung) zu verinnerlichen.“ In dieser Überwindung der Entwertung und der drohenden Scham wird Würde zurückgewonnen oder bewahrt (Bieri 2013). Auf der anderen Seite bietet die Übung den Ausgangspunkt, um sich mit eigenen Täteranteilen auseinanderzusetzen, und nicht zuletzt dient sie der Aggressionsvorbeugung. Aggressionsregulation mit Elementen aus den Kampfkünsten Seit ihren Anfängen wurden in der IBT Elemente aus den traditionellen asiatischen Kampfkünsten therapeutisch genutzt. Neben bestimmten inneren Haltungen und Werten spielen Rituale, die Einhaltung von Regeln und strukturierte Übungen eine große Rolle. Rituale A) Hände: Impuls- - Stopp (Aktivierung- - aktive Hemmung) Eine Hand ist zur Faust geballt. Die Finger der anderen Hand sind gestreckt. Beide werden vor dem Brustkorb zusammengebracht und so für eine Weile konzentriert gehalten. Die geballte Faust steht symbolisch für Aktivierung (entsprechend dem sympathischen Nervensystem). Die gestreckte Hand steht für aktive Hemmung, sie stoppt die Aktion (entsprechend dem parasympathischen Nervensystem). Die Faust verkörpert hier destruktive Impulse. Sie kann aber auch ein Symbol für Kraft sein. Die Stopp-Hand ist die regulierende, die Hand der Mäßigung und Begrenzung. Beides haben wir selbst „in der Hand“. In dieser bewussten Sammlung im Ritual kann die „äußere“ Körperhaltung Einfluss nehmen auf die „innere“ Haltung der Werte. Regelmäßig geübt kann diese Haltung ein Symbol für Regulationskompetenz, Verantwortung und das gute Maß werden. B) Verneigung Die Verneigung steht für die innere Haltung von Auf-Richtigkeit, Respekt, Wertschätzung und Würde im Sinne der Selbstfürsorge sowie der Unversehrtheit des anderen. Wir verbinden sie mit der oben beschriebenen Handhaltung. Nach der inneren Sammlung in einer aufgerichteten Körperhaltung wird der Oberkörper mit geradem Rücken nach vorne geneigt. So wirken wir Assoziationen der Unterordnung, des Verbiegens oder Buckelns entgegen (Siegele 2013). Abb. 1: Symbol für Regulationskompetenz Arbeit an Aggressionsnarrativen 1 | 2015 7 Fauststoßübungen Eine zentrale Wirkung liegt auf einem präzisen Bewegungsstopp vor dem Körper des Partners und auf dem Augenkontakt. Die Fauststoßübungen sind intensiv. Sie berühren unmittelbar emotional, sie wühlen auf, gehen „unter die Haut“. Manchmal ist das Erschütterndste das Erleben des eigenen Aggressionspotentials. Wir wissen inzwischen, dass Veränderungsprozesse auf der Grundlage emotionaler Beziehungserfahrungen zu nachhaltigsten Wirkungen führen können. Bei diesen Übungen sind Beziehungserfahrungen unvermeidlich. Alle Aspekte zusammen ergeben auch hier „multiple Stimulierung“ auf allen Leibebenen. Die Übungen gründen auf neurobiologischen und psychobiologischen Erkenntnissen (Grawe 2004; Hüther / Petzold 2012) sowie auf Forschungen zur aggressionsreduzierenden und gesundheitsfördernden Wirkung der Kampfkünste (Bloem et al. 2004; Bitzer-Gavornik 1994). Ziel ist die Bahnung von kontrollierten und erwünschten Verhaltensweisen auf der körperlichen Ebene und bezüglich einer klaren inneren Haltung mit sozialverträglichen ethisch-moralischen Werten und regulierten Gefühlen. Die Gleichzeitigkeit der disziplinierten Körperbewegungen und der friedfertigen Gedanken und Gefühle ist dabei die notwendige Voraussetzung für eine positive Wirkung. Dies erfordert umfassende Willensarbeit und -übung. Hierzu ein Beispiel aus der Suchttherapie (von F. S.): Herr M. ist seit vielen Jahren substanzabhängig. Unter Drogen kam es im Laufe seiner Geschichte immer wieder zu Impulsdurchbrüchen und gewalttätigen Auseinandersetzungen. Jetzt will er dieses Verhalten verändern. Er hat bereits die Basisübungen zu „Respekt und Selbstfürsorge“ (Verneigung) geübt und verinnerlicht, so dass nun an der Verbesserung seiner „Aggressionsregulationskompetenz“ (Höhmann-Kost / Siegele 2008) gearbeitet werden kann. Hierfür werden u. a. mit einem Partner verschiedene Fauststoßtechniken geübt. Bei dieser Angriffsübung stehen sich die Partner im Abstand von gut einer Armlänge gegenüber. Herr M. führt einen Fauststoß in Richtung Solarplexus bzw. Kinn seines Partners aus, ohne direkte körperliche Berührung. Der Angriff wird von diesem nicht abgewehrt, sondern „passiv“ entgegengenommen. Diese Situation triggert bei Herrn M. alte Erfahrungen, und er droht in sein gewalttätiges Verhaltensmuster zu rutschen und „zuzuschlagen“. Er kämpft gegen diesen Impuls an und bricht die Übung ab. Damit schützt er gleichermaßen sich und seinen Partner, indem er aus dem Kontakt geht, Zeit gewinnt und über konzentriertes Atmen sich selbst (! ) beruhigt (down regulation). Er ist in innerer Verbindung zu seinem Verhalten, und gleichzeitig nutzt er seine Fähigkeit zu distanzierender Selbstbewusstheit. Er kann Abstand nehmen von sich selbst, sich in gewisser Weise wie von außen betrachten und ist so in der Lage, sein Verhalten auch kognitiv zu bewerten (Exzentrizität). Mit Unterstützung der Gruppe und des Therapeuten kann er bald wieder in die Übung einsteigen. Diesmal wählt er einen Abstand von ca. sechs Metern zum Partner. Er führt die Schlagtechnik erst ganz langsam und dann mit zunehmender Intensität aus. Dabei verringert er Schritt für Schritt den Abstand zum Partner, d. h. er geht in seinem eigenen Tempo auf diesen zu. Der Therapeut befindet sich während dieses Prozesses zunächst an Herrn M.’s Seite. Je sicherer sich Herr M. fühlt, umso mehr tritt der Therapeut in den Hintergrund, behält aber seine beobachtende, sichernde Position bei. In der abschließenden Reflexion äußert sich Herr M. sehr zufrieden, vor allem weil er die Erfahrung machen konnte, dass es zwischen den Extremen Zerstörung und Flucht einen Zwischenraum gibt, den er selbst gestalten und kontrollieren kann, und dass er in sei- 8 1 | 2015 Höhmann-Kost, Siegele nem schwierigen Veränderungsprozess nicht alleine gelassen wird (soziale Leibebene). In einer späteren Sitzung ist die Gruppe bei dem Thema Macht/ Ohnmacht angelangt, und auch Herr M. ist bereit, sich damit tiefergehend auseinanderzusetzen. Die Ebene der Augenhöhe wird jetzt vorübergehend verlassen. Stattdessen befindet sich nun der „Angreifer“ aufrecht kniend direkt über seinem Partner, der auf dem Rücken liegt. Der Blickkontakt besteht weiterhin, allerdings „von oben nach unten“ bzw. „von unten nach oben“. Herr M. liegt auf dem Rücken in der Position des Ohnmächtigen. Diese Situation meistert er. Die Rolle des „Angreifers“ hingegen wird zur großen Herausforderung. Nach seinem fünften Fauststoß bricht er in Tränen aus und stoppt die Übung. Ihm wird erstmals als vitales Evidenzerlebnis das ganze Ausmaß der Gewalt, die ihm angetan wurde und die er anderen zugefügt hat, unmittelbar deutlich. Er ist zutiefst erschüttert und empfindet darüber großes Entsetzen, tiefe Trauer und Scham. Er erfährt aber auch Trost durch die Gruppe, die ihn aushält und annimmt, wie er ist. Getragen von dieser leiblichen Erfahrung kann er eine neue Sicht auf die Gewalterfahrungen in seinem Leben entwickeln. Aggression und Aggressionsregulation als Prozess: ein Modell Wir haben ein Modell entwickelt, welches in vereinfachter Form Schutz- und Verteidigungsaggression als Verlaufsgeschehen mit mehreren Phasen veranschaulichen soll. Die Sanduhr symbolisiert den zeitlichen Ablauf. Auf der linken Seite unseres Modells finden sich die Entwicklungsphasen des individuellen aggressiven Potenzials, welches letztendlich bis weit in die Evolutionsbiologie zurückreicht. Nach der Entscheidung ist, rechts im Bild, die „Phase danach“ mit ihren Folgen und Chancen angedeutet. Abb. 2: Aggression und Aggressionsregulation als Prozess (überarbeitetes Modell von Höhmann-Kost / Siegele 2008) Arbeit an Aggressionsnarrativen 1 | 2015 9 In den Mittelpunkt stellen wir die aktuelle Gegenwartssituation, die ein Individuum wahrnimmt, kognitiv und emotional bewertet, um dann eine Entscheidung zu treffen: für destruktives Verhalten oder für sozialverträgliches Verhalten. Einige Hirnforscher (z. B. Kornhuber / Deecke 2008) vertreten, dass gewisse Hirnstrukturen (Neokortex, limbische Strukturen) die biologische Basis dafür bieten, dass die meisten Menschen grundsätzlich die Möglichkeit haben, ihre affektiven aggressiven Impulse durch Gefahrenabschätzung oder normative Hemmung zu kontrollieren. Dies ist möglich, wenn eine sozialisatorisch vermittelte normative Steuerung als Aggressionshemmung durch eine „Veto-Kompetenz des Willens“ (Petzold/ Sieper 2008, 44) zum Tragen kommt. In diese Hemmung fließt ein, was im Leben gelernt wurde, auch ethische, moralische und soziale Normen. D. h. die meisten Menschen sind den eigenen aggressiv-destruktiven Impulsen nicht ausgeliefert, sondern können sie stoppen und sich davon distanzieren, vorausgesetzt, sie haben einen „geübten Willen“. Damit sind Jugendliche und Erwachsene, bei denen keine pathologisch veränderten Hirnstrukturen oder schwere psychische Beeinträchtigungen vorliegen, in der Regel auch für ihr aggressives Verhalten verantwortlich, und sie können sich im ethischen und juristischen Sinne schuldig machen (Bogerts et al. 2011). Ausblick Eine nachhaltige Verhaltensänderung ist bei ausgeprägten Aggressionsmustern (Aggressionsnarrativen) nur durch regelmäßiges multimodales Üben über einen langen Zeitraum möglich (Bloem et al. 2004). Dies entspricht Willensarbeit auf allen Leibebenen. Wir hoffen, dass wir die unlösbare Vernetzung der verschiedenen Leibebenen durch biopsycho-soziale Interventionen und Übungsfolgen verdeutlichen konnten. Unter einer evolutionsbiologischen Perspektive scheint die individuelle Aggressivität über die Zeit hinweg abgenommen zu haben (Pinker 2011). Verfolgt man die tägliche Nachrichtenlage, ergibt sich jedoch ein anderes, bedrückendes und bedrohliches Bild. Vielleicht setzen sich prosoziale gesellschaftliche Kräfte und das persönliche Engagement von vielen Einzelpersonen doch allmählich durch. Wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben. Literatur Anderson, C. A., Bushman, B. J. (2002): Human aggression. Annual Review of Psychology 53, 27-51, http: / / dx.doi.org/ 10.1146/ annurev.psych.53.100901.135231 Bandura, A. (1979): Aggression: Eine sozial-lerntheoretische Analyse. Stuttgart, Klett Bieri, P. (2013): Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. Hanser, München Bitzer-Gavornik, G. (1994): Persönlichkeitsveränderungen durch die Auswirkung von Karate-Do. Unveröffentlichte Dissertation. Karl Franzens Universität, Graz Bloem, J., Moget, P., Petzold, H. G. (2004): Budo, Aggressionsreduktion und psychosoziale Effekte: Faktum oder Fiktion? Forschungsergebnisse-- Modelle-- psychologische und neurobiologische Konzepte. Integrative Therapie 1-2 / 2004, 101-149 Bogerts, B., Möller-Leimkühler, A. M. (2013): Neurobiologische Ursachen und psychosoziale Bedingungen individueller Gewalt. In: Nervenarzt 84, 1329- 1344, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ s00115-012-3610-x Bogerts, B., Peter, E., Schiltz, K. (2011): Aggression, Gewalt, Amok, Stalking. In: Möller, H.-J., Laux, G., Kapfhammer, H.-P. (Hrsg.): Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie. Band 2: Spezielle Psychiatrie. 4. erw. u. vollst. neu bearb. Aufl. Springer, Berlin / Heidelberg, 1503-1527 Bushman, B. J., Baumeister, R. F., Stack, A. D. (1999): Catharsis, aggression, and persuasive influence: Self-fulfilling or self-defeating prophecies? Journal of Personality and Social Psychology 76 (3), 367- 376, http: / / dx.doi.org/ 10.1037/ 0022-3514.76.3.367 Flammer, A. (1990): Erfahrungen der eigenen Wirksamkeit. Einführung in die Psychologie der Kontrollmeinung. Hans Huber, Bern / Stuttgart Grawe, K. (2004): Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen / Bern 10 1 | 2015 Höhmann-Kost, Siegele Hoffmann, S. O. (2012): Menschliche „Angstbeißer“. Zur Abwehr von Ängsten durch aggressives Verhalten. Persönlichkeitsstörungen 4, 225-231 Höhmann-Kost, A., Siegele, F. (2008): Auf dem Weg zur Aggressionsregulationskompetenz. Perspektiven und Praxis aus Sicht der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie. In: Integrative Bewegungstherapie 1 / 2008, 4-31 Hüther, G. (2008): Destruktives Verhalten als gebahnte Bewältigungsstrategie zur Überwindung emotionaler Verunsicherung-- Ein entwicklungsneurobiologisches Modell. In: Staemmler, F.-M., Merten, R. (Hrsg.): Therapie der Aggression. Perspektiven für Individuum und Gesellschaft. EHP- Kohlhage, Bergisch Gladbach, 13-28 Hüther, G., Petzold, H. G. (2012): Auf der Suche nach einem neurowissenschaftlich begründbaren Menschenbild. In: Petzold, H. G. (Hrsg.): Die Menschenbilder in der Psychotherapie. Interdisziplinäre Perspektiven und die Modelle der Therapieschulen. Krammer, Wien, 223-259 Jonas, K., Stroebe, W., Hewstone, M. (Hrsg.) (2007): Sozialpsychologie. 5. Aufl. Springer Medizin, Heidelberg, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ 978-3-540-71633-4 Kornhuber, H. H., Deecke, L. (2008): Wille und Gehirn-- Integrative Perspektiven. In: Petzold, H. G., Sieper, J. (Hrsg.): Der Wille, die Neurobiologie und die Psychotherapie. Band 1. Sirius, Bielefeld, 77-176 Krahé, B. (2007): Aggression. In: Jonas, K., Stroebe, W., Hewstone, M. (Hrsg.): Sozialpsychologie. 5. Aufl. Springer Medizin, Heidelberg, 265-294, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ 978-3-540-71633-4_8 Kreidner-Salahshour, Klara (2014): Emotionale Umstimmung über Gesten und Mudras in der Integrativen Bewegungstherapie. körper-- tanz-- bewegung 2 (1), 12-19, http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ ktb2014.art03d Linden, P. (2007): Das Lächeln der Freiheit. Selbststärkung und Körperbewusstsein. Ein Leitfaden zur Traumabewältigung. Arbor, Freiamt im Schwarzwald Lorenz, K. (1963): Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Deutscher Taschenbuch Verlag, München Petzold, H. G. (2006): Aggressionsnarrative, Ideologie und Friedensarbeit-- Integrative Perspektiven. In: Staemmler, F., Merten, R. (Hrsg.): Aggression, Selbstbehauptung, Zivilcourage. Zwischen Destruktivität und engagierter Menschlichkeit. EHP-Kohlhage, Bergisch Gladbach, 39-72 Petzold, H. G., Sieper, J. (2012): „Leiblichkeit“ als „Informierter Leib“, embodied and embedded-- Körper-Seele-Geist-Welt-Verhältnisse in der Integrativen Therapie. Quellen und Konzepte zum „psychophysischen Problem“ und zur leibtherapeutischen Praxis. In: Petzold, H. G. (2012): Die Menschenbilder in der Psychotherapie. Interdisziplinäre Perspektiven und die Modelle der Therapieschulen. Krammer, Wien, 243-321 Petzold, H. G., Sieper, J. (Hrsg.) (2008): Der Wille, die Neurobiologie und die Psychotherapie. 2 Bände. Sirius, Bielefeld Petzold, H. G., Sieper, J. (2008): Einführung: Wille, Willensfreiheit, Willenstherapie, Wollen im Kontext von Neurobiologie und Psychotherapie. In: Petzold, H. G., Sieper, J. (Hrsg.): Der Wille, die Neurobiologie und die Psychotherapie. Band 1, Sirius, Bielefeld, 17-57 Pinker, S. (2011): Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Fischer, Frankfurt / M. Siegele, F. (2013): Budotherapie-- ein körper- und bewegungstherapeutischer Weg der Psychotherapie. In: Schay, P., Lojewski, I., Siegele, F. (Hrsg.): Integrative Therapie in der Drogenhilfe. Thieme, Stuttgart / New York, 162-177 Waibel, M., Jakob-Krieger, C. (2009): Integrative Bewegungstherapie. Störungsspezifische und ressourcenorientierte Praxis. Schattauer, Stuttgart / New York Arbeit an Aggressionsnarrativen 1 | 2015 11 Die Autoren Annette Höhmann-Kost Diplom-Supervisorin, Therapeutin für Integrative Leib- und Bewegungstherapie (HPG), Lehrtherapeutin (EAG), Physiotherapeutin, tätig in Klinik f. Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie in Bietigheim-Bissingen sowie in eigener Praxis in Ludwigsburg. ✉ Annette Höhmann-Kost Weiglestraße 12 | D-71640 Ludwigsburg ahoehmann@dgib.de www.ahoehmann.de Frank Siegele Integrativer Psychotherapeut (MSc), Jugendlichenpsychotherapeut (TP), Diplom-Supervisor, Diplom-Sozialpädagoge, Lehrtherapeut (EAG), Budotherapeut, Lauftherapeut, tätig in eigener Praxis sowie am Institut für Budotherapie in Hannover. ✉ Frank Siegele Teichstraße 2 | D-30449 Hannover siegele@budotherapie.de www.budotherapie.de