körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2015.art04d
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Unter der Lupe: Abstinenz
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Marianne Eberhard-Kaechele
Schulenübergreifend wird der Gedanke allgemein akzeptiert, dass eine professionelle therapeutische Beziehung bestimmten ethischen Regeln folgen muss. Der ursprünglich aus der Psychoanalyse stammende Begriff der Abstinenz hat sich zunehmend im interdisziplinären Kontext der klinischen Praxis als Bezeichnung für diese ethische Grundhaltung bei der Gestaltung therapeutischer Rahmenbedingungen verbreitet und ist in der Berufsordnung für Psychotherapeuten verankert.
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20 körper-- tanz-- bewegung 3. Jg., S. 20-26 (2015) DOI 10.2378 / ktb2015.art04d © Ernst Reinhardt Verlag Forum: Unter der Lupe Abstinenz Ethisches Therapeutenverhalten und selbstbestimmtes Patientenverhalten Marianne Eberhard-Kaechele nahme ist unzulässig. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten dürfen nicht direkt oder indirekt Nutznießer von Geschenken, Zuwendungen, Erbschaften oder Vermächtnissen werden, es sei denn, der Wert ist geringfügig. (4) Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sollen außertherapeutische Kontakte zu Patientinnen und Patienten auf das Nötige beschränken und so gestalten, dass eine therapeutische Beziehung möglichst wenig beeinträchtigt wird. (5) Jeglicher sexuelle Kontakt von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zu ihren Patientinnen und Patienten ist unzulässig. (6) Die abstinente Haltung erstreckt sich auch auf die Personen, die einer Patientin oder einem Patienten nahe stehen, bei Kindern und Jugendlichen insbesondere auf deren Eltern und Sorgeberechtigte. (7) Das Abstinenzgebot gilt auch für die Zeit nach Beendigung der Psychotherapie, solange noch eine Behandlungsnotwendigkeit oder eine Abhängigkeitsbeziehung der Patientinnen und Patienten zur Psychotherapeutin oder zum Psychotherapeuten gegeben ist. Die Verantwortung für ein berufsethisch einwandfreies Vorgehen trägt allein die behandelnde Psychotherapeutin oder der behandelnde Psychotherapeut. Neben dieser primär ethischen und auf Rahmenbedingungen bezogenen Auslegung von S chulenübergreifend wird der Gedanke allgemein akzeptiert, dass eine professionelle therapeutische Beziehung bestimmten ethischen Regeln folgen muss. Der ursprünglich aus der Psychoanalyse stammende Begriff der Abstinenz hat sich zunehmend im interdisziplinären Kontext der klinischen Praxis als Bezeichnung für diese ethische Grundhaltung bei der Gestaltung therapeutischer Rahmenbedingungen verbreitet und ist in der Berufsordnung für Psychotherapeuten verankert. Die Nordrheinwestfälische Berufsordnung für Psychotherapeuten führt in § 6 „Abstinenz“ beispielsweise die folgenden Aspekte an: (1) Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten haben die Pflicht, ihre Beziehungen zu Patientinnen und Patienten und deren Bezugspersonen professionell zu gestalten und dabei jederzeit die besondere Verantwortung gegenüber ihren Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen. (2) Sie dürfen die Vertrauensbeziehung von Patientinnen und Patienten nicht zur Befriedigung eigener Interessen und Bedürfnisse missbrauchen. (3) Die Tätigkeit von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten wird ausschließlich durch das vereinbarte Honorar abgegolten. Die Annahme von entgeltlichen oder unentgeltlichen Dienstleistungen im Sinne einer Vorteil- Abstinenz 1 | 2015 21 Abstinenz wird der Begriff in psychodynamisch begründeten Therapieverfahren auch im Sinne einer Technik des Therapeutenverhaltens verwendet, bei der Handlungen, Gedanken, Gefühle usw. zurückgehalten werden, um bestimmte Wirkungen wie Selbstständigkeit, Frustrationstoleranz, Wertneutralität, Konfliktaktualisierung etc. zu erreichen. Die Bezeichnung „abstinent“ wird in der Weise angewendet, dass sie als eine von mehreren Modalitäten möglichen Therapeutenverhaltens-- neben anderen wie interaktiv, direktiv, supportiv usw.- - zu verstehen ist. Ein Bezug zum Aspekt der Ethik steht bei diesem Wortgebrauch nicht im Vordergrund, sondern die Begriffe beziehen sich auf therapeutische Effekte, die durch das jeweilige Therapeutenverhalten erreicht werden könnten. Diese zwei verschiedenen Interpretationen des Begriffs bieten Zündstoff im interdisziplinären Austausch. Da viele Körper- und Bewegungspsychotherapieformen ursprünglich einen psychodynamischen Erklärungsansatz nutzten, kommt es durchaus vor, dass Therapeuten Aussagen machen wie „Ich arbeite nicht abstinent“ und damit meinen, dass sie interaktive Techniken einsetzen, wie kinästhetische Empathie oder reziproke Rollengestaltung. Fatal ist, dass ihre Aussage vom Gegenüber möglicherweise im Sinne der ethischen Grundhaltung gedeutet wird und alte Klischees bestätigt, dass Körper- und Bewegungstherapeuten grenzüberschreitend vorgehen. Diese Gefahr ist gegenüber verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Kommunikationspartnern ebenfalls gegeben, die Abstinenz nicht als therapeutische Technik, sondern nur als ethische Rahmenbedingungen im oben genannten Sinne kennen. Um solche Missverständnisse zu verhindern, ist es ratsam, eine Differenzierung der Begriffe für ethische Rahmenbedingungen und die spezielle Vorgehensweise in Körper- und Bewegungspsychotherapien vorzunehmen. Zu diesem Zweck lohnt ein Blick auf die Ursprünge des Abstinenzbegriffs als therapeutische Technik. Hintergründe des Prinzips der Abstinenz Die Abstinenzregel besagt im Wesentlichen: „Der Analytiker soll die unbewußten Triebwünsche des Analysanden womöglich nicht befriedigen, sondern deuten“, sowie „Der Analytiker sollte sich in der Analyse die Befriedigung der eigenen Triebwünsche versagen“ (Parin 1987, 173). Diese Regel wurde von Sigmund Freud in den 1910er Jahren vornehmlich aus drei Gründen entwickelt: 1. Freud glaubte, der Triebverzicht wäre der Motor der Zivilisation. Folglich sollte durch Verzicht die Entwicklung von Patienten zu Reife und Selbstbeherrschung gefördert werden (Parin 1987). 2. In Freuds naturwissenschaftlichem Konzept einer Ein-Personen-Psychologie sollten intrapersönliche Konflikte auch intrapersönlich gelöst werden. Der Therapeut sei ein objektiver Beobachter, aber kein Teilnehmer am therapeutischen Prozess. Durch den Verzicht auf lindernde Interaktion sollte das Leid des Patienten aktualisiert und somit einer Bewusstwerdung und Bearbeitung zugänglich gemacht werden (Körner 1998). 3. Wenngleich noch nicht im Sinne einer Zwei- Personen-Psychologie, jedoch im Zuge von Fällen übergriffigen Verhaltens durch Psychoanalytiker, allen voran C. G. Jungs sexuelle Beziehung zu seiner Patientin Sabina Spielrein, wurde die Regel auf den Therapeuten ausgedehnt (Haynal 2000). Zeugnisse ehemaliger Patienten und Schüler Freuds zeigen, dass er selbst die Abstinenzregel eher als Orientierungshilfe für Anfänger betrachtet und sich persönlich nicht streng daran gehalten hatte (Haynal 2000). Unter 22 1 | 2015 Marianne Eberhard-Kaechele Freuds Nachfolgern avancierte die Abstinenz jedoch neben der freien Assoziation zum Herzstück der Methode, und es entstanden zahlreiche Verhaltensvorschriften und Verbote. Patient und Therapeut sollten z. B. Berührungen, körperliche Bewegung und den Austausch von Geschenken unterlassen. Der Therapeut sollte sich von Meinungsäußerungen, der Beantwortung von Fragen zu seiner Person und weiterem mehr enthalten. Im Allgemeinen erwies sich die rigide Abstinenzregel in der Praxis als nicht durchführbar, insbesondere nach der Ausweitung des Indikationsspektrums der Psychoanalyse auf Kinder bzw. auf Erwachsene mit Persönlichkeitsstörungen. Eine Subgruppe der Psychoanalytiker hält sich dennoch bis in die heutige Zeit an die von ihr sogenannte klassische Vorstellung des Abstinenzprinzips. Dies kann zu Problemen im interdisziplinären Austausch führen, da diese Gruppe das Interagieren mit Patienten auf der Handlungsebene kategorisch als Entwicklungshemmung bzw. als Kunstfehler einschätzt oder zumindest eine sehr eingegrenzte Vorstellung davon hat, welches Handeln ethisch vertretbar ist. Eine zweite Subgruppe der Psychoanalytiker diskutiert schulintern kritisch über die Abstinenzregel. Diese Gruppe reformierte und modifizierte die Behandlungstechnik kontinuierlich. Tonband- und Videoanalysen von psychoanalytischen Sitzungen zeigen, dass nonverbales Verhalten die Entwicklung der psychoanalytischen Therapie steuert, ebenso, wenn nicht sogar mehr, wie die verbale Kommunikation. Zum Beispiel beschreibt Streeck (2000), wie eine Patientin fast ausschließlich auf den Tonfall des Analytikers reagiert und nicht auf die lexikalisch-symbolischen Inhalte, die er sagt. Aufgrund der mittlerweile erdrückenden Forschungslage werden Reformstudiengänge in der Medizin eingerichtet (z. B. an der Charité Berlin), die den Schwerpunkt auf die nonverbale Interaktion legen, was künftig auch im Lernzielkatalog für das Studium der Humanmedizin berücksichtigt werden soll. Dennoch bleibt die Psychotherapie ein primär verbales Verfahren, das die Partizipation des Therapeuten auf das Minimum beschränkt, welches der Patient benötigt, um in seinem Entwicklungsprozess voranzukommen. Und es wird Jahre dauern, bis die Reformen bei den Patienten und in interdisziplinären Teams ankommen werden. Bei den meisten Körper- und Bewegungspsychotherapien ist die interaktive Bewegung von Patient und Therapeut hingegen das Hauptmedium der Gestaltung der therapeutischen Beziehung. Nach der klassischen Definition wären diese Therapieformen somit eine grundsätzliche Verletzung der Abstinenzregel. Für Familientherapien und die Therapie mit Kindern und Jugendlichen gilt Ähnliches. Um diese absurde Situation zu überwinden, wurden von Psychoanalytikern, Familien-, Körpersowie Kinder- und Jugendtherapeuten neue Interpretationen entwickelt, die den ethischen Sinn des Abstinenzbegriffs bewahrten und die Bewertung des Handlungsaspektes veränderten. In den modifizierten Konzepten wurde allerdings der Begriff „Abstinenz“ weiterhin verwendet, da die Theoretiker (die unten genauer benannt werden), neben ihrer familien- oder körperpsychotherapeutischen Qualifikation, vor allem Psychodynamiker sind. Für die Verwendung in der Tanztherapie und andere interaktive Körperpsychotherapien ist der Begriff Abstinenz, als eine Technik verstanden, problematisch. Es ist stets eine Erklärung notwendig, um die modifizierte von der klassischen Definition der Abstinenz zu unterscheiden und Missverständnisse zu verhindern. Hinzu kommt, dass dann Begrifflichkeiten entstehen wie „abstinente Interaktion“, die paradox ist, und der Gegensatz „abstinente Abstinenz“, der redundant ist. In dieser Form wirken die Begriffe nicht klärend, sondern verwirrend und legen nahe, dass eine fachspezifische Alternative her muss. Abstinenz 1 | 2015 23 Von der Abstinenzregel zum Selbstbestimmungsprinzip Für den Gebrauch in handlungsorientierten Therapieformen ist es sinnvoll, anstelle eines negativen Begriffes, der beschreibt, was nicht getan werden sollte, einen positiven Begriff zu wählen, der aussagt, was getan werden soll. Der Teil des Abstinenzprinzips, der erhalten bleiben sollte, betrifft die ethische Haltung des Respekts vor der Autonomie von Patienten und Therapeuten: Beide sollen vor Ausbeutung und Grenzüberschreitungen innerhalb der Therapie geschützt sein. Des Weiteren soll die Behandlung dem Patienten bei der Entwicklung oder dem Erhalt seiner Fähigkeiten, die zu selbstständigem Gesundheitsverhalten beitragen, dienen. Hutterer-Krisch definiert Autonomie im Rahmen der Ethik in der Psychotherapie mit Bezug auf Kant, der die Fachtermini „Autonomie“ und „Heteronomie“ in die Ethik einführte, wie folgt: „Autonomie (griech. autonomia) bedeutet ‚Unabhängigkeit, Selbstgesetzgebung‘ und steht im Gegensatz zu Heteronomie (griech. heteros nómos), die ‚Fremdgesetzlichkeit, Abhängigkeit von den Gesetzen anderer‘ bezeichnet.“ (Hutterer-Krisch 1996, 227) Für unseren Zweck ist der Aspekt der Selbstbestimmung zentral, denn Autonomie soll nicht als das Gegenteil von Bindung missverstanden werden. Die Bindungsforschung, der Forschungen zum primären Dreieck aus Mutter, Kind und Vater zugrunde liegen, zeigt, dass die autonome oder selbstbestimmte Regulation von Nähe und Distanz entscheidend ist für die Entwicklung von sicherer Bindungsfähigkeit (Grossmann / Grossmann 2005). Selbstbestimmung bedeutet somit die Freiheit, nach den eigenen Gesetzmäßigkeiten wählen oder kombinieren zu können zwischen „für sich sein“ (Abgrenzung) und „mit anderen sein“ (Kooperation), was sich später zu einer Selbstregulationsfähigkeit herausbildet. Insofern scheint der Begriff des Selbstbestimmungsprinzips geeignet, um diese ethische Haltung auszudrücken. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass gerade die klassische Abstinenz dazu geeignet ist, ein Machtverhältnis zu Ungunsten des Patienten herzustellen, wie es Renik beschreibt: „Eine Haltung der Verschlossenheit verringert die Präsenz des Analytikers nicht, sondern setzt ihn vielmehr in den Mittelpunkt des Geschehens (…) Die Präferenzen eines Analytikers-- die in der analytischen Situation zwangsläufig vermittelt werden-- sind umso einflussreicher und umso schwieriger zu überprüfen, weil sie nicht ausgesprochen werden. Indem er Anonymität vorgibt, verstärkt der Analytiker den Druck, den er ausübt.“ (Renik 1999, 945) Und auch vor ihm Parin (1987, 177): „Mit dem Streben nach Neutralität wirkt der Analytiker unberührt, vielleicht unberührbar. Statt sich der Entfaltung von übertragenen Gefühlen, Wünschen, Hoffnungen und Ängsten zur Verfügung zu halten, hat er ein ganz bestimmtes Verhältnis zum Analysanden installiert: ein Machtgefälle.“ Andere Autoren (Galuska / Galuska 2006; Heisterkamp 2002; Klüwer 2000; Streeck 2000; Clauer / Heinrich 1999) sprechen davon, dass es ein Kunstfehler sei, eine entwicklungsfördernde Handlung-- sei es eine Berührung, eine Rückmeldung, die Demonstration einer Bewegung usw.-- dem Patienten vorzuenthalten. Heisterkamp verdeutlicht, dass Abstinenz als ethisches Prinzip unabhängig ist von irgendeiner Entfernung: „Intensives emotionales Berührtsein kann durch leiblichen Kontakt sowohl vermieden als auch erst ermöglicht werden, wie umgekehrt das seelische Erleben ohne einen leiblichen Kontakt besonders gefördert oder verleugnet werden kann.“ (Heisterkamp 2002, 177) 24 1 | 2015 Marianne Eberhard-Kaechele Definition des Selbstbestimmungsprinzips Angelehnt an die körperpsychotherapeutischen Konzepte von Galuska und Galuska (2006), Heisterkamp (2002), Clauer / Heinrich (1999) und Worm (1998) sowie die familientherapeutischen Konzepte Bauriedls (1994) schlage ich nun folgende, für die Tanztherapie und andere Körper- und Bewegungspsychotherapien fachspezifische Definition ethischer Interventionsgestaltung vor. Diese gilt für alle Interventionen, weshalb sich eine getrennte Begriffseinführung für jede einzelne Interventionsart, wie zum Beispiel „abstinente Berührung“ (Clauer / Heinrich 1999), erübrigt. Das Selbstbestimmungsprinzip 1. betrifft die Intention, die Bedeutung oder die Wirkung jeder Handlung im Kontext der aktuellen Therapeuten-Patienten-Beziehung und keine einzelne Handlung an sich (wie Bewegung, Berührung oder die Selbstoffenbarung des Therapeuten). 2. bedeutet eine Aufgabenorientierung, dem Patienten und seinem Prozess zu dienen. 3. verlangt vom Therapeuten sowohl eine innere und körperlich vermittelte Haltung der Abgegrenztheit als auch der Durchlässigkeit, um als Resonanzkörper fungieren zu können. 4. beinhaltet eine kontinuierlich begleitende und alle Phänomene einschließende Beobachtung des Therapeuten. 5. betrifft den Verzicht auf Manipulation des Patienten und die Fähigkeit, Manipulationen des Patienten zu widerstehen. 6. beruht auf einem Verstehen der Beziehungssituation des Patienten, das heißt des Einflusses vergangener Beziehungserfahrungen auf die aktuelle Beziehungsgestaltung mit dem Therapeuten und der dadurch angebahnten Entwicklung dieser Beziehung. 7. ist ein dynamisches Phänomen, das mit der fortschreitenden Entwicklung des Patienten Schritt halten muss, um seine Wirkung zu entfalten. Ein Verhalten, das gestern entwicklungsfördernd war, kann den Patienten heute in seiner Entwicklung hemmen. 8. betrifft die Unterlassung von Impulsen, seien diese verbaler, körperlicher oder anderer Art, welche bei Ausführung zu a. Retraumatisierung b. pathologischer Regression c. Zementierung von pathologischen Beziehungsmustern d. Ausbeutung des Patienten zur Bedürfnisbefriedigung des Therapeuten führen würden. 9. betrifft die Integration von Impulsen, die eine selbstbestimmte Lebensgestaltung fördern und die bei Vorenthaltung die oben genannten negativen Effekte haben würden. Die klassische Abstinenzregel beruht auf der Vorstellung, dass der Mensch von seinen Trieben gesteuert sei und durch die Therapie zivilisiert werden müsse, was in einer erzieherischen Haltung mündet (Haynal 2000). Die „Erziehung“ sollte mittels der Zurückweisung oder Nichterfüllung der infantilen Wünsche des Patienten durch den Therapeuten und die Unterbindung vertrauter, aber inadäquat gewordener Lösungen für psychische Konflikte gelingen. Dagegen basiert eine die Selbstbestimmung fördernde Interventionsgestaltung nach dem oben beschriebenen Modell auf der Vorstellung, dass der Mensch ein inhärentes Wachstumsstreben besitzt, das durch die Herausforderung mit Entwicklungsaufgaben, die neue Kompetenzen aktivieren, unterstützt wird. Hier zwei Beispiele bezogen auf die Intervention der körperlichen Berührung. Eine depressiv gestörte Person sucht ständig den Körperkontakt mit Mitpatienten oder dem Therapeuten, lehnt sich an, hält jemandem die Hand. Für sie ist es eine Herausfor- Abstinenz 1 | 2015 25 derung, selbstständig zu sein und den Körperkontakt zu unterlassen oder kämpferische Berührungsformen wie Drücken, Ziehen usw. zu nutzen. Dabei wird sie mit Verlassenheitsängsten, Wut und anderen Gefühlen konfrontiert, die sie erst ertragen und regulieren lernen muss, bevor sie die Selbstständigkeit oder das Kämpfen integrieren kann. Eine Person mit einer sozialen Phobie meidet den Kontakt zu Mitpatienten und will kein Händefassen bei Übungen zulassen. Für sie ist es eine Herausforderung, eine Berührung zu ertragen. Dabei wird sie unter anderem mit ihrer Angst vor Ablehnung oder vor Selbstverlust konfrontiert und muss diese bewältigen, bevor sie über die Berührung als eigene Verhaltensmöglichkeit frei verfügen kann. Ausführliche Diskussionen über den Umgang mit Berührung in der Tanztherapie sind bei Caldwell (1999) und Eberhard (2003) nachzulesen, in der Körperpsychotherapie bei Clauer und Heinrich (1999). Fazit Es darf nicht im Unklaren bleiben, ob Körper- und Bewegungspsychotherapeuten ihr Verhalten unter ethischen Gesichtspunkten überhaupt reflektieren. Es führt zu argen Missverständnissen im interdisziplinären Diskurs, wenn im Rahmen handlungsorientierter Methoden der fachfremde und doppeldeutige (Ethik- oder Technik-)Begriff der Abstinenz verwendet wird. Mit diesem Artikel wird der Vorschlag für eine fachspezifische ethische Grundhaltung von Körper- und Bewegungspsychotherapeuten bei der Interventions- und Beziehungsgestaltung gemacht und zur Diskussion gestellt. Wichtig wäre es, einen einheitlichen Sprachgebrauch zu erarbeiten, durch Konsensfindung und gezielte Verbreitung der vereinbarten Begriffe in der Literatur, in der Ausbildung und in der Qualitätssicherung von bereits ausgebildeten Therapeuten. Auf diesem Weg könnte eine babylonische Sprachverwirrung in intra- und interdisziplinäre Diskurse verhindert und zudem die Präzision der Interventionssetzung erhöht werden. Literatur Bauriedl, T. (1994): Auch ohne Couch. Psychoanalyse als Beziehungstheorie und ihre Anwendungen. Klett-Cotta, Stuttgart Berufsordnung der Psychotherapeutenkammer NRW vom 25.4.2008, zuletzt geändert am 9.12.2011. www.ptk-nrw.de/ fileadmin/ user…/ Berufsordnung_ 2012.pdf, 30.9.2014 Caldwell, C. (1999): Getting in Touch. Quest Books, Wheaton Clauer, J., Heinrich, V. (1999): Körperpsychotherapeutische Ansätze in der Behandlung traumatisierter Patienten: Körper, Trauma und Seelenlandschaften. Zwischen Berührung und Abstinenz. Psychotherapie Forum 7 (2), 75-93 Eberhard, M. (2003): Tanztherapie: Indikationsstellung, Wirkfaktoren, Ziele. In: Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.): Kreativtherapien. Wissenschaftliche Akzente und Tendenzen. Rhein-Eifel-Mosel, Pulheim, 110-131 Galuska, J., Galuska, D. (2006): Körperpsychotherapie im Spektrum der Strukturniveaus. In: Marlock, G., Weiss, H.: Handbuch der Körperpsychotherapie. Schattauer, Stuttgart. 585-597 Grossmann, K., Grossmann, K. (2005): Bindungen-- das Gefüge psychischer Sicherheit. 2. Aufl. Klett- Cotta, Stuttgart Haynal, A. (2000): Die Technik-Debatte in der Psychoanalyse. Freud, Ferenczi, Balint. Psychosozial, Gießen Heisterkamp, G. (2002): Basales verstehen. Pfeiffer bei Klett-Cotta, Stuttgart Hutterer-Krisch, R. (1996): Fragen der Ethik. In: Hutterer-Krisch, R., Kriz, J., Parfy, E., Margreiter, U., Schmetterer, W., Schwentner, G.: Psychotherapie als Wissenschaft-- Fragen der Ethik. Facultas-Universitätsverlag, Wien. 208-334 Klüwer, R. (2000): Agieren. In: Mertens, W., Waldvogel, B. (Hrsg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Kohlhammer, Stuttgart, 42-45 Körner, J. (1998): Einfühlung: über Empathie. Forum der Psychoanalyse 14 (1), 7-17 26 1 | 2015 Marianne Eberhard-Kaechele Parin, P. (1987): Abstinenz? In: Brede, K., Fehlhaber, H., Lohmann, H.-M. (Hrsg.): Befreiung zum Widerstand. Aufsätze zu Feminismus, Psychoanalyse und Politik. Fischer, Frankfurt / M., 172-178 Renik, O. (1999): Das Ideal des anonymen Analytikers und das Problem der Selbstenthüllung. Psyche 9 / 10, 929-957 Streeck, U. (2000): Erinnern, Agieren und Inszenieren. Enactments und szenische Darstellungen im therapeutischen Prozeß. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Worm, G. (1998): Berührung als Abstinenzverletzung-- Berührung als Heilungsvorgang. In: Richter- Appelt, H. (Hrsg.): Trauma, Verführung, Missbrauch. Psychosozial, Gießen, 51-67 Die Autorin Dr. rer. medic. Marianne Eberhard-Kaechele Ausbilderin, Supervisorin und Lehrtherapeutin BTD. Dozentin an der Deutschen Sporthochschule Köln im Institut für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation, Abteilung Neurologie, Psychosomatik, Psychiatrie. Eigene Praxis für Tanz- und Ausdruckstherapie. Wissenschaftliche Leiterin des Langen Instituts für Tanz- und Ausdruckstherapie. ✉ Dr. rer. medic. Marianne Eberhard-Kaechele Abteilung Neurologie, Psychosomatik, Psychiatrie Institut für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation Deutsche Sporthochschule Köln Am Sportpark Müngersdorf 6 | D-50933 Köln m.eberhard-kaechele@dshs-koeln.de
