körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Männerwelten
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Claudia Christ
Ferdinand Mitterlehner
Der Artikel zeigt auf, welche Besonderheiten bei der psychotherapeutischen Begleitung von Männern zu beachten sind. Diese senden häufig Signale aus dem beruflichen Kontext und zeigen körperliche Symptome statt emotionale Aussagen, werden häufiger zur Therapie geschickt, berichten über Schwierigkeiten mit Konkurrenz und Leistungsdruck und benötigen eine klare therapeutische Haltung „auf Augenhöhe“. Die Autoren haben neun Life-Events klassifiziert, bei deren Verarbeitung Männer Hilfe aufsuchen. Sie zeigen den speziellen Blickwinkel der TherapeutInnen und HausärztInnen auf, der notwendig ist, um in einen lösungsorientierten und ressourcenbasierten Therapieprozess zu gelangen.
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59 körper-- tanz-- bewegung 4. Jg., S. 59-68 (2016) DOI 10.2378 / ktb2016.art08d © Ernst Reinhardt Verlag Fachbeitrag Männerwelten Männer in Beratung und Therapie Claudia Christ und Ferdinand Mitterlehner Der Artikel zeigt auf, welche Besonderheiten bei der psychotherapeutischen Begleitung von Männern zu beachten sind. Diese senden häufig Signale aus dem beruflichen Kontext und zeigen körperliche Symptome statt emotionale Aussagen, werden häufiger zur Therapie geschickt, berichten über Schwierigkeiten mit Konkurrenz und Leistungsdruck und benötigen eine klare therapeutische Haltung „auf Augenhöhe“. Die Autoren haben neun Life-Events klassifiziert, bei deren Verarbeitung Männer Hilfe aufsuchen. Sie zeigen den speziellen Blickwinkel der TherapeutInnen und HausärztInnen auf, der notwendig ist, um in einen lösungsorientierten und ressourcenbasierten Therapieprozess zu gelangen. Schlüsselbegriffe Männergesundheit, Männertherapie, Life- Events, Therapieziele, Männerbild, somatische Beschwerden, Vaterschaft, Verurteilung, Burn-out Worlds of Men. Men in Counseling and Therapy The article points out special features to be observed during the psychotherapeutic accompaniment of men. These send banal signals and show physical symptoms rather than making emotional statements. They often come to therapy by referral rather than of their own initiative, report difficulties with competition and pressure to perform and require a clear therapeutic attitude at eye level. The authors classify nine life events which cause men to seek therapeutic support. The special point of view needed by therapists and general practitioners in order to enter into a solution-oriented and resource-based therapy process with men will be introduced. Key words men’s health, psychotherapy of men, life events, goals of therapy, somatic syndromes, paternity, condemnation, burnout Erinnerungsszenen Als die Einladung für diesen Zeitschriftenbeitrag an uns herangetragen wurde, tat sich überraschender Weise eine alte Erinnerung in meinem (F. M.) Langzeitgedächtnis auf. Nach und nach kamen einzelne Szenen aus meiner Teilnahme an einer KBT-Selbsterfahrungsgruppe wieder ins Bewusstsein, die mich schon damals irritierten, ohne dass ich eine Erklärung dazu hatte. Wir waren insgesamt ca. 20 Personen in einem Turnhallen-ähnlichen Raum eines Bildungshauses, ausgestaltet mit bunten Tüchern und plüschigen Sitzkissen. Ich konnte in den Gruppensitzungen grundsätzlich offene Fragen aus all meinen Lebensbereichen gut einbringen. Themen aus dem Feld „Arbeit und Leis- 60 2 | 2016 Christ, Mittellehner tung“ fanden da ebenso Platz wie meine soziale Vernetzung, der Umgang mit meiner Körperlichkeit oder die Orientierung an Familiennormen und eigenen Maßstäben. Was mich schon damals jedoch nachdenklich gemacht hatte, war, dass Themen und Therapieziele der Frauen aus den Bereichen „Beziehungen und Soziales Netz“ bzw. deren emotionale Befindlichkeit sofort als „bearbeitenswert“ aufgegriffen wurden. Formulierte einer der Männer Arbeitsplatzkonflikte oder Streitereien im Ehealltag oder Überforderungssymptome (Schlafstörungen, riskantes Verhalten, vermehrter Alkoholkonsum), wurde dies eher „beraterisch“ geklärt bzw. an den Hausarzt oder den Rechtsanwalt weiter delegiert. Als Mann wütend und gereizt in die Gruppe zu kommen, wurde schnell als störend interpretiert, weinend als Frau sich zu zeigen, wurde hingegen mit dem Kommentar „Störungen haben Vorrang“ direkt aufgegriffen. Nun fast 20 Jahre später mit der fachlichen Auseinandersetzung bzgl. der genderspezifischen Unterschiede im therapeutischen Setting und der öffentlichen Diskussion nach einer Veränderung der althergebrachten Rollenmuster „Mann-- Frau“ wird mir meine Irritation von damals verständlich. Das Männerbild wackelt Nachdem in den 1970er und 1980er Jahren die Gleichberechtigung der Frau durch die Frauenbewegung mit den Parolen „gleiches Geld für gleiche Arbeit“ und „mein Körper gehört mir“ ein wichtiges politisches und soziologisches Thema war, beginnt das tradierte Männerbild nun durch diesen Einfluss über die vielen Jahre hinweg zu wackeln. Es ist bei den Männern angekommen, dass die alten Traditionen und Rollenverteilungen vorbei sind und das männliche Familienoberhaupt der Geschichte angehört. Überschriften von Fachzeitschriften wie „Der Mann ist die sozialpolitische Problemzone des 21. Jahrhunderts“ (Zukunftsinstitut Köln), „Rückzug- - saufen oder reden“, „Women get sick, men die“ oder „Vom Urwaldgetöse zur Metrosexualität“ rücken den Mann in das Rampenlicht und stellen damit Fragen nach einer neuen Rollenidentität. In einer langjährigen soziologischen Studie von Wippermann et al. (2009) mit über 10.000 untersuchten Männern wurden diese nach ihrer politischen Einstellung, nach der Bedeutung der Arbeit und der finanziellen Absicherung und nach Kriterien für ihre Beziehung gefragt. Aus den erhobenen Daten teilte das Forscherteam die befragten Männer nach einem sehr groben Raster in verschiedene Gruppen ein. Demnach sind ca. 20 % der Befragten einem tradierten Mann-Frau-Rollenmuster („starker Haupternährer der Familie“) zuzuordnen, das eher in der Unterschicht zu finden ist; der Hauptanteil (über 40 %) wird als „moderner Mann“ tituliert und zeigt auf, dass viele Männer darum bemüht sind, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bekommen. Eine dritte Gruppe (ca. 20 %) wird als „Lifestyle-Macho“ bezeichnet, der als Ziel die Selbstoptimierung und den ich-bezogenen Konsum gewählt hat und Familie dabei eher als störend empfindet. Die fehlenden 20 % teilen sich in kleinere Untergruppen auf, die hier nicht erwähnt sind. Auch die Wirtschaft hat den Mann nun als Absatzgruppe mit eigenen Kosmetikprodukten, männlich designten Kinderwagen und technischem Spielzeug vom Pulsmesser bis hin zu elektronischen Überwachungsgeräten für das intelligente Haus entdeckt. Die Frauenliteratur weiß, welche Männer sie als Ehepartner oder als One-Night-Stand präferiert, und die Medizin weiß, dass Männer sieben Jahre kürzer leben als Frauen und es mit der Männergesundheit schlecht bestellt ist. Um seinen Mann in allen Situationen zu stehen, gibt es Viagra- - heimlich. Kriminalstatistiken zeigen, dass Männer häufiger Opfer sind als Frauen, insbesondere von Gewaltdelikten und schweren Verbrechen, und dass in den Gefängnissen über 98 % der Insassen Männer Männerwelten 2 | 2016 61 sind. Auch Süchte werden mehr auf dem Männerkonto verbucht. Was bedeuten nun diese neueren Erkenntnisse und Strömungen für die Männerwelt? Und was bedeuten diese Erkenntnisse für uns als Therapeuten in der Arbeit mit Männern? Ein Fallbeispiel In den ersten Terminen der Psychotherapie erscheint ein sehr schick und gepflegt gekleideter Mann, Mitte 40, beruflich in einer gehobenen Stellung einer amerikanischen Firma, der um Fassung bemüht ist. Er wurde durch den Hausarzt mit den Worten „Um sich müssen Sie sich auch kümmern“ zur Psychotherapie geschickt. Der Patient gibt das Gefühl an, dass „all seine Ressourcen aufgebraucht“ seien. Er fühle sich antriebslos, könne sich zum Arbeiten nicht mehr motivieren und leide unter Schlafproblemen und einer zunehmend negativen Haltung. Beim Hausarzt wurde ein hoher Blutdruck festgestellt. Außerdem erwähnt er beiläufig, dass er „dreimal seine erste Frau verloren habe“, mit der er fünf gemeinsame Kinder hat (das erste Mal an eine psychische Krankheit, das zweite Mal an seinen besten Freund, das dritte Mal durch Suizid drei Jahre vor Beginn der Therapie). Sein Lebensmotto sei immer gewesen: „Augen zu und durch, Stärke zeigen“. Er sei aber nach der Trennung von seiner Frau seit drei Jahren wieder in einer glücklichen Beziehung. Die drei Wege der Männer in die Psychotherapie Über die somatische Ebene vom Hausarzt geschickt Das Beispiel zeigt eine typische Einstiegsszene in die Psychotherapie von Männern auf. Der Patient wird vom Hausarzt geschickt, bei dem er sich wegen zunehmender somatischer Symptomatik gemeldet hat. Der Erstkontakt über den Hausarzt durch somatische Symptome ist einer der drei Wege, wie Männer in die Psychotherapie kommen. An dieser Stelle möchten wir betonen, dass eben diese Achtsamkeit des Hausarztes eine große Chance darstellt, rechtzeitig mit Männern bedrückende Lebensthemen zu bearbeiten, die sich bereits im Körper „niedergeschlagen“ haben. Von anderen geschickt Andere Männer werden von besorgten Freunden, der Ehefrau oder sogar dem Arbeitgeber zum Erstgespräch in eine Psychotherapie geschickt. Dabei ist es wichtig, den alten Grundsatz „Mit geschickten Patienten ist es schwierig zu arbeiten“ zu verlassen und ein konstruktives Arbeiten mit einem nachfragenden Rückruf, einer guten Auftragsklärung, einem Erstgespräch ohne voreilige Pathologisierung bzw. ohne fachspezifische „Fremdsprache“ und mit einer sinnvollen Zielsetzung zu ermöglichen. Ein abwertendes „Können Sie nicht selbst anrufen? “ erzeugt eine hohe Schwellensituation. Besondere „Life-Events“ oder die neun Stolpersteine Wieder andere Männer suchen die therapeutische Begleitung auf, wenn sie mit besonderen „Life-Events“ konfrontiert sind, die nicht so einfach zu bewältigen sind. Wir nennen diese Events „Stolpersteine“ (Christ/ Mitterlehner 2013). Die neun Stolpersteine der Männer 1. Verbrannt, Burn-out Für Männer ist durch einige prominente „Vorreiter“-Beispiele der Zugang zur Psychotherapie durch die Überschrift „Burn-out“ erlaubt, ohne das Gesicht zu verlieren. „Mann“ darf erschöpft sein und sich mit Themen rund um den Arbeitsbereich in die Beratung begeben. Es braucht dabei aus professioneller Sicht 62 2 | 2016 Christ, Mittellehner eine klare diagnostische Einordnung im Hinblick auf die Depression, ein eventuell multimodales Vorgehen, aber auch den Blick auf die gesunden Anteile und Ressourcen. Ein Lob wie „Ich bin beeindruckt, was Sie alles auf die Beine gestellt haben! “ öffnet eher die Tür für eine innere Auseinandersetzung als die nüchterne Diagnose der Depression. Auch ist es wichtig zu erwähnen, dass sich Depressionen bei Männern symptomatisch etwas anders zeigen können als bei Frauen: mit mehr „acting-out-behavior“, Gereiztheit, Suizidalität und gesteigertem Risikoverhalten im Umgang mit Autofahren, Geld, Sexualität. 2. Verliebt, verlobt, verheiratet-- Partnerschaft Beziehungsthemen sind ein wichtiger Grund, weshalb Männer eine psychotherapeutische Begleitung aufsuchen. Als Beispiel sind folgende zu nennen: Erschöpfung bei sehr versorgenden Männern, Fernbeziehungen, Ehekrisen, Dreieckskonstellationen, sexuelle Probleme, narzisstische Krisen bei Trennungen etc. Häufig kann die Einladung der Partnerin / des Partners zu einer Sitzung für das Gelingen einer Therapie hilfreich sein. 3. Vaterschaft und Verantwortung Da es in Partnerschaften keine klaren Rollendefinitionen mehr gibt und genealogische Familienkonzepte gleichberechtigt neben Patchwork-Situationen stehen, braucht es in diesen psychologischen Familienkonstellationen mehr Kommunikation und Abstimmungsfähigkeit. „Wen meinen Sie konkret, wenn Sie vom Wir sprechen? “, ist eine häufige Frage, die wir den Männern stellen. Vater werden bedeutet für den Mann auch, sich mit dem eigenen Vater auseinanderzusetzen und ein gutes Rollenmodell für „Vater-Sein“ zu entwickeln. 4. Veränderungen Veränderungsprozesse auf verschiedenen Ebenen, z. B. körperlich durch Erkrankung oder Alterungsprozesse, beruflich, finanziell, familiär etc., führen Männer in die Psychotherapie, da das Alte nicht mehr gültig ist und das Neue noch nicht trägt. Im Zwischenraum kann es zu Insuffizienz- oder Angstgefühlen kommen, genauso wie zu Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Ungeduld, Wut und Euphorie. Es gilt, diesen Veränderungsprozess professionell zu begleiten und auch als Therapeut Unsicherheiten aushalten zu lernen-- um nicht mit methodischer Vielfalt den Wandlungsprozess zu konterkarieren. 5. Verantwortung oder virtuelle Welt (24 / 7) Es scheint so zu sein, dass eine große Gruppe von Männern neben dem Beruf und der Familie Verantwortung wie zum Beispiel bei der freiwilligen Feuerwehr übernimmt, im Elternbeirat engagiert ist oder die Jugendmannschaft des Fußballvereins trainiert. Selbstverständliche Verantwortungsübernahme für andere prägt also deren Leben- - und ganz praktisch auch deren Zeiteinsatz! Andere wiederum driften in die virtuelle Welt des World Wide Web ab, um dort mit den Möglichkeiten zu spielen, sich sexuell zu erregen oder verschiedene Rollenidentitäten, beispielweise in der „World of Warcraft“, einzunehmen. Diese Gruppe zeichnet sich durch fehlende Verantwortungsübernahme aus. Für beide Gruppen kann der Weg zur weiteren persönlichen Entwicklung verhindert sein. 6. Verlust Bedeutsame Verluste, z. B. der Tod eines Partners, der Verlust der körperlichen Integrität, der Verlust einer identifikationsbildenden Arbeitsstelle, Verlust der kulturellen Verwurzelung oder der Verlust des eigenen Selbstbildes bringen den Mann dazu, therapeutische Hilfe aufzusuchen. Häufig verarbeiten Männer diese Ereignisse mit mehr Rückzug, Flucht in die Arbeit, Flucht in das Suchtverhalten, Flucht in die Somatisierung oder stärkerer Aggressivität. Es gilt, dies gut zu begleiten und einen neuen Lebensentwurf zu entwickeln. Männerwelten 2 | 2016 63 7. Verschuldung und Verurteilung Als häufig schambesetztes Thema ist es in der Begleitung von Männern wichtig, nach der finanziellen Sicherung und eventuellen rechtlichen Auseinandersetzungen zu fragen. Nicht selten tauchen dann wichtige Themen wie Privatinsolvenz, laufendes Scheidungsverfahren oder Verfahren wegen Gewaltdelikten, Steuerhinterziehung, Nachbarschaftsstreitigkeiten, Arbeitsrechtsprozesse etc. auf. Teilweise ist eine Zusammenarbeit mit Schuldnerberatungsstellen, Gewaltpräventionsstellen, Anlaufstellen für pädophile Neigungen, gesetzlichen Betreuern oder Rechtsanwälten erforderlich. Der Behandlungsplan muss die innerpsychische Ebene und die Realitätsebene gleichermaßen berücksichtigen und einen interdisziplinären therapeutischen Ansatz ermöglichen. Ein Patient brachte das Thema mit seiner Aussage „Ich betrüge den Vater Staat an Vaters statt“ auf den Punkt. Wir sehen auch immer wieder Prozesse, in denen Männer grundsätzlich als Täter vorverurteilt werden, insbesondere wenn es um den Tatbestand der sexuellen Belästigung geht. Aber auch umgekehrte Szenarien, dass Täter juristisch fast ungestraft davonkommen, sind Themen in der Psychotherapie. 8. Vision „Es macht alles keinen Sinn mehr“, „Ich habe die Nase voll“, „Was soll das denn alles noch“. Mit solchen Einleitungsworten eröffnen Männer im Gespräch Sinnkrisen, die eventuell durch einen Arbeitsplatzverlust, durch den Tod der Ehefrau, durch eine bedrohliche Erkrankung etc. ausgelöst wurden. Es sind dabei häufig existenzielle Themen zu beantworten, die auch uns als Therapeuten an Grenzen führen. 9. Verschiedene körperliche Symptome Eine Möglichkeit, in das versorgende medizinische System „einzutreten“, sind körperliche Beschwerden. Leider neigen Männer dazu, diese vorerst zu ignorieren oder zu bagatellisieren, so dass selbst Herzinfarkte als „Unwohlsein“ abgetan werden. Auch die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen lässt eher zu wünschen übrig. Häufig stecken hinter Organschädigungen aber auch alte emotionale Verletzungen, die durch die Psychotherapie herausgearbeitet werden können. Vorwarnzeichen bei Männern-- subtil und aus dem Alltag gegriffen Hilferufe von Männern sind in der Regel keine lauten SOS-Zeichen, sondern eher banale und subtile Signale, die richtig interpretiert werden müssen. „Es ist schon alles okay“ hat eher die Bedeutung von einer großen inneren Sorge. Die permanente Überwachung der Herzfrequenz auf der Pulsuhr zeigt mehr die Angst vor einem Herzinfarkt als die sportliche Leistung. Der vermehrte Alkoholkonsum versteckt im Geschäftsessen zeigt die innere Anspannung auf, und der entgleiste Blutzucker eines Patienten ist das Erstsignal einer alten Traumatisierung durch den gewalttätigen Vater. Auch ständige Geschwindigkeitsüberschreitungen lassen zumindest auf einen hohen Stresspegel schließen. Die geäußerte Sorge, die Wut nicht mehr im Zaum halten zu können, ist ernst gemeint. Verstehen wir als Therapeuten, als Hausärzte oder als Sprechstundenhelfer diese ersten Signale, oder werden, wie in der eingangs geschilderten Gruppenselbsterfahrung, diese Themen als bedeutungslos abgetan? Nur wenn es gelingt, die Sprache der Männer richtig zu entschlüsseln, kann der Mann überhaupt erst gut im Gesundheitssystem ankommen, kann dann Neuorientierung und Gesundung gelingen. Fühlt sich das starke Geschlecht vom Helfersystem abgelehnt („Was will der denn, der hat doch nichts? “) oder in Machtspiele verwickelt („Ich der Helfer, du der Kleine“) oder zu sehr pathologisiert („Der hat 64 2 | 2016 Christ, Mittellehner eine Depression bei schwerer Mutterbindung mit desolater Bindungserfahrung“), ist der Zugang erschwert. Sind die ersten Signale verstanden und die Bestandsaufnahme der körperlichen und seelischen Gesundheitsparameter männlicherseits erlaubt, können Versorgungswünsche, Fragen über Sexualität, neue Orientierung, eine gute Selbstfürsorge, partnerschaftliche Muster und das vorherrschende Selbstbild bearbeitet werden. Ein einfacher Einstieg in das Arbeiten mit Männern Einfache, aber sehr wirksame Schemata, mit denen sich Männer zu Beginn eines therapeutischen Prozesses unabhängig von der Methode abgeholt fühlen, sind das Modell der fünf Identitätsbereiche (Petzold 1993, 122) bzw. das Balancemodell (Peseschkian / Remmers 2013), das durch die Zusammenfassung der vier wichtigen Lebensbereiche „Körper / Gesundheit“, „Arbeit/ Leistung“, „Kontakte / Familie“ und „Werte / Sinn“ in einer Raute dargestellt werden kann. So einfach es für uns als Psychotherapeuten klingt, diese Modelle ermöglichen den raschen Zugang zu den wichtigsten Lebensthemen, geben einen guten Überblick, sind sofort verständlich und können, je nach psychotherapeutischer Ausrichtung, im jeweiligen Denkgebäude einer Psychotherapierichtung vertieft werden (vgl. u. a. Heinrich-Clauer 2008, 165). Dieser Zugang holt den Mann nicht nur von der defizitären Ebene, sondern auch in seinen Ressourcen ab und zeigt rasch auf, in welchem Bereich Veränderungen notwendig sind. In Abbildung 1 ist das Balancemodell nach Nossrat Peseschkian dargestellt, welches die Ausgestaltung der wichtigen Lebensbereiche hinterfragt: Wie gehe ich mit meinem Körper um, wie gesund bin ich? Kann ich genießen? Welchen beruflichen Werdegang habe ich, wie bin ich beruflich aufgestellt und abgesichert? Wie ist meine Ausgestaltung von Beziehungen? Wo erlebe ich Zugehörigkeit? Was sind meine inneren Werte, und welche Leidenschaften / Hobbys habe ich im Leben? Welcher Spiritualität gehe ich nach? Und wie hat Abb. 1: Balancemodell nach Peseschkian / Remmers (2013) Männerwelten 2 | 2016 65 sich mein Balancemodell durch mein aktuelles Problem verändert? Mit diesem einfachen Modell ist es möglich, rasch einen „Ist-Zustand“ und einen „Soll- Zustand“ zu ermitteln und erste Ziele im therapeutischen Handeln zu gewinnen. Bezogen auf das oben genannte Patientenbeispiel zeigen sich im Balancemodell Ist- und Soll-Zustände (Tabelle 1). Die Abbildungen 2 und 3 zeigen Parameter auf, wie eine Lebensbalance in einem förderlichen Sinne oder aber in einem dysfunktionalen Sinne insbesondere in Bezug auf die männlichen Problematiken ausgestaltet werden kann. Ziel in der Begleitung von Männern ist es, die Lebensbereiche ressourcenfördernd neu zu entwickeln oder anders aufzustellen, um Resilienz zu erhalten, Gesundheitsmotivation aufzubauen, einer krankhaften Symptomentwicklung vorzubeugen und den wichtigen Kontaktbereich im Leben zu integrieren. Abb. 2: Männer in guter Balance Ist Soll Körper: Der Patient hat einen hohen Blutdruck. Körper: Bessere Aufmerksamkeit dem Körper und den eigenen Bedürfnissen gegenüber. Selbstfürsorge, Genuss Leistung: Beruflich erfolgreiche Führungskraft Leistung: Gute Begrenzung auf der Arbeit Familie: Nicht verarbeiteter Verlust der ehemaligen Frau durch Suizid, Schuldgefühle Familie: Abgabe von Verantwortung im Bereich der sozialen Beziehungen, Konzentration auf seine neue Ehebeziehung Werte: Wertebereich ist unterrepräsentiert Werte: Ausbau und Entwicklung des Wertebereiches, der Hobbys, der Spiritualität Tab. 1: Ist- und Soll-Zustände im Balancemodell 66 2 | 2016 Christ, Mittellehner Konsequenzen für die Psychotherapie mit Männern Für die Belange der Männer ist ein fundiertes Wissen um die Männermedizin und um die Widerstände in der therapeutischen Allianz mit Männern wichtig. Wir sollten als Fachleute daher hinter die maskulinen Stereotypen schauen, um die Bedürfnisse im Hinblick auf die psychosomatische Gesundheit von Männern zu verstehen. Dieser Erkenntnisweg schließt die Gestaltung der Praxisräume ebenso ein wie die Reflexion der Umgangsformen, das Wissen um die (internationale) Männergesundheit, Entschlüsselungskompetenz des „Gentle-mental Health Codes“ (Christ / Mitterlehner 2013, 168 ff ) und Kompetenz im erlernten Psychotherapieverfahren. Verständnis für unsere Patienten basiert daher auch auf der Beantwortung folgender Fragen: ● Wie gestalte ich meine Praxis, dass sich Männer angenommen fühlen? ● Wie kann ich mich selbst von genderspezifischen Denkmustern lösen und sowohl männliche als auch weibliche Rollenideale integrieren? ● Wie kann ich als Therapeut „den Mann“ in all seinen Facetten besser verstehen? ● Wie kann in der Psychotherapie („als Psycho“) das Vertrauen von Männern gewonnen werden? ● Wie kann ich hinter der Symptomebene den Mann verstehen? ● Welche Bedürfnisse haben die Männer verdrängt? Wodurch ersetzt der Mann das, was er eigentlich bräuchte und möchte? ● Wie wird der Mann zum Kämpfer und wofür? ● Wie kann ich männlichen Mut, männliche Wut und Rachegefühle, aber auch Schuldgefühle und Scham verstehen? ● Wie durchbreche ich die Verkettung Ohnmacht-- Wut-- Aggression - Schuld? ● Wie kann ich generationsübergreifende Aufgaben an den Mann verstehen? ● Das Weibliche wollen und es zugleich ablehnen: Wie kommt Mann da heraus? ● Wie helfe ich dem Jungen im Manne, die Verstrickung mit seiner Mutter zu lösen? ● Wie bringe ich den Mann zum Experimentieren? Abb. 3: Die Balance wackelt Männerwelten 2 | 2016 67 ● Wie wecke ich den neugierigen Jungen im starken Mann? ● Wie heile ich die Beziehung zum eigenen Vater / Großvater? ● Wie kann ich dem Mann helfen, sich als Sohn seiner Mutter und seines Vaters zu verstehen und dennoch den eigenen Lebensweg zu gehen? ● Wie kann ich die Partnerin bzw. den Partner sinnvoll einbinden? ● Welche verschiedenen Techniken stehen mir in der Begleitung von Männern zur Verfügung? ● Wie kann ich mit Männergruppen arbeiten? ● Welche Beziehungsprüfungen sollte ich verstehen, wenn ich mit Männern arbeite? ● Was bedeutet es für den Patienten, seine Themen mit einer Therapeutin bzw. mit einem Therapeuten durchzuarbeiten? Und wann ist ggf. ein Wechsel sinnvoll? Zusammenfassend können wir sagen, dass es keine spezielle Männertherapie braucht, aber einen geübten Blick und ein wachsames Ohr, den Mann in seinen Belangen wirklich zu verstehen und ihn im ersten Kontakt gut abzuholen. Wir hoffen, dass unsere theoretischen Ideen und praktischen Fragen und Anregungen hilfreich für die alltägliche Arbeit mit dieser Klientel sind. Literatur Christ, C., Mitterlehner, F. (2013): Männerwelten. Männer in Psychotherapie und Beratung. Schattauer, Stuttgart European Commission (2011): The state of men’s health in Europe. Report. In: ec.europa.eu/ health/ population_groups/ docs/ men_health_report_ en.pdf, 26.11.2015 Fahlenkamp, D., Schmailzl, K., Lenk, S. (2000): Der alternde Mann. Theorie und Praxis der Testosterontherapie. Springer, Berlin Heinrich-Clauer, V. (2008): Therapeuten als Resonanzkörper: Welche Saiten geraten in Schwingung? In: Heinrich-Clauer, V. (Hrsg.): Handbuch Bioenergetische Analyse. Psychosozial, Gießen, 161-178 Kubelik, T. (2013): Genug gegendert. Eine Kritik der feministischen Sprache. Projekt Verlag, Halle Lenz, K., Adler, M. (2010 / 2011): Geschlechterbeziehungen. Einführung in die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung. Band 1 und 2. Juventa, Weinheim Peseschkian, H., Remmers, A. (2013): Positive Psychotherapie. Ernst Reinhardt, München Riecher-Rössler, A. (2003): Psychotherapie von Frauen-- Chancen und Grenzen der Geschlechtersensibilität. Psychodynamische Psychotherapie 2, 91-101 Robinder, P. B., Richards, M. (2011): What a man wants: the male perspective on therapeutic alliance formation. Psychotherapy Research 48 (4), 981-390 Rohde, A., Marneros, A. (Hrsg.) (2007): Geschlechtsspezifische Psychiatrie und Psychotherapie. Ein Handbuch. Kohlhammer, Stuttgart Schroeter, U. (2014): Bin am Meer. Eine Erzählung für Männer. adeo, München Sellschopp-Rüppel, A., Dinger-Broda, A. (2005): Geschlechtsspezifische Aspekte in der Psychotherapie. In: Senf, W., Broda, M. (Hrsg.): Praxis der Psychotherapie. Thieme, Stuttgart, 114-119 Stahl, C. (2014): In den Gangs von Neukölln. Das Leben des Yehya E. Hoffmann und Campe, Hamburg Wenzel, E., Mijnals, P., Kirig, A. (2008): Die Männerstudie. Strategien für ein erfolgreiches Marketing. Zukunftsinstitut, Kelkheim Wippermann, C., Calmbach, M., Wippermann, K. (2009): Männer-- Rolle vorwärts, Rolle rückwärts? Identitäten und Verhalten von traditionellen, modernen und postmodernen Männern. Barbara Budrich, Oppladen / Farmington Hills 68 2 | 2016 Christ, Mittellehner Die Autoren Prof. Dr. Claudia Christ, MPH Fachärztin für Innere Medizin und Rettungsmedizin, ärztliche Psychotherapeutin, Gesundheitswissenschaftlerin. 1989 bis 1999 klinische Tätigkeit (Assistenz-, Ober- und Chefärztin) in Berlin, Zürich, Toronto und Homberg / Ohm, 1999 bis 2005 an den Asklepios-Kliniken in geschäftsführender Position. Seit 2000 Dozentin, Supervisorin und Mitglied im Ausbildungsrat an der Wiesbadener Akademie für Psychotherapie, seit 2010 Professur in Frankfurt/ Berlin. Psychotherapeutin, Coach und Beraterin in eigener Praxis „Akademie an den Quellen“. Seit 30 Jahren Ausdauersportlerin. ✉ Prof. Dr. Claudia Christ Akademie an den Quellen An den Quellen 1 | D-65183 Wiesbaden Christ@quellen-akademie.de www.quellen-akademie.de Mag. Mag. Ferdinand Mitterlehner Dipl.-Psychologe und Theologe, Dipl.-Musikpädagoge, 1995 bis 2000 leitender Psychologe einer Klinikkette, 2000 bis 2010 Mitbegründer und Leiter eines staatlich anerkannten Ausbildungsinstitutes für Psychotherapie, seit 2009 Dozent, Supervisor und Mitglied im Ausbildungsrat an der Wiesbadener Akademie für Psychotherapie. Psychotherapeut, Coach und Berater in eigener Praxis „Akademie an den Quellen“ sowie musizierend auf der Bühne. ✉ Mag. Mag. Ferdinand Mitterlehner Akademie an den Quellen An den Quellen 1 | D-65183 Wiesbaden Mitterlehner@quellen-akademie.de www.quellen-akademie.de
