eJournals körper tanz bewegung 4/3

körper tanz bewegung
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2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Medien & Materialien: Ulfried Geuter: Körperpsychotherapie

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2016
Susanne Hofinger
Sabine Koch
Ulfried Geuter: Körperpsychotherapie Springer, 2015, Berlin, 379 Seiten, 49,99 € (D) Mit seinem jüngsten Werk „Körperpsychotherapie“ trägt Ulfried Geuter die Schätze aus nunmehr 100 Jahren Körperpsychotherapie zusammen. Dabei gelingt ihm die Vogelperspektive auf das vielgestaltige Netzwerk all jener Ansätze, die „Psychotherapie mit den Mitteln des Körpers und der Seele“ ausgearbeitet haben. Sein beeindruckender Wissensschatz ermöglicht vielfältige Querverbindungen inhaltlicher wie historischer Genese, und aus vielen einzelnen Schauplätzen wird ein zusammenhängendes Bild.
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156 Medien & Materialien körper-- tanz-- bewegung 4. Jg., S. 156-158 (2016) © Ernst Reinhardt Verlag Ulfried Geuter: Körperpsychotherapie Springer, 2015, Berlin, 379 Seiten, 49,99 € (D) Mit seinem jüngsten Werk „Körperpsychotherapie“ trägt Ulfried Geuter die Schätze aus nunmehr 100 Jahren Körperpsychotherapie zusammen. Dabei gelingt ihm die Vogelperspektive auf das vielgestaltige Netzwerk all jener Ansätze, die „Psychotherapie mit den Mitteln des Körpers und der Seele“ ausgearbeitet haben. Sein beeindruckender Wissensschatz ermöglicht vielfältige Querverbindungen inhaltlicher wie historischer Genese, und aus vielen einzelnen Schauplätzen wird ein zusammenhängendes Bild. Das Ergebnis ist ein famoser Überblick über das bislang unwegsame Gelände von Praxisanleitungen, Schulenvielfalt und Abgrenzungsversuchen entlang einer wissenschaftlich fundierten Theoriebildung, in deren Zentrum Geuter den Menschen als erlebendes Subjekt stellt. Der Wermutstropfen im fulminanten Werk: Die Tanztherapie spart Geuter meist aus. Im begründenden Verweis auf deren eigene umfangreiche Theorietradition erweist er sich jedoch auch hier als Kenner der Sache. Geuters Werk ist informativ von der ersten Zeile an. Schon im kurz gehaltenen Vorwort gibt er u. a. einen hilfreichen Überblick über die „wenigen“ Monographien der Körperpsychotherapie, ehe die Einleitung kaleidoskopartig den Blick auf den Inhalt der folgenden Kapitel eröffnet. Ausgangspunkt ist hier die Einordnung der Körperpsychotherapie (KPT) als „eine der großen Grundorientierungen der Psychotherapie“ (S. 2)-- Geuter nennt sie „erlebniszentriert“ (S. 5)- - mit Ursprung in (1) kritischer Psychoanalyse, (2) Leibpädagogik bzw. den körpertherapeutischen Methoden der Reformgymnastik und (3) der Human Potential Bewegung bzw. der Humanistischen Psychotherapie. Ehe Kapitel 3 diese Entwicklungslinien wohl informiert in den Blick bringt, ist Kapitel 2 Begriff und Definition der Körperpsychotherapie gewidmet: KPT sei demnach die „Behandlung von Krankheiten oder Leidenszuständen mit körperlichen und psychischen Mitteln“ (S. 19) unter Anbindung an die psychologische Theoriebildung. Kapitel 4 gibt mit dem „Erbe der Schulen“ (so die Überschrift) einen Überblick über die körpertherapeutischen Methoden und schließt den eher historisch orientierten Teil des Buches ab. Die folgenden Kapitel sind dem Entwurf einer alle Schulen übergreifenden körperpsychotherapeutischen Theorie gewidmet. Ausgehend vom holistischen Menschenbild (im Sinn einer Körper- Seele-Geist-Einheit) und den aktuellen Theorien von Embodied Mind und Enaktivismus präzisiert Geuter in Kapitel 5 den Begriff des erlebenden Subjekts. Mit dem „Drei-Ebenen-System“ (Kapitel 6) stellt er ein systemisches Modell des Erlebens dar. Den Atem konzeptioniert er als Bindeglied zwischen den Ebenen und zugleich als „Schnittstelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem“ (S. 109). Geuters Blick auf das Körpersystem des erlebenden Subjekts folgt weder dem Energieparadigma Reichs, noch dem Informationsparadigma der Psychodynamik. Seiner dynamisch-systemischen Theorie des Lebendigen liegt vielmehr die-- im biologischen Sinn dynamische- - Idee der Selbstorganisation organismischer Systeme von Maturana und Varela zu Grunde. Heilung ist in diesem Verständnis Unterstützung von Selbstheilung. Methodologisch grenzt Geuter diese Theorie gegenüber den Neurowissenschaften ab, deren Befunde zwar hoch relevant für die Körperpsychotherapie, aber beschränkt auf die bloße Erklärung von körperlichen Prozessen sind. Der verbreiteten Einschätzung, hier würden Entstehungszusammenhänge vollständig abgebildet, erteilt er eine Absage: „Psychische Phänomene auf neuronale 3 | 2016 157 Phänomene zurückzuführen gleicht dem Versuch, das Wohlbefinden nach einem Essen aus der Darminnervation zu erklären.“ (S. 131) Damit macht Geuter klar, dass der verdinglichende Zugriff der Naturwissenschaften dem Menschen als erlebendem Subjekt nicht gerecht werden kann. In der differenzierten Auseinandersetzung mit dem Begriff des Körpererlebens als Basis des Selbsterlebens (Kapitel 7) ermöglichen Geuters Ausführungen eine vertiefte Einsicht in die Aufgabe der KPT. Es geht demnach um nichts weniger als die individuelle Rehabilitation des Selbstbezugs. Eine inhaltliche Differenzierung erfährt der Begriff des Körpererlebens am Ende des Kapitels in den Ausführungen zu Körperschema und Körperbild. In der Embodiment-Forschung (Kapitel 8) erkennt Geuter die experimentelle Validierung des holistischen Menschenbildes der KPT. Damit sind die anthropologischen Grundlagen gelegt, der Blick des Autors fällt nun auf teleologische Aspekte. Als Ansatzpunkt der KPT sieht Geuter das Gedächtnis (Kapitel 9) im Sinn verkörperter Erinnerung („embodied memories“). Dieser andernorts als implizit bezeichnete Gedächtnisaspekt reaktiviere erworbene Beziehungsmuster in aktuellen Situationen und beeinflusse so Erleben und Verhalten, Habitus und Charakter. Geuter führt hierfür den Begriff „emotional-prozedurales Gedächtnis“ ein. Emotionen (Kapitel 10) versteht Geuter als körperliche Zustandsveränderungen, die genuin körperpsychotherapeutisch zu behandeln sind. Im dritten Teil des Buches betritt Geuter die Bühne der Intersubjektivität. Hier betrachtet er aus körperpsychotherapeutischer Perspektive die kindliche- - und damit präverbale- - Entwicklung (Kapitel 11), affektmotorische Schemata (Kapitel 12)-- hier verstanden als lebensgeschichtlich fundierte Narrative in Haltung und Bewegung- - sowie das Konzept der Abwehr (Kapitel 13), das aus dieser Perspektive ebenso wie das der Übertragung (Kapitel 15) als körperlicher Vorgang betrachtet wird. Weiter berichtet er Konzepte und Forschungsstand zur „Körperkommunikation“ (Kapitel 14) und richtet damit den Blick auf die intersubjektive Bedeutung der Körpersprache. Zum Ende des weiten Ganges durch das körperpsychotherapeutische Gelände schlägt Geuter vor, als Kernkonzept erlebniszentrierter KPT das Präsentische Erleben (Heisterkamp) aufzunehmen (Kapitel 16), bei dem es nicht um repräsentisches Deuten, sondern um evidente Körpererfahrung im Hier und Jetzt geht. Damit wäre eine Art Meta-Methode der KPT benannt. Dem Umstand, dass Psychotherapie ein intra- und interpersonaler Prozess ist, wird Geuters Verständnis von Selbstregulation (Kapitel 17) im Sinn der Anwendung auto- und koregulatorischer Strategien gerecht. Das theoretische Terrain ist damit umfassend abgesteckt, geschichtliche Entwicklungen beschrieben, aktuelle Forschung konsequent integriert. Doch Geuter geht mit dem letzten Kapitel „Körperpsychotherapie und ihr Betrag zur Integration“ (Kapitel 18) noch einen Schritt weiter: Als „dialektischen Prozess der Integration“ benennt er den Weg, der künftig zu beschreiten ist, damit die KPT den ihr entsprechenden Platz im Reigen der Psychotherapieansätze finden kann. Geuter schenkt der Körperpsychotherapie mit diesem Buch, was sie am meisten braucht: eine einheitliche Theoriebildung. Eine Theoriebildung, die orientiert ist an praktischen Vollzügen und wissenschaftlichen Befunden, übergreifendem und schulenunabhängigem Denken sowie wissenschaftlicher Anknüpfungsfähigkeit und Überprüfbarkeit. Insbesondere die Anbindung an Embodiment-Theorien und Selbstregulationstheorien ist überzeugend. Vom Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeuten Tilmann Moser wurde das Buch bereits als „Kompendium für alle Forscher und Praktiker“ (Ärzteblatt PP14 9 / 2015, 427) bezeichnet. Als solches ist es auch ein herausragendes Studienbuch. Eine Freude ist es, den Literaturverweisen (etwa zu den einzelnen Schulen, Kapitel 4) zu folgen, um Mal um Mal zu einem mit Bedacht gewählten Werk zu gelangen, welches das von Geuter vermittelte Bild immer noch weiter ausdifferenziert. Ein Ende ist hier nicht leicht erreicht, umfasst allein das Literaturverzeichnis immerhin 34 eng bedruckte Seiten. Doch da kommt die Struktur des Werkes dem Medien & Materialien 158 3 | 2016 Medien & Materialien Leser entgegen, denn jedes Kapitel steht für sich und ermöglicht ein differenziertes Bild auch nur einzelner Aspekte. Was der Berliner Forscher und Körperpsychotherapeut hier zusammengetragen hat, mag auf Jahre hin die wissenschaftliche Diskussion und die gelebte Praxis nicht nur im nationalen, sondern auch im internationalen Kontext befruchten (eine englische Version sollte deshalb bald folgen). Freilich wirft ein so umfassendes Werk auch Fragen auf: So etwa die nach dem je eigenen Gehalt der Begriffe „Körper“, „Subjekt“, „lebendiger Mensch“ und „Person“, die Geuter nahezu synonym verwendet. Weiter plädiert der Autor dafür, „Leib“ gleichzusetzen mit „erlebtem Körper“, was aus phänomenologischer Perspektive eine Verkürzung darstellt. Nichtsdestotrotz bezieht er sich ausdrücklich auf Leibgedächtnis und Embodiment-Forschung, was einen Verwissenschaftlichungskurs mit expliziter Schnittstelle zur Tanztherapie-Forschung anzeigt. Die Verquickung der Lebensphilosophie mit dem Gedankengut des Nationalsozialismus sollte im hier rezensierten Werk nicht unkommentiert bleiben, wo sie als geschichtlicher und theoretischer Baustein für ein Psychotherapieverfahren dient. Der Hinweis auf die „Öffnung der Psychologie zur nationalsozialistischen Ideologie“ (S. 52) zusammen mit dem Verweis auf eine einschlägige Monografie des Autors („Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus.“ Suhrkamp, 1985) greift hier sehr kurz. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion zur Intersubjektivität ist weiter fraglich, ob die Konzeption des Körpersystems als „autonome Einheit“ (S. 128) mit Bezug zur Umwelt dem Gegenstand gerecht wird. Der Begriff des „sozialen Selbst“ (S. 150) dürfte hier tatsächlich zu kurz greifen. Und dann wäre da jedenfalls noch die wahrlich nicht kleine Aufgabe, die tanztherapeutische Theoriebildung an Geuters Arbeit anzuschließen, wie er selbst vorschlägt (S. 20). Dies zu leisten ist eine ebenso umfangreiche, wie notwendige Aufgabe. In Summa: Geuters Buch ist eine Schatzkiste höchst praktischer Theoriebildung, in der sich die wesentlichen Theorieansätze der Körperpsychotherapie in enger Anbindung an praktische und wissenschaftliche Belege wiederfinden. Für Körperpsychotherapie und Psychotherapie liegt jetzt nicht nur ein Kompendium und Studienbuch, sondern auch eine gemeinsame Diskussionsgrundlage vor. Künftigen Arbeiten bleibt es vorbehalten, den Schatz nun auch zu heben und durch zahlreiche ansatzübergreifende empirische Forschungsprojekte und Diskurse fruchtbar zu machen. Das wird das Warten auf den von Geuter angekündigten zweiten Teil des Buches zu Methodik, Indikation und Wirksamkeit der Körperpsychotherapie verkürzen. Wir freuen uns schon jetzt darauf! Susanne Hofinger, Prof. Dr. phil. habil. Sabine C.-Koch DOI 10.2378 / ktb2016.art19d