körper tanz bewegung
9
2195-4909
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2016
41
Valentin Z. Markser / Karl-Jürgen Bär: Sport- und Bewegungstherapie bei seelischen Erkrankungen. Forschungsstand und Praxisempfehlungen
11
2016
Gerd Hölter
Seit zumindest mehr als 15 Jahren gehört in Deutschland die Sport- und Bewegungstherapie zum therapeutischen Regelangebot, allerdings – je nach klinischem Setting – unterschiedlich theoretisch begründet. Zudem wird diese Therapiemöglichkeit in den z. T. recht umfänglichen Ausbildungskompendien zur Psychiatrie und Psychotherapie für MedizinerInnen nach wie vor nur marginal erwähnt.
9_004_2016_1_0006
43 Medien & Materialien körper-- tanz-- bewegung 4. Jg., S. 43-45 (2016) © Ernst Reinhardt Verlag Valentin Z. Markser/ Karl-Jürgen Bär: Sport- und Bewegungstherapie bei seelischen Erkrankungen. Forschungsstand und Praxisempfehlungen Schattauer, 2015,Stuttgart, 244 Seiten, 39,99 € (D) Seit zumindest mehr als 15 Jahren gehört in Deutschland die Sport- und Bewegungstherapie zum therapeutischen Regelangebot, allerdings- - je nach klinischem Setting- - unterschiedlich theoretisch begründet. Zudem wird diese Therapiemöglichkeit in den z. T. recht umfänglichen Ausbildungskompendien zur Psychiatrie und Psychotherapie für MedizinerInnen nach wie vor nur marginal erwähnt. Aus dieser Perspektive ist es sehr zu begrüßen, wenn mit dem über 200-seitigen Sammelwerk von insgesamt 17 AutorInnen aus dem medizinischen Umfeld der Psychiatrie eine aktuelle Übersicht zum Thema „Sport- und Bewegungstherapie bei seelischen Erkrankungen“ vorgelegt wird. Das Buch ist in 13 Kapitel gegliedert, davon fünf Kapitel, die sich wissenschaftstheoretischen, phänomenologischen, neurobiologischen, trainingstheoretischen und allgemein sportmedizinischen Grundlagen widmen. Der umfänglichste Teil (ca. 150 Seiten) besteht aus acht Kapiteln, die sich in der Spannbreite von affektiven Störungen über Essstörungen und Sucht bis zu kognitiven Störungen im Alter (Demenz) und Schizophrenie mit sport- und bewegungstherapeutischen Fragestellungen im engeren Sinne befassen. Ergänzt werden die vorwiegend auf Erwachsene bezogenen Ausführungen um ein Kapitel zu psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Der Aufbau der einzelnen Kapitel ist in dem störungsspezifischen Teil im Wesentlichen ähnlich: Nach einer kurzen Einleitung folgt eine Beschreibung der Pathologie in Anlehnung an ICD- 10, dann eine Übersicht zu- - fast ausschließlich (über 90 %) englischsprachigen- - Metaanalysen und Einzelarbeiten, ausgewählt nach dem Kriterium der externen Evidenz, sowie die Darstellung eines klinischen Beispiels mit anschließenden Forschungs- und Praxisempfehlungen. Diese Gliederung ist einleuchtend und bietet wahrscheinlich den in ihrer eigenen Ausbildungsliteratur bisher nur äußerst knapp informierten Psychiatern einen aktuellen Überblick darüber, wie „exercise therapy“ in englischsprachigen Evidenzuntersuchungen verstanden und beforscht wird, wenn auch-- und dies ist ein erster Wermutstropfen- - die Auswahl der zitierten Untersuchungen recht lückenhaft erscheint und die mittlerweile fast klassisch zu nennenden englischsprachigen Lehrbücher zu diesem Thema von z. B. Biddle / Mutrie (2000, 2003, 2008) und Faulkner / Taylor (2003) überhaupt keine Erwähnung finden. Dies hängt wahrscheinlich- - und jetzt komme ich nicht nur zu „Tropfen“, sondern zu „Wermutsbächen“- - mit einer insgesamt einseitigen wissenschaftlichen Orientierung sowie einem sehr eindimensionalen Verständnis von Sport- und Bewegungstherapie zusammen. Im ersten Kapitel werden auf acht Seiten leibseelische Zusammenhänge in einem Literaturensemble von Descartes über Jaspers, Straus, v.-Weizsäcker und v. Uexküll bis zu Holsboer mehr angerissen als systematisch dargestellt. Das Thema ist zugegebenermaßen kein einfaches, aber es befriedigt zumindest, dass dieses Kapitel mit einem längeren Zitat des tiefenpsychologisch und phänomenologisch orientierten Pioniers der Bewegungstherapie in der Psychiatrie in Deutschland, Wolfgang Blankenburg, abschließt. Ob allerdings seine programmatische und im ersten Kapitel ausführlich zitierte Botschaft, dass „eine so verstandene Sport- und Bewegungstherapie nicht nur die technische Anwendung des evidenzbasierten Wissens“ erfordere (S. 16), von den AutorInnen gehört wurde, wird im Weiteren noch genauer zu prüfen sein. 44 1 | 2016 Medien & Materialien Denn die nächsten drei Kapitel im Umfang von 36 Seiten widmen sich ausschließlich neurobiologisch-endokrinologischen, trainingstheoretischen und allgemein sportmedizinischen Aspekten eines funktionell orientierten Sporttreibens. Dies ist in der Kürze, der Prägnanz und der Aktualität durchaus informativ, aber mehr für diejenigen, denen die funktionellen Begründungen für Sporttreiben und Bewegung nicht bekannt sind. Was in dieser Hinsicht für die meisten Menschen gilt, gilt auch für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Allerdings gibt es bei aller Sympathie für Sporttreiben in allen Lebenslagen auch Kontraindikationen für die thematisierten klinischen Populationen. Als theoretische Begründung für eine in Deutschland im Verlauf von über 30 Jahren recht gut entwickelte klinische Sport-Bewegungstherapie sind die Grundlagenkapitel in ihrer Ausrichtung mehr als einseitig. Es sei denn-- und das legt das vorliegende Sammelwerk nahe- - man versteht die Sport- und Bewegungstherapie bei seelischen Erkrankungen als ein vornehmlich funktionell-physiologisches Geschehen. Die dominierende Leitidee bei der Zusammenstellung der empirischen Forschungsbefunde ist der Bezug auf die sogenannte Evidenzbasierung und ihre einseitige und missverständliche Interpretation. Diese Einschätzung, die sich auf andere Bereiche der Medizin ebenfalls bezieht, teile ich mit einem der bekanntesten deutschen Psychiater H. J. Möller, der in seinen zusammen mit Kollegen mehrfach neu aufgelegten klassischen Lehrbüchern zur Psychiatrie und Psychotherapie (2001, 2002, 2005, 2008) ausführlich die Willkür von Evidenzgraduierungen und Metaanalysen mit den damit verbundenen Gefahren für die klinische Praxis diskutiert. Ohne diese Diskussion hier aufzunehmen (siehe hierzu z. B. die Pro & Kontra-Kolumne der Zeitschrift „Psychiatrische Praxis“ zur klinischen Relevanz der sogenannten „Goldstandards“ von 2011), wird in dem vorliegenden Werk eine mögliche Form der Evidenzgraduierung als gegeben hingenommen: u. a. mit der Folge, dass solche für unseren Sprachraum und klinischen Kontext relevanten Untersuchungen, die häufig nicht über eine Cochrane Library Research und bei Medline per Computer zu ermitteln sind (wie die meisten französisch-, spanisch-, russischsprachigen etc. Untersuchungsergebnisse wahrscheinlich auch), „unter den Tisch fallen“ und demnach auch bei der Diskussion der Forschungs- und Praxisempfehlungen keine Rolle spielen. Dies hat für die deutschsprachige klinische Realität meines Erachtens tiefgreifende negative Konsequenzen: So findet sich z. B. in den englischsprachigen Suchrastern der Begriff „movement therapy“ (es sei denn im Sinne von „physiotherapy“) so nicht, sondern nur, wenn es um Sport und Bewegung geht, der Begriff „exercise therapy“ dagegen als eine Form der Bewegungstherapie, die vornehmlich als Ausdauer- oder Kraftleistung operationalisiert wird. Dies mag aus forschungsmethodischen und -ökonomischen Gründen verständlich sein, nur entspricht dies nicht der klinischen Realität der Sport- und Bewegungstherapie in Deutschland. Hierzulande sind zumindest zurzeit noch der phänomenologisch geprägte Einfluss der Tübinger Schule der Leibeserziehung (Grupe) sowie des Freiburger und später Marburger Psychiaters W. Blankenburg deutlich spürbar. Die Begründung für eine Bewegungstherapie bei seelischen Erkrankungen beruht hier stärker auf der Berücksichtigung der mehrfachen Bedeutung des Bewegungshandelns (u. a. sozial, sensibel und symbolisch, dictu J. Funke). Eine Aktivierung im physiologischen Sinne spielt zwar auch als sogenannte instrumentelle Bedeutung eine Rolle, aus ihr lassen sich allerdings nur zu einem geringeren Teil die spezifischen Therapieziele für Menschen mit seelischen Erkrankungen ableiten. Gerade die Beachtung des sozial-dialogischen Aspekts der Beziehungsgestaltung ermöglicht den Brückenschlag von der Sportwissenschaft zu der immer bedeutender werdenden Körper- und Bewegungspsychotherapie. Diese sinnvolle Ergänzung und Verbindung erscheint mir bei dem im Buch dominanten funktionellen Verständnis von Bewegungstherapie weitaus schwieriger herzustellen zu sein. 1 | 2016 45 Medien & Materialien Das vorliegende Buch bietet zum Wohle der PatientInnen einen Anlass, die interdisziplinäre Fachdiskussion zwischen mehreren Berufsgruppen und unterschiedlichen Begründungsmustern und Praxiskonzepten erneut anzuregen. Dies ist sicherlich im Sinne des 2008 u. a. von renommierten Psychiatern und DGPPN-Mitgliedern (Broocks, Längle) initiierten und unterstützten Arbeitskreises „Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen“, ein Forum, das mittlerweile einer Reihe von störungspezifischen Empfehlungen vorgelegt hat. Das Buch wurde in exzellenter Druckqualität hergestellt; so ist das Lektorat z. B. bei den Literaturangaben sehr sorgfältig, und das Hardcover lädt zum mehrmaligen Gebrauch ein. Inwieweit die Mehrzahl der die einzelnen Kapitel einleitenden Fotos einen Bezug zum Thema hat, erschließt sich dem Rezensenten nicht. Prof. em. Dr. Gerd Hölter DOI 10.2378 / ktb2016.art05d
