körper tanz bewegung
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/ktb2016.art11d
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Verlorene Väter
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Konrad Heiland
Unsere therapeutische Arbeit wird nicht unwesentlich von einem gesellschaftspolitischen Klima mitgeprägt. Der folgende Text skizziert die Entwicklung der Vaterrolle in Deutschland, insbesondere seit der Nachkriegszeit. Dabei fungiert der Begriff der „Vaterlosen Gesellschaft“, wie ihn der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich formuliert hat, als gedanklicher Ausgangspunkt. Untaugliche Modelle der Männlichkeit lieferten die Nazi-Väter, die 1968er-Machos, aber auch die wenig attraktiven, klassische männliche Attribute verweigernden Neuen Männer. Die Schwächung der Rolle des Vaters bis in unsere Gegenwart hinein wird nicht zuletzt auch anhand einer Kritik des exzessiven Feminismus formuliert.
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89 körper-- tanz-- bewegung 4. Jg., S. 89-97 (2016) DOI 10.2378 / ktb2016.art11d © Ernst Reinhardt Verlag Verlorene Väter Eine Fortsetzungsgeschichte Konrad Heiland Unsere therapeutische Arbeit wird nicht unwesentlich von einem gesellschaftspolitischen Klima mitgeprägt. Der folgende Text skizziert die Entwicklung der Vaterrolle in Deutschland, insbesondere seit der Nachkriegszeit. Dabei fungiert der Begriff der „Vaterlosen Gesellschaft“, wie ihn der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich formuliert hat, als gedanklicher Ausgangspunkt. Untaugliche Modelle der Männlichkeit lieferten die Nazi-Väter, die 1968er-Machos, aber auch die wenig attraktiven, klassische männliche Attribute verweigernden Neuen Männer. Die Schwächung der Rolle des Vaters bis in unsere Gegenwart hinein wird nicht zuletzt auch anhand einer Kritik des exzessiven Feminismus formuliert. Schlüsselbegriffe Verlorene Väter, vaterlose Gesellschaft, verwandelte Väter, Generation Gap, orthodoxe Männlichkeit, exzessiver Feminismus, die neuen Männer / die neuen Väter Lost Fathers. A Serial Our therapeutic work is considerably influenced by a socio-political climate. The following text outlines the development of the father role in Germany, especially since the post-war period, conceptionally based on the notion of the “fatherless society”, formulated by psychoanalyst Alexander Mitscherlich. There are several examples of impractical male role models: the Nazi-fathers, the macho types of the ’68 generation, and last but not least the so called “New Men” and their refusal of classical masculine attributes. The weakening of the father role up to the present is, amongst others, articulated through a critical assessment of excessive feminism. Key words „fatherless society“, fathers in change, generation gap, orthodox masculinity, excessive feminism, new men / new fathers D er Karikaturist Erich Ohser, besser bekannt unter seinem Pseudonym e. o. Plauen (tatsächlich in Kleinschreibung), zeichnet Anfang der 1930er Jahre ein liebevolles, warmherziges Bild von der Beziehung zwischen Vater und Sohn: Sich fürsorglich umeinander kümmernd, bewältigen sie gemeinsam die Abenteuer des Alltags. Zur selben Zeit propagieren die Nationalsozialisten einen aggressiven Militarismus und feiern den soldatischen Körper, wie ihn Klaus Theweleit in seinen „Männerphantasien“ (1977 / 1978), einem der ersten und bis heute bedeutsamsten Werke der internationalen Männerforschung, beschreibt. Bei Plauen aber bilden Vater und Sohn ein verspieltes, zuweilen sogar verschmitztes Gespann. Offensichtlich erfreuen sie sich aneinander, und beim Vater wird das Kind im Forum: Essay 90 2 | 2016 Konrad Heiland Manne voller Witz und Heiterkeit wieder lebendig: Der „Homo ludens“, wie ihn Friedrich Schiller in seinem Traktat „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1794) so entschlossen anpries: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, so lautet die sympathische Schlussfolgerung des berühmten Dramatikers. Die vaterlose Gesellschaft In der Nachkriegszeit startete die Karriere eines bis heute bedeutsamen Begriffs: Die Rede ist von der vaterlosen Gesellschaft, wie sie der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich 1963 mit seinen Texten in Gang gebracht hatte. Er formulierte eine Kritik an der von ihm so genannten „paternistischen Gesellschaft“, die allzu sehr durch Gehorsam geprägt wurde. Die Herausforderung besteht nun darin, weder den autoritären Vater zu reinstallieren, noch durch Entwertung und Verachtung dieser väterlichen Position eine bloße Leerstelle zu schaffen. Der Publizist und Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik spricht in seiner Kommentierung von Alexander Mischerlichs „Erziehung zur Unsicherheit“ und meint damit die Reifung zu einer autonomen Persönlichkeit, die in der Lage ist, Ambivalenzen als Ziel aller pädagogischen Bemühungen auszuhalten. Durch die Nazizeit und auch durch den Zweiten Weltkrieg haben die Männer in Deutschland eine doppelte Niederlage erlitten: Sie haben für die falsche Seite gekämpft und obendrein den Krieg verloren. Diese Demütigung der Kriegsheimkehrer wird besonders drastisch in dem Film „Quellen des Lebens“ (2012) gezeigt, wo man vorgeführt bekommt, wie geschunden an Leib und Seele-- verwahrlost, verdreckt, gequält- - die Männer zurückkehren. Mit diesem Film drehte der Regisseur und Autor Oskar Roehler, sicher nicht ohne Lust an der Provokation, bisher vertraute Perspektiven um: Während der Nazi-Großvater sich durchaus liebevoll um seinen Enkel kümmert, vernachlässigt ihn der vor allem mit sich selbst befasste „68er-Vater“ auf geradezu sträfliche Weise. Überzeugende, einprägsame Darstellungen durch Schauspieler wie Moritz Bleibtreu und Jürgen Vogel tragen diesen unbedingt sehenswerten, weitestgehend unterschätzten Film. Im Rollback der 1950er Jahre gelang es den Männern noch einmal kurzfristig, die Oberhand zu gewinnen, die gesellschaftlichen Schlüsselpositionen ebenso zu besetzen wie auch die Rolle des Familienpatriarchen. In der Adenauer-Republik wurde ein konservatives Männerbild zu restaurieren versucht, vor allem mit Hilfe der Kirche; in deren Wiedererstarken verbarg sich ein verdecktes, in gewisser Weise verlogenes Bußritual für die Verbrechen der Nazi-Zeit. In ihrem bahnbrechenden Buch „Die Politisierung der Lust- - Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts“ (2005) weist die amerikanische Historikerin Dagmar Herzog nach, wie sehr die 68er-Revolte sich zuallererst gegen den rigiden Puritanismus und die Restauration der 1950er Jahre richtete und wie viel weniger sie eine unmittelbare Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit darstellte. Mit dem Erfolg der Rockmusik, damals noch „Beat-Musik“ genannt, mit dem „Beat-Club“ als trendiger, fröhlich funkender Propagandazentrale, verband sich eine Revolte, die zunächst an Äußerlichkeiten ansetzte- - wie Haartracht und Kleidung, befeuert von der Lautstärke und Kraft der elektrifizierten Rockmusik. Manch Konservativer empörte sich in gewisser Weise zu Recht, weil damit bereits die subversive Unterwanderung eines autoritären Rollenverständnisses verbunden war. Für die politisch-ideelle Ausformung sorgten die linken Studenten und auch die Hippie-Kultur, deren sanfter Anarchismus und schnell ansteigender Drogenkonsum jeglicher Form von Disziplin eine Absage erteilte. Der propagierte Pazifismus zeigt sich in Filmen wie „How I Won Verlorene Väter 2 | 2016 91 the War“ (1967) von Richard Lester, dem Haus- Regisseur der Beatles, mit John Lennon in der Hauptrolle: Der männliche Militarismus wird lächerlich gemacht. In „Alice’s Restaurant“ (1969) von Arthur Penn versucht sich der Folk- Sänger Arlo Guthrie mit allen möglichen Tricks, der Einberufung zum Militärdienst zu entziehen. Mit seinem Liedvers „You can get anything you want at Alice’s Restaurant (excepting Alice)“ proklamiert er einen libertären Anarchismus. Die hedonistischen Tendenzen spiegeln sich nicht zuletzt darin wider, dass eine Kirche in das titelgebende Restaurant, einen Ort der Sinnenfreude, verwandelt wird. Auf der anderen Seite entwickelten nicht wenige 68er eine zunächst merkwürdig anmutende Liebe zum konservativen Western und speziell zum Italo-Western, in dem alles von Männern, ihren gewalttätigen Auseinandersetzungen und Revierkämpfen dominiert wird. Gerade die Rebellen gegen die Eltern-Generation legten mehr Machotum an den Tag als ihre eigenen Väter und luden durch die Western ihre eigene Männlichkeit geradezu libidinös auf. Gerhard Schröder, Otto Schily und Joschka Fischer stehen exemplarisch für den narzisstisch gefärbten Machismo der 68er. Seitdem ist in unseren Breiten das allzu selbstherrliche Gebaren männlicher Prominenter ein wenig in Verruf geraten, auf der anderen Seite des Atlantiks allerdings tauchte ein Politiker auf, dessen Auftritten sogar mit Fug und Recht eine „Breitbeinigkeit“ attestiert wurde: George W. Bush. Dieser amerikanische Präsident schien wie aus einem Billigwestern entsprungen zu sein. Offenbar handelt es sich bei dem demonstrativen Öffnen der Beinschere, im Sitzen, im Gehen oder im Stehen, um ein archaisches männliches „Platzhirsch“-Ritual. Im positiven Sinne steht der Vater nicht zuletzt dafür, die männliche Aggression zu formen, sie in konstruktive Bahnen zu lenken, die Affektregulation zu fördern. „Vaterlosigkeit greift primär in die männliche Identitätsentwicklung ein und kann zu omnipotenten Fantasien über männliche Großartigkeit führen“, stellen die Sozialforscher Nils Döller und Mirjam Weisenburger in ihrer gemeinsam verfassten Untersuchung zur männlichen Identität fest (Döller / Weisenburger 2009, 127). Eben gerade das Fehlen einer im positiven Sinne glaubwürdigen väterlichen Autorität kann die aggressive Komponente aus dem Ruder laufen lassen. Im allerschlimmsten, Gott sei Dank nach wie vor seltenen Fall mutiert der Sprössling dann sogar zum Amokläufer. Verwandelte Väter Nach dem restaurativen Impuls der Nachkriegszeit schlug das Pendel wieder in die entgegengesetzte Richtung aus: Die antiautoritäre Erziehung enthielt das Angebot an die Eltern, sich ihrer Aufgabe zu entziehen, Auseinandersetzungen zu vermeiden. Der so genannte „Kumpel-Vater“, wie ihn das Autoren- Duo Dieter Schnack und Rainer Neutzling in ihrem soziologischen Traktat „Kleine Helden in Not- - Jungen auf der Suche nach Männlichkeit“ (1990) kritisch skizziert, verwischt seine Verantwortung und tritt seinen Kindern eher auf einer Geschwisterebene gegenüber: Er nimmt keine klare Position ein. So wird es schwierig für seinen Sohn, sich im Konflikt mit ihm zu reiben und dann später eine eigene, unabhängigere Haltung zu entwickeln. In den 1970er Jahren antwortete der Feminismus nicht zuletzt auch auf die Selbstherrlichkeit der 68er-Männer: Zu Beginn, im April 1971, wurde die Stern-Kampagne „Ich habe abgetrieben“ veröffentlicht; später dann, im Jahr 1977, gründete Alice Schwarzer die feministische Zeitschrift „Emma“. Das berechtigte Anliegen, die nachvollziehbare Wut auf die Selbstverständlichkeit männlicher Machtpositionen, generiert neben positiven Errungenschaften eben auch äußerst fragwürdige Effekte, wenn etwa Männer als Väter auf die reine Erzeugerrolle reduziert werden. Hier findet die 92 2 | 2016 Konrad Heiland Vaterlosigkeit eine neue Quelle. Während in großen Teilen von Politik und Gesellschaft die Männer weiterhin ihre Machtpositionen behielten, an ihren Chefsesseln klebten, sah es im privaten Bereich ganz anders aus: Männer waren verunsichert, fanden keine Worte und ließen sich aus den Familien verjagen. Sie wurden depotenziert und kastriert und nahmen das auf eigentümliche Weise relativ widerspruchslos hin. Das schürte dann doch den Verdacht, dass es ihnen in irgendeiner Form auch wiederum zupass kam, sich aus der Verantwortung zu stehlen, sich herauszuziehen, die Flucht zu ergreifen. Eine andere Entwicklung zeigte sich im Zuge der Alternativ-Szene und Öko-Bewegung in den 1980er Jahren: Die Frauen mit ihren Kurzhaarfrisuren und lila Latzhosen wirkten seltsam vermännlicht, während die Männer strickend im Plenarsaal des Bundestags saßen und zahlreiche andere, bislang weibliche konnotierte Tätigkeiten übernahmen. Aus dieser Gemengelage heraus entstand der so genannte „Softie“, ein Mann, der sich den weiblichen Anforderungen anpasst oder gar unterwirft und schnell der Lächerlichkeit und dem Gespött preisgegeben wird. Anfang der 1990er Jahre kehrte die Geschlechterpolarität wieder zurück, wobei die Postmoderne durch ein Nebeneinander unterschiedlicher Lebensweisen gekennzeichnet war. Es gab keine dominierende Leitkultur mehr und auch keine Avantgarde-- es blühten die Parallelgesellschaften. Die klassische Vater-Mutter-Kind-Konstellation löste sich auf, die Triangulierung wurde abgeschwächt, es bildeten sich vermehrt Patchwork-Familien, die Väter verdoppelten sich. Die Figur des Vaters erfuhr eine negative Karriere: vom Zentrum zur Randfigur, vom Patriarchen zum „Papa“. Bei vielen der zahlreichen Scheidungen, die meist auf die Initiative der Frauen zurückgingen, waren am Ende die Väter die Verlierer. Bei dieser Entmachtung der männlichen Position drängte sich die Frage auf, wofür auch im psychoanalytischen Sinne der Vater als Instanz eigentlich steht. In der französischen Psychoanalyse, bei Jacques Lacan und seiner durchaus patriarchalisch gefärbten Denkweise, repräsentiert der Vater die symbolische Ordnung der Welt. Er vermittelt seinen Kindern eine Art Gebrauchsanweisung, die Regeln, nach denen das Leben seiner Meinung nach funktioniert, während die Mutter für die emotionale und leibliche Versorgung zuständig ist. Wenn man in diesem durchaus konventionellen Denkmuster bleibt, führt die Schwächung des Vaters zu einem Orientierungsverlust der Kinder, insbesondere der Söhne, denen ja auch eine Identifikationsfigur abhanden gekommen ist. Im Zentrum der orthodoxen Psychoanalyse bei Sigmund Freud steht zunächst der Vatermord. In „Totem und Tabu“ wird dadurch, dass die Brüder ihren autoritär-tyrannischen Anführer umbringen, erst der Grundstein für die Entwicklung der Kultur und der Zivilisation gelegt. Auch der Mythos von Ödipus schildert, wie der Sohn den Vater tötet. In einer auf Veränderung hin orientierten fortschrittlichen Gesellschaft muss das Alte weichen, um für das Neue Platz zu machen. In traditionalistisch geprägten Gesellschaften, zum Beispiel im Orient, existiert eine Erzählung vom Vater, der den Sohn beseitigt und damit die Wahrung der Tradition gewährleistet. Dieses Motiv findet sich auch bei den so genannten „Ehrenmorden“ wieder. Tabubruch legitimiert Mord. In der griechischen Mythologie imponiert die Figur des Titanen Kronos, der, aus Angst vor seiner Entmachtung, die eigenen Kinder frisst. So wird er zu einem Sinnbild für das destruktive Potenzial der Zeit, der Chronologie, die immer zum Tod führt. Generation Gap Unter dem Eindruck der gelungenen Verfilmung (Ang Lee, 1997) des amerikanischen Romans „Der Eissturm“ von Rick Moody (2005), Verlorene Väter 2 | 2016 93 der den Aufbruch und das Chaos der frühen 1970er Jahre in den USA thematisiert, schreibt der Autor und Essayist Stephan Wackwitz in seinem Buch „Die Bilder meiner Mutter“ (2015) eine poetische Reflexion, in der er wunderbare Worte für den Generation Gap dieser Zeit findet: „Auf der einen Seite des psychohistorischen Grand Canyons standen zwei Menschen, die in der Hitlerzeit groß geworden und im Krieg auf ihre jeweils eigene (und beides Mal sehr schlimme und prägende) Weise beschädigt worden waren. Auf der anderen Seite lebten zwei ‚Kinder von Marx und Coca Cola‘, wie Jean-Luc Godard unsere eigenartige Luxusverwahrlosung auf den Begriff gebracht hat. Der psychohistorische Abstand war damals nicht nur im ‚New Canaan‘ von Ang Lees Film, sondern auch in Blaubeuren so groß geworden, dass es so gut wie keine gemeinsamen Erfahrungsräume mehr gab. Zwei unvereinbare generationenspezifische Wirklichkeitsdeutungen verkeilten sich gegeneinander- - trotz aller Gutwilligkeit, gelegentlichen Gesprächsbereitschaft und Bemühungen. Nie war die Familie deutlicher erkennbar als ‚deine ganz persönliche Antimaterie‘ als um 1970 herum.“ Noch fundamentaler fasst der Philosoph Peter Sloterdijk den Bruch zwischen den Generationen als ein typisches Wesensmerkmal der Moderne auf. Es entwickelt sich geradezu eine Aufhebung der Genealogie, sicher gefördert durch die rasante Entwicklung neuer Technologien, die nicht zuletzt auch den Vater in seiner Funktion als Vermittler gesellschaftlicher Spielregeln und Übereinkünfte entmachtet. In seinem 2014 erschienenen philosophischen Traktat „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ zitiert Sloterdijk seinen Lieblingsphilosophen Friedrich Nietzsche, der in „Ecce Homo“ die Verständnislosigkeit zwischen den Generationen provokativ zuspitzt: „Man ist am wenigsten mit seinen Eltern verwandt. Es wäre das äußerste Zeichen von Gemeinheit, seinen Eltern verwandt zu sein.“ (Nietzsche 2000, 268). Wenn Peter Sloterdijk nun den harten Generationsbruch als charakteristischen Wesenszug der Moderne identifiziert, so sind wir möglicherweise aber mittlerweile darüber schon wieder hinausgewachsen: In Zeiten stärkerer wirtschaftlicher Verunsicherung werden die Generationen wieder mehr zusammengeschweißt. Kritik an der orthodoxen Männlichkeit 80 Prozent der Ausbildungskandidaten in der Psychotherapie sind weiblichen Geschlechts (Dammasch et al. 2009, 7). Wo sind die Männer geblieben? Was hat sie zu dieser Flucht getrieben, die auch andere soziale Berufe betrifft? Handelt es sich dabei vielleicht um eine narzisstisch gefärbte Überkompensation der Anforderungen, die nicht zuletzt aus der feministischen Bewegung an sie herangetragen wurden? Ziehen sie sich in ihre klassischen Domänen zurück, womöglich auch deshalb, weil sie dort schlichtweg mehr Geld verdienen können? Immer noch behauptet sich neben anderen auch ein sehr schmalspuriges Männerbild: der Mann als harter Bursche, wortkarg, kämpferisch, einfach und brutal, wie es bei den Neonazis auf die Spitze getrieben wird. So eignet er sich als Kanonenfutter und lässt sich leicht missbrauchen. Der Mann lebt wie in einem Gefängnis. Auf jeden Fall weist ein orthodoxes Männerbild Züge von Zwanghaftigkeit und Schizoidie auf, hierzu passt auch eine kämpferisch gefärbte Sprache, die auf Durchsetzung und Überwältigung angelegt ist und von Linguisten als „agonal“ bezeichnet wird. Die australische Soziologin Raewyn Connell, die zu den führenden Wissenschaftlerinnen einer „kritischen Männerforschung“ zählt, erkennt in dem Begriff „Frontmännlichkeit“ eine zeitgemäße Gestalt hegemonialer Männlichkeit, des männlichen Anspruchs auf Vorherrschaft. 94 2 | 2016 Konrad Heiland Die Einseitigkeit des Denkens, die eingeengte Perspektive, die Frauen einzig und allein aus männlicher Sicht betrachtet, wird von der französischen Feministin Luce Irigaray als „Phallogozentrismus“ kritisiert. Darin folgen ihr auch andere, durchaus feministisch und psychoanalytisch geprägte Theoretikerinnen, wie Julia Kristeva oder Hélène Cixous, die als erfolgreiche Theaterautorin in Paris Furore machte. In ihrem Zwei-Personen-Stück „Portrait de Dora“ scheitert der große Psychoanalytiker Sigmund Freud an seiner Patientin D., in die er sich verliebt hat. Sie registriert diese Schwäche des Therapeuten und führt ihn lustvoll an der Nase herum. Die schlimmste Erscheinungsform orthodoxer Männlichkeit beschreibt Klaus Theweleit in seinen „Männerphantasien“ (1977 / 1978) mit der faschistoiden Ausrichtung des Maskulinen, dem gedrillten, gestählten Körper, der zum Töten abgerichtet wird. Hierbei unterdrücken die Männer zunächst einmal vor allem sich selbst, zwingen sich gewaltsam in ein sadomasochistisches Arrangement hinein, eine Quälerei, die leider allzu oft perfekt funktioniert hat. Für die psychische Ausrichtung spielen dabei Vorbilder eine wesentliche Rolle, die Psychoanalyse spricht vom Ideal-Ich. Der Kriegsheld, der mit zahlreichen Orden dekorierte Kämpfer, weist dabei eher in diesen klassischen, orthodoxen Weg, aber im 20. Jahrhundert finden sich auch andere männliche Idole wie Albert Schweitzer oder Martin Luther King und Nelson Mandela, die ihre männliche Kraft für friedliche Zwecke einsetzen und vielleicht so die Sehnsucht der Gesellschaft nach Versöhnung widerspiegeln. Der erfolgreiche Aufstieg in der kapitalistischen Welt wird durch eine umstrittene Figur wie Steve Jobs- - dem moralische Verfehlungen ebenso vorgehalten werden, wie er für seine kreative Leistung Bewunderung findet- - für manche vorbildhaft verkörpert. Wäre, was den gegenwärtigen digitalen Kapitalismus betrifft, Bill Gates als Vorbild nicht die geeignetere Figur, weil er seine Finanzkraft immer wieder für gute Zwecke nutzt und Aktivitäten wie die „Bill Gates Foundation“, die gegen Aids kämpft, ins Leben gerufen hat? Kritik am exzessiven Feminismus „Statt der heroischen, öffentlichen und blutigen Männer-Anstrengungen des 20. Jahrhunderts, die Welt ein für alle Mal und unwiderruflich zu ändern, verwirklichte das Leben meiner Mutter einen privaten ‚kleinen‘ Heroismus, dessen Spielregeln sie denen der Kunst abgeschaut hatte“, so einfühlsam beschreibt Stephan Wackwitz die Lebensumstände seiner Mutter, die 1970 an Krebs verstorben war, bevor die Frauenbewegung ihren Höhepunkt erreichte und zu einigen nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen führte. Der Feminismus, der in den kommenden Jahren folgte, ist und bleibt als politische Kraft notwendig, aber er hat auch einige Fehlentwicklungen mit befördert, unter denen wir heute leiden. Die Erziehungswissenschaftlerin und Traumatherapeutin Astrid von Friesen weist in ihrem pamphletistisch verfassten Buch „Schuld sind immer die anderen- - Die Nachwehen des Feminismus: Frustrierte Frauen und schweigende Männer“ (2012) eindringlich auf einige gesellschaftliche Problematiken hin, die ihrer Meinung nach dem exzessiven Feminismus geschuldet sind. In der Süddeutschen Zeitung beschreibt sie Beispiele aus ihrer therapeutischen Praxis, in denen die Frauen ihre Männer schikanieren und entwerten, und fragt sich: „Warum wollen sie der Welt demonstrieren, dass sie sich selbst einen Vollidioten ausgesucht haben? “ (von Friesen 1999, VI) Hier gerät der feministische Furor offensichtlich in Paradoxien und Selbstwidersprüche hinein. Die in Geschlechterfragen besonders umtriebige Psychologin Beate Kricheldorf schreibt in ihrem Traktat „Verantwortung: Nein danke! Verlorene Väter 2 | 2016 95 Weibliche Opferhaltung als Strategie und Taktik“: „Opferhaltung aus Berechnung und Einflößen von Schuldgefühlen ist ein uralter Trick. Frauen haben sich darin zu Perfektionistinnen entwickelt, so dass Männer diesen Trick nicht bemerken.“ (zitiert nach von Friesen 2012, 54) Und an anderer Stelle heißt es dann: „Das psychoanalytische Modell der Triangulierung beschreibt die Wichtigkeit des Vaters, damit das Kind nicht nur ein Gegenüber- - die Mutter-- hat, sondern seine Wünsche noch einem zweiten Menschen gegenüber äußern kann.“ (zitiert nach von Friesen 2012, 54) Der Vater relativiert die Macht der Mutter, darin liegt eine seiner wichtigen Funktionen, die wieder mehr Gewicht bekommen sollte. Es lässt sich aber auch noch eine andere Perspektive eröffnen, in der die Schuldfrage keinerlei Rolle spielt: Weder die Männer, noch die Frauenbewegung werden hier angeklagt, sondern diese Sichtweise nimmt eher die Dimension des Tragischen an. Schuldlos schuldig werden, dies ist eine Kategorie, die in der klassischen Tragödie ihren angestammten Platz hatte, aber in der heutigen Welt der Psychotherapien manchmal etwas heimatlos wirkt. Die französische Psychoanalytikerin Christiane Olivier allerdings baut eine Brücke zwischen dem Schicksalhaften und den gedanklichen Ansätzen heutiger psychologischer Theorien: Mit „Jokastes Kinder“ (1980) gelingt ihr zum Ende der 1970er Jahre eine bis heute griffige Darstellung eines unglückseligen Circulus vitiosus zwischen den Geschlechtern und Generationen: Die Tochter hat ihren abwesenden Vater einst vermisst. Jetzt möchte sie als erwachsene Frau den Ehemann ganz bei sich wissen. Der Sohn hat sich von seiner Mutter dominiert und unterdrückt gefühlt. Etwas Vergleichbares soll dem erwachsenen Mann nun mit seiner Ehefrau nicht noch einmal widerfahren. Durch diese gegenläufige Orientierung ist für eine einigermaßen sichere Perpetuierung des Unglücks gesorgt, und es drängt sich die Frage auf: Kann nicht zuletzt durch emanzipatorische Fortschritte dieser fatale Teufelskreis überwunden werden? Die neuen Männer / die neuen Väter Wie überall in der Geschichte muss man auch hier aufpassen, dass das Pendel nicht allzu weit in die Gegenrichtung ausschlägt, dass der Feminismus nicht zu einer Pauschalverurteilung der Männer führt, die sich schon im Voraus für ihr Geschlecht entschuldigen müssen. Die berechtigte Forderung der Frauen nach gleicher Verteilung der Macht in Politik, Kultur, Wissenschaft, in zentralen Domänen der Öffentlichkeit bedarf noch immer einer weiteren Erfüllung, wohingegen im privaten Feld die Männer wieder Terrain zurückerobern sollten. Sie haben als Väter ein wesentliches Wort mitzureden! Döller und Weisenburger mahnen einen präzisen Blick auf die männliche Identitätsentwicklung an: „Eine wichtige Unterscheidung in den Aggressionstheorien ist für uns die Differenz zwischen feindseliger Destruktivität und nicht destruktiver Aggressivität, die dem Zwecke der Selbstbehauptung dient. Das Fehlen von Konzepten zur männlichen Identitätsentwicklung jenseits feministischer Illusionen ist vermutlich mit ein Grund dafür, warum bis heute die externalisierende Tendenz der Jungen zu rivalisierenden, bewegungsreichen, sensationsorientierten, spielerisch-kämpferischen Verhaltensweisen in der frühen und späten Pädagogik eher negativ sanktioniert wird.“(Döller / Weisenburger 2009, 126) Raufende Jungs auf dem Schulhof zeigen und prüfen zunächst einmal ihre gesunde, männliche Kraft und gehören in keinen ICD-10-Diagnosekatalog. Seit Jahren besteht die Tendenz, ausgehend von den USA, aus dem Rahmen fallenden Verhaltensäußerungen mit Medikamentengaben zu begegnen. In diesem Zusammenhang warnt der amerikanische Psychiater Allen J. Frances, der an der Entwicklung des 96 2 | 2016 Konrad Heiland DSM-III maßgeblich beteiligt war, vor einer inflationären Flut psychiatrischer Diagnosen. Es geht um eine zunehmende Pathologisierung der Gesellschaft, in der die Grenzen von krank und gesund, normal und verrückt, viel zu eng gezogen werden- - eigentlich erstaunlich für eine Demokratie, die angeblich so viel Wert auf Individualität legt. Eine Integration klassischer männlicher Tugenden und traditioneller weiblicher Anteile-- das wäre eine wünschenswerte Richtung, in die hinein sich männliche Identität in Zukunft entwickeln sollte. Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit, Stabilität, Klarheit und Kraft könnten sich vereinigen mit der Fähigkeit zuzuhören, Empathie für andere zu entfalten, Gefühle mit Worten auszudrücken und die eigenen Anliegen immer wieder einmal zugunsten einer Beziehung zurückzustellen. Leider muss wohl festgestellt werden, dass diese Entwicklung im Moment nicht nur stagniert, sondern sich hier und da deutliche Anzeichen eines Rollbacks zeigen, wieder rigidere Formen von Männlichkeit trotzig behauptet werden, die unkontrollierte Aggression sich allenthalben wieder Bahn bricht: Ein Backlash liegt in der Luft! Literatur Dammasch, F. / Metzger, H.-G. / Teising, M. (2009): Männliche Identität. In: Dammasch, F. / Metzger, H.-G. / Teising, M. (Hrsg.): Männliche Identität-- Psychoanalytische Betrachtungen. Brandes & Apsel, Frankfurt/ M., 7-14 Döller, N., Weisenburger, M. (2009): Männlichkeitsentwicklung zwischen konstruktiver und destruktiver Aggression. Annäherung an psychoanalytische Theorien. In: Frank Dammasch, F. / Hans-Geert Metzger, H.-G. / Martin Teising, M. (Hrsg.): Männliche Identität-- Psychoanalytische Betrachtungen. Brandes & Apsel, Frankfurt/ M., 109-130 von Friesen, A. (2012): Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: Frustrierte Frauen und schweigende Männer. Ellert & Richter, Hamburg von Friesen, A. (1999): Müssen Mütter so unzufrieden sein? Kleine Strafpredigt nach 30 Jahren Emanzipation. Süddeutsche Zeitung vom 13.3.1999, VI, in: petraprinzip.wordpress.com/ 2005/ 12/ 20/ eine-generation-im-dauerflunsch (15.12.2015) Herzog, D. (2005): Die Politisierung der Lust-- Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Siedler, München Mitscherlich, A. (2003): Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft-- Ideen zur Sozialpsychologie. Beltz, Weinheim Moody, R. (2005): Der Eissturm. Piper, München Nietzsche, F. (2000): Ecce Homo-- Wie man wird, was man ist. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Ohser, E. (2000): Vater und Sohn-- Politische Karikaturen, Zeichnungen, Illustrationen und alle Bildgeschichten. Südverlag, Konstanz Olivier, C. (2000): Jokastes Kinder. Econ, Berlin Petri, H. (2011): Das Drama der Vaterentbehrung. 7. Aufl. Ernst Reinhardt, München Schiller, F. (2004): Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In: Schiller, F.: Sämtliche Werke in fünf Bänden. dtv, München, 570-669 Schnack, D. / Neutzling, R. (1990): Kleine Helden in Not-- Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. Rowohlt, Reinbek Sloterdijk, P. (2014): Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Suhrkamp, Berlin Theweleit, K. (1977 / 1978): Männerphantasien. Band 1 und 2. Roter Stern / Stroemfeld, Basel Tholen, T. (2015): Männlichkeiten in der Literatur-- Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Beharrung. transcript, Bielefeld Wackwitz, S. (2015): Die Bilder meiner Mutter. Fischer, Frankfurt Waidhofer, E. (2015): Die neue Männlichkeit-- Wege zu einem erfüllten Leben. Fischer & Gann, Munderfing Verlorene Väter 2 | 2016 97 Der Autor Konrad Heiland Konrad Heiland, geb. 1955, ist Arzt, Ärztlicher Psychotherapeut, Klinischer Musiktherapeut, Dozent, Lehrtherapeut und Supervisor an verschiedenen Instituten, die er mitbegründete (KBAP und DITAT). Er ist Autor des Essaybandes „Kunst- Liebe-Tod“ (2011), herausgegeben mit Carola Schöndube, und mit Theo Piegler Herausgeber des Sammelbandes „Der Soundtrack unserer Träume-- Filmmusik und Psychoanalyse“. Im Frühjahr / Sommer 2016 erscheint sein neustes Werk „Kontrollierter Kontrollverlust-- Jazz und Psychoanalyse“. ✉ Konrad Heiland Volksgartenstr. 14 | D-50677 Köln heilandk@gmx.net www.konrad-heiland.de
